Kopfschüttelnd blickte Gregory Lestrade Sherlock und seinem Begleiter hinterher. Sherlock hatte davon geredet, dass er etwas wegen der Miete mit ihm besprechen müsse. Sollte es sich also um einen Mitbewohner handeln? Der arme Mann. Da würde etwas auf ihn zukommen. Ob ihm klar war, worauf er sich da eingelassen hatte? Und wie war er nur an Sherlock geraten? Aber ganz offensichtlich schien er diesem gut zu tun, denn Sherlock wirkte erstaunlich menschlich und beinahe schon fröhlich, als er mit ihm redete. Man durfte also gespannt sein.
Lestrade wollte gerade wieder ins Gebäude gehen, um zu sehen, ob die Leiche des Serienmörders bereit zum Abtransport war, als er den Mann mit dem Regenschirm bemerkte, mit dem Sherlock und sein Begleiter – er musste unbedingt herausfinden, wie sein Name war – kurz einige Worte wechselten. Alle zuvor dagewesene Freundlichkeit wich bei dieser Unterhaltung aus Sherlocks Zügen und auch der Mann mit dem Schirm schien nicht übermäßig emotional, sondern eher unnahbar und geheimnisvoll. Neugierig und ein wenig verärgert darüber, dass er hier herumschnüffelte, schritt Lestrade auf ihn zu, sobald Sherlock außer Hörweite war.
„Entschuldigen Sie!", sprach er ihn an, indem er alles an Autorität in seine Stimme legte, was er aufbringen konnte. „Würden Sie sich bitte entfernen!? Es handelt sich hier um einen Tatort. Es gibt nichts zu sehen und ich verbitte mir, dass Sie meine Zeugen mit Fragen belästigen. Wenn Sie von der Presse sind, warten Sie gefälligst die Konferenz am…"
„Aha", unterbrach der Mann ihn und streckte ihm die Hand entgegen. „Detective Inspector Gregory Lestrade, nehme ich an. Wie schön, dass wir uns endlich einmal persönlich kennen lernen."
Lestrade blickte skeptisch und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Woher wusste dieser Kerl, wer er war?
„Und Sie sind?", fragte er. Der Fremde lächelte.
„Holmes. Mycroft Holmes."
„Oh", sagte Lestrade. Sein Gesicht hellte sich auf und er ergriff die ihm dargebotene Hand. „Guten Abend, Mr. Holmes. Entschuldigen Sie meinen Auftritt, aber Sie wissen schon: Journalisten…" Er hob entschuldigend die Achseln. Mycroft nickte zustimmend und Amüsement spielte um seine Augen.
„Die sind allerdings nicht immer die einfachsten Zeitgenossen und es ist von Vorteil, wenn man sich gegen sie zu wehren weiß."
Lestrade zweifelte keine Sekunde daran, dass dieser Mann genau wusste, wie man sich Journalisten – oder andere ungeliebte Mitmenschen – vom Hals hielt. Dem Wenigen zufolge, was er über Mycroft Holmes wusste, sollte man sich jedenfalls besser nicht mit ihm anlegen. Vor ein paar Jahren, kurz nachdem er Sherlock kennen gelernt hatte, hatte er auch zum ersten Mal von dem älteren Holmes gehört. Dieser hatte Sherlock einen Platz in einer renommierten Klinik besorgt, als es Greg endlich gelungen war, Sherlock zu einem Entzug zu überreden. Sie hatten damals ein oder zwei Mal in Kontakt gestanden, was jedoch immer über Holmes' Sekretärin gelaufen war. Persönlich hatten sie sich bis zum heutigen Abend noch nicht getroffen und Greg war entsprechend überrascht.
„Was führt Sie hierher?", fragte er deshalb. „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass Sherlock jetzt auch noch seinen großen Bruder mit zu einem Fall nimmt, wo er doch schon eine Begleitung hat."
Mycroft wiegte seinen Regenschirm von einer Hand in die andere.
„Glauben Sie mir, Inspector. Sherlock hat mich nicht eingeladen. Manchmal jedoch fühle ich mich verpflichtet, persönlich ein Auge auf ihn zu halten."
Greg wusste nur zu gut, was Mycroft meinte. Mitunter brachte Sherlock sich einfach in die unmöglichsten Situationen – was der heutige Abend ja wieder einmal bewiesen hatte – und auch er hatte sich schon oft um ihn gesorgt. Da ging es Mycroft Holmes vermutlich nicht anders.
„Naja", meinte er. „Aber es scheint ja, als hätten wir neuerdings noch jemanden, der auf Ihren Bruder aufpasst."
„Sie meinen Dr. Watson? Da könnten Sie durchaus Recht haben."
Greg wollte sich weiter nach diesem ominösen Doktor erkundigen und fragen, wo dieser so plötzlich herkam, als Sergeant Donovan nach ihm rief:
„Chef, wir bräuchten Sie hier mal."
Greg gab ihr mit einer Handbewegung zu verstehen, dass er verstanden hatte, und blickte seinen Gesprächspartner bedauernd an. Mycroft lächelte.
„Nun, dann will ich Sie nicht weiter aufhalten.", sagte er und reichte Greg zum Abschied noch einmal die Hand. „Auf Wiedersehen, Inspector."
„Auf Wiedersehen, Mr. Holmes."
Greg sah noch zu, wie Mycroft in seinen Wagen stieg und blickte dem Auto hinterher, bis es in der Nacht verschwunden war. Er fragte sich, weshalb Sherlock, wenn überhaupt, nur abfällig von seinem Bruder sprach. Ihm war er eigentlich sehr sympathisch erschienen. Greg zuckte mit den Schultern und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Im Gebäude wartete ja noch Sally mit dem toten Taxifahrer auf ihn.
…
Mycroft indessen saß auf der Rückbank seines Wagens und ließ sich nach Hause chauffieren. Er sah aus dem Fenster, nahm jedoch kaum etwas von dem nächtlichen London wahr, das mit seinem Mischmasch aus alten und neuen Gebäuden, tausend Lichtern und einigen Nachtschwärmern an ihm vorbeizog. In Gedanken war er noch bei dem kurzen Gespräch, das er gerade mit dem Inspector geführt hatte. Natürlich hatte er gewusst, dass Lestrade ein kompetenter Polizist war und obendrein ein anständiger Mensch – schließlich hatte er maßgeblich dazu beigetragen, dass Sherlock heute clean war und noch immer beschäftigte er ihn regelmäßig. Mycroft hatte Lestrade damals überprüfen lassen: er hatte eine lupenreine Vergangenheit und nichts an ihm war Mycroft interessant vorgekommen oder hatte ihn aufhorchen lassen. Umso überraschter war er nun über ihre erste Begegnung, denn Lestrade hatte einen bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen. Nur wenige Menschen schafften dies und kaum jemand konnte Mycroft innerhalb weniger Minuten imponieren. Und heute war das gleich zweimal geschehen, wenn auch aus völlig anderen Gründen. Dieser Dr. Watson war trotz seiner Kriegsvergangenheit sowie psychischen und familiären Problemen nicht unterzukriegen. Er hatte Mut und Loyalität gezeigt, war besonnen und zumindest halbwegs intelligent. Und offensichtlich war er gut für Sherlock. Jeder, der seinem Bruder gut tat, hatte vor ihm, Mycroft, nichts zu befürchten. Aber Lestrade? Was war das Besondere an ihm gewesen?
Sicher, er war ebenfalls eine wichtige Person für Sherlock und dieser hatte ihm viel zu verdanken. Abgesehen davon jedoch? War er recht gewöhnlich gewesen. Mycroft hatte ihm mit einem Blick angesehen, dass er in Chelsea wohnte, Vater zweier Kinder war und dass es um seine Ehe zurzeit nicht gerade bestens bestellt war. Die letzte Nacht hatte er offenkundig nicht zu Hause verbracht, sondern im Büro. All das war für einen Detective Inspector keinesfalls ungewöhnlich. Und dennoch: irgendetwas an Gregory Lestrade war anders, vielleicht sogar ‚besonders'. Jedenfalls hatte er Mycrofts Aufmerksamkeit erregt und Mycroft musste sich mit einem leisen Seufzer eingestehen, dass er noch keine Ahnung hatte, weshalb.
Er holte sein Mobiltelefon hervor. Er hatte seine Assistentin bereits nach Hause geschickt, doch bevor sie endgültig Feierabend machen konnte, musste sie noch etwas für ihn erledigen.
„Anthea, ich benötige alle Informationen über Detective Inspector Gregory Lestrade."
„Lestrade? In Ordnung, Sir. Ich schicke Ihnen eine E-Mail. Soll ich eine Überwachung in die Wege leiten?"
Mycroft zögerte einen Moment. Das könnte interessant und … aufschlussreich sein. Doch eigentlich gab es überhaupt keinen Grund für eine Überwachung, was Mycroft andererseits noch nie hatte aufhalten können.
„Sir?" Anthea wollte eine Antwort und so sagte Mycroft schließlich: „Nein. Nein, ich denke, das wird nicht nötig sein. Nur die Daten, die wir haben, danke."
