Schrei nach Liebe
Hogwarts, im Juli 1996, Albus Dumbledores Gedanken
Der Schrei nach Liebe ist lautlos
aber du spürst ihn tief bis ins Mark.
Er zieht hinein in jede noch so kleine
Nervenfaser deines Körpers.
Ein stummer Schmerz,
vernichtender als jede Klinge…
Ich saß an meinem Schreibtisch und las immer wieder diese mit einer Schreibmaschine getippten Zeilen auf einem kleinen Stück Pergament. Den Zettel hatte ich vorhin hier gefunden, niemand hatte unterschrieben. Aber es musste zweifelsohne jemand meiner Freunde und Kollegen gewesen sein. Wer hatte sonst die Möglichkeit, mein Büro ohne mein Zutun zu betreten? Bewusst hatte diese Person keine handschriftliche Notiz gewählt, wohl wissend, dass ich ihre Handschrift erkannt hätte.
Aber diese Person musste mich sehr gut kennen, denn sie hatte haargenau in Worten gefasst, wie ich mich derzeit fühlte.
Meine Augen brannten, ich fühlte mich müde, alt, ausgelaugt. Zu lange war ich schon für so vieles verantwortlich, zu lange erwarteten die Menschen von mir, dass ich ihr Schicksal mitbestimme. Ach, könnte ich doch schlafen, vergessen und befreit sein von diesem Schmerz. Wie egoistisch von mir, diese Gedanken, dieser Wunsch nach Frieden und Glückseeligkeit in Zeiten wie diesen. Dabei wusste ich ganz genau, dass ich noch gebraucht würde. Der Preis des Ruhmes, das Los der Mächtigen, die die Geschicke ihrer Zeit leiten müssen.
Mein guter alter Freund Moody hatte mir gestern ins Gewissen geredet. Ich sähe furchtbar aus, sagte er, nein er knurrte es wie immer. So bärbeißig wie er oft tut, so gutherzig ist sein wahres Ich. Er hatte mich nie belogen, mir nie Honig um den Bart geschmiert. Es tut gut, solche Menschen um sich zu haben, die einen immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen.
Ich sah tatsächlich furchtbar aus! Zu wenig Schlaf, nicht genügend Nahrung, nur Sorgen, Probleme und Schmerz. Dazu 150 lange und wahrlich nicht immer einfache Jahre. Die letzten Jahre waren schwerer und einsamer denn je. Denn es ist etwas geschehen mit mir, was nie hätte passieren dürfen. Mein Schicksal war und ist immer ein anderes gewesen.
Die gute Minerva, sie hatte mir kaltes Huhn, Suppe und eine Tasse Schokolade gebracht. Dabei hatte sie mir denselben strengen, aber liebevoll besorgten Blick zugeworfen wie ihren Erstklässlern, wenn diese sich erkältet hatten. Iss und trink das bitte Albus, sprach sie sehr eindringlich zu mir, du siehst furchtbar aus.
Ob sie sich mit Moody abgesprochen hatte? Nein, wahrscheinlich nicht. Sie machten sich Sorgen um mich und wollten mir helfen, bloß wussten sie nicht wie.
Kümmert euch um Harry, würde ich allen am liebsten zurufen. Sorgt dafür, dass er wieder lacht und glücklich ist, dann geht es mir auch gut. Aber ich habe es nicht gerufen. Ich glaubte auch nicht, dass sie mir in dieser Sache helfen könnten. Vermutlich musste ich mir selber helfen. Ich musste Harry helfen.
Harry…um ihn drehte sich alles. Er war der „Junge-der-lebt", obwohl ich seinen derzeitigen Zustand nicht als leben bezeichnen würde. Er litt und trauerte um Sirius und sollte doch die Welt retten. Ich litt und trauerte um Harry und sollte ihn dabei unterstützen. Unser beider Schicksal, verbunden und doch so fern.
Er war hier auf Hogwarts seit einer Woche. Ich hatte veranlasst, dass Lupin, Tonks und Moody ihn von den Dursleys wegholten. Fort von Leuten, die ihn nicht liebten und verstanden. Gerade jetzt, wo er dringend Liebe nötig hatte.
Aber ich war zu feige, ihn selber abzuholen. Ich hatte Angst, Angst vor seiner Reaktion mir gegenüber. Angst davor, dass er mich hasst, mir nicht mehr vertraut nach unserem langen Gespräch vor erst wenigen Wochen hier in diesen Räumen. Angst davor, von einem fast 16jährigen Teenager abgewiesen zu werden. So viel Schreckliches musste ich ihm offenbaren, viel zu viel für einen Jungen, der mehr Grauen in seinem jungen Leben gesehen hat als die meisten Erwachsenen während ihres gesamten Lebens.
Ron und Hermine waren auch hier in den Ferien, wegen ihm, ihrem besten Freund. Zum Grimmauldplatz konnte ich ihn nicht schicken, das wollte ich ihm nicht zumuten. Ich hatte die Schutzzauber rund um Hogwarts verstärkt, Auroren waren ständig hier und ich selber achtete jede freie Minute auf Harry…ohne das er es merkte selbstverständlich. Er würde es hassen, überwacht zu werden.
Es zerriss mir fast das Herz, wenn ich ihn ansah. Er war so dünn und blass, seinen Augen fehlte jeglicher Glanz. Selbst Ron und Hermine schafften es nicht, zu ihm vorzudringen. Er redete nur das Nötigste, aß kaum und saß meistens allein auf der kleinen Bank an der alten Brücke, die zu Hagrids Hütte führte. Seine Freunde waren ratlos, sie wollten ihm helfen und wussten nicht wie, weil er nicht mit ihnen redete außer den üblichen Floskeln.
Mir versuchte er zu entfliehen, so bald er mich sah. Natürlich ging das nicht immer, dann senkte er den Blick und sagte nicht mehr außer „Ja" und „Nein". Harry schaute mich nicht an und ich verspürte dann immer den Wunsch, ihn zu schütteln bis er mich ansah, bis er spürte, wie ich mich fühlte. Aber das machte ich natürlich nicht. Ich fühlte mich so schuldig, ihn zerbrochen zu haben, weil ich ihn vor allem Bösen beschützen wollte.
Nun schaute ich aus dem Fenster und sah ihn wieder dort sitzen auf dieser Bank, die er so liebte. Er hatte Sirius dort häufiger getroffen.
Der Schrei nach Liebe sollte nicht umsonst gewesen sein. Auch wenn er mich hasste, ich würde mit ihm sprechen. Ja, ich würde ihn dort aufsuchen! Jetzt gleich!
„Harry, würde es Dir etwas ausmachen, wenn ich mich zu Dir setze", fragte ich ihn einige Minuten später vorsichtig, um ihn nicht zu erschrecken. Er drehte sich um und blickte mich zum ersten Mal an, kalt und voller Zorn. Ich hatte Angst.
„Ja, es macht mir was aus! Aber ich glaube nicht, dass Sie es davon abhält, es trotzdem zu tun", erwiderte er mit verhaltener Wut.
Ich setzte mich nicht hin und sah ihn nur an. Unsere Blicke trafen sich, meine alten, traurigen, blauen Augen schauten in seine grünen, die jetzt wütend glitzerten.
„Harry bitte, hör mich doch an", sprach ich verzweifelt zu ihm, „seit Tagen gehst Du mir aus dem Weg, sprichst weder mit Deinen Freunden, noch mit mir. Wir machen uns alle sehr große Sorgen um Dich. Bitte nimm unsere Hilfe doch an, nimm meine Hilfe an!"
Helfen wollen Sie mir? Ja? Dann sorgen Sie dafür, dass Sirius wieder lebt und Cedric. Garantieren Sie mir, dass keiner meiner Freunde wegen mir sterben muss, weil sie das Wagnis eingegangen sind, mit dem „Jungen-der-lebt" befreundet zu sein!" schrie er mir fast zu.
Seine schmerzvollen Worte trafen mich tief, denn ich konnte weder Tote zum Leben erwecken, noch konnte ich Wunder vollbringen. Ich war ein Mensch, der zaubern konnte, mehr nicht.
Mit erstickter Stimmte sagte ich zu ihm „Du weißt, dass ich nichts von dem möglich machen kann Harry. Ich kann auch keine Garantien geben, dass niemand von Deinen Freunden mehr sterben wird, denn ich weiß nicht, was uns die Zukunft bringt. Was ich weiß ist, dass Deine Freunde Dich nie im Stich lassen werden. Und nicht, weil Du der Retter der magischen Welt bist, sondern weil sie Dich lieben. Oder glaubst Du, Voldemort würde uns in Ruhe lassen, wenn es Dich nicht gäbe? Wahrscheinlich würden dann noch viel mehr Hexen und Zauberer sterben müssen. Du bist nicht alleine Harry, wir unterstützen Dich in dem Kampf, der uns alle betrifft."
„Na prima", funkelte er mich immer zorniger an, „dann lassen Sie mich zu ihm gehen. Jetzt, nicht irgendwann in 1 oder 2 Jahren, wenn er die halbe magische Welt getötet hat!! Er wird mich töten, aber ich werde ihn mitnehmen, dass schwöre ich beim Barte des Merlin. Und ich finde endlich wieder Frieden und sehe die, die ich liebe, wieder."
Bei diesen letzten Worten schimmerten Harrys Augen verdächtig, ebenso wie meine.
„Nein, das kann und werde ich nicht tun", sprach ich traurig aber mit fester Stimme zu ihm.
„Danke für Ihre „Hilfe" Professor Dumbledore!!" schrie Harry und ich spürte, wie er mit seiner Wut und Hilflosigkeit eine Magie in sich freisetzte, die so stark war, dass Blätter aufwirbelten, Äste brachen und ein Sturm losbrach, der tatsächlich nur in unserem engeren Umkreis herum wütete.
Ein dicker Ast traf mich am Kopf und ich fiel benommen zu Boden. Ein scharfer Schmerz durchzog mich von meiner Schläfe bis fast zu den Beinen. Blut lief heftig aus einer Platzwunde an der Stirn meine Wange hinunter und versickerte in meinem Bart.
So plötzlich wie der Sturm gekommen war, so plötzlich hörte dieser auch wieder auf.
Harry brach weinend zusammen, die Tränen liefen wie Sturzbäche aus seinen Augen und er stammelte immer wieder „das wollte ich nicht, Professor, bitte verzeihen Sie mir aber ich habe es nicht gewollt."
Mir war schwindelig aber ich nahm all meine Kräfte zusammen und versuchte aufzustehen, um zu Harry zu gelangen. Mein Kopf schmerzte grauenvoll und ich bemühte mich, den Schmerz zu ignorieren, doch es gelang nicht.
Als Harry sah, was ich vorhatte, kam er auf mich zugelaufen, kurz bevor ich wieder zusammenbrach. Er fing mich gerade noch rechtzeitig auf und entwickelte dabei erstaunliche Kräfte.
Auf Knien standen wir uns gegenüber. Harry hielt mich fest in seinen Armen und als ich spürte, dass es mir langsam wieder besser ging, umarmte ich ihn auch. Niemand von uns sagte ein Wort.
Welch ein seltsames Bild für unbeteiligte Beobachter! Ein junger und ein sehr alter Mann knieten voreinander, umarmten sich und weinten sich ihren Kummer von der Seele.
Nach einer langen Zeit half mir Harry vorsichtig zu der nahe gelegenen Bank. Ich setzte mich dankbar dort hin und er zerriss sein Hemd, um damit meine Platzwunde am Kopf zu versorgen. Ein paar Meter weiter befand sich eine Quelle, dorthin ging er schnell, um den Stofffetzen zu benetzen.
Ganz sachte tupfte er mir das Blut von Gesicht und Bart. Ich sah die Angst und Sorge in seinen Augen und ich wusste, worüber er jetzt grübelte.
„Danke Harry, es geht mir schon viel besser. Mach Dir keine Gedanken, es ist nur eine Platzwunde", sagte ich freundlich zu ihm.
„Es hätte viel schlimmer ausgehen können Professor", entgegnete Harry leise und sah mir dabei tief in die Augen. „Ich hätte Sie beinahe getötet und dann hätte ich noch jemanden verloren, der mir sehr viel bedeutet."
Diese letzten Worte flüsterte er fast aber ich hörte sie dennoch.
„Harry, ich lebe noch", sagte ich mit einem etwas schmerzhaften Lächeln zu ihm. „Wenn es Dir jetzt besser geht und Du daraus eine Erkenntnis gezogen hast, dann war es das wert! Ich wünsche mir nichts sehnlicher, dass Du wieder lachst und Freude am Leben hast, dass Du wieder lernst zu leben. Und das nicht, weil Du Voldemort zu töten hast, sondern weil ich Dich liebe wie einen Sohn, den ich nie hatte!"
Er schaute mich verdattert nach diesem Geständnis an, kaum glaubend, dass es jemanden gab, der ihn um seiner selbst willen liebt und nicht weil er der „Junge-der-lebt" ist.
„Ich glaube, ich war ein ziemlicher Idiot", sagte er schlicht zu mir und gab mir einen Kuss auf die Wange.
„Wir waren beide Idioten Harry, aber wir können gemeinsam versuchen, das zu ändern. Was hältst Du davon?" fragte ich ihn liebevoll und nahm ihn in den Arm.
Er nickte mir zu und lächelte. Meine Schmerzen wurden unwichtig und fühlte mich seit langem wieder glücklich. Es gab eine Zukunft, sie war zwar gefährlich aber ich sah wieder Hoffnung, dass wir es schaffen würden. Als hätte der Himmel darauf gewartet, brach die dichte Wolkendecke just in diesem Moment auf und ließ es zu, dass Sonnenstrahlen hervor brachen und uns mit ihren goldenen Strahlen wärmten.
Noch lange saßen Albus und Harry auf dieser Bank ohne zu sprechen und bemerkten nicht, wie eine große männliche Gestalt mit schwarzer Robe und schulterlangem schwarzen Haar ungewohnt gefühlvoll lächelte und leise zum Schloss zurückging. Sein Auftrag war zur Zufriedenheit erledigt worden. Der Zettel hatte seine Wirkung erzielt.
