A ship across the sea
von Michelle Mercy
Sequel zu Slave of the law, Javert, Valjean und Cosette in England;
nach der Flucht zeigt sich das Leben nicht so sonnig wie erhofft.
Slash, Javert/Valjean, M-Rated, AU
I.
Je mehr Wasser zwischen Frankreich und ihm lag, desto skeptischer wurde Javert, was seine Entscheidung anging, die Brücken abzubrechen, sein festgefügtes Leben einfach hinter sich zu lassen. Natürlich war es nicht denkbar gewesen, Valjean nach Arras zu überführen, und Cosette in einem Waisenhaus unterzubringen nach allem, was zwischen ihnen geschehen war. Aber wieso er in allerletzter Sekunde an Bord des Fischerbootes gesprungen war, ohne die Konsequenzen bis zum Ende hin vorher zu kalkulieren, war ihm noch immer unbegreiflich. Liebe mußte tatsächlich ein Zustand der vorübergehenden Unzurechnungsfähigkeit sein.
Dreimal hatte er in seinem Leben spontan gehandelt, und immer hatte es mit Valjean zu tun gehabt; erst, als er den Bürgermeister fälschlich und doch richtig denunziert hatte, dann als er sich in jener Nacht in seiner Wohnung Valjean genähert hatte, und jetzt das.
Nun stand Javert an Deck eines kleinen Einmasters in der Kälte, die der letzte Abend des Jahres 1823 aussandte, und hoffte, daß sie bald wieder festen Boden unter den Füßen haben würden, auch wenn das in einem Land der Fall sein würde, über das er nicht viel mehr wußte, als daß er die Sprache nicht konnte, und daß es dauernd neblig sein sollte. Was würde er dort tun? Konnte die Vorstellung, die sich in seinen Gedanken festgesetzt hatte, von einem Leben mit einer – wenn auch alles andere als konventionellen – Familie wirklich der Realität standhalten?
„Zweifel?" fragte Valjean auf einmal neben ihm und reichte ihm einen Becher mit heißem Tee. „Cosette schläft endlich, die beiden Pauls sind beschäftigt, und wir sollten in einer Stunde Hastings erreichen. Wenn wir etwas zu bereden haben sollten, ist sicherlich jetzt der geeignete Moment."
„Natürlich habe ich Zweifel, wie könnte ich nicht? Ich habe nie gezweifelt, daß das, was ich tue, richtig ist, solange ich mich leiten lasse vom Gesetz. Und jetzt zum ersten Mal habe ich etwas getan, worüber das Gesetz sicherlich eine ganz andere Auffassung hat als ich." Javert nippte an dem Becher. „Ich weiß absolut nicht, ob das gutgehen kann, wir beide und ein Kind in einem fremden Land…"
„Das kann noch keiner sagen." Valjean lächelte ihn an. „Aber ich möchte, daß es gutgeht." Er blickte sich kurz um und sah den Kapitän und dessen Sohn am anderen Ende des Schiffes am Ruder stehen. Mit einer einzigen Bewegung zog er Javert in den Schatten der Kajüte, nahm ihm den Becher aus der Hand, stellte diesen ab und küßte ihn. Javert wollte für einen Moment zurückweichen, denn die Vorstellung, daß irgend jemand den Kuß würde sehen können, erschreckte ihn, doch dann entschied sein Körper etwas anderes, und er begann, sich enger an Valjean zu drängen. Seine Lippen öffneten sich und ließen Valjeans fordernde Zunge ein.
Als sich nach fast einer Minute ihre Lippen voneinander lösten, blieben sie zunächst in der Umarmung stehen, ihre Stirnen aneinander gedrückt, beide nach Atem ringend. „Ich wollte das tun, seit du mir gesagt hast, du läßt mich gehen, spätestens aber als du auf diesem Schiff auftauchtest."
„Was hat dich abgehalten?" fragte Javert atemlos.
„Zu viel Publikum." Valjean lachte. „Und ich schwöre, sobald wir etwas Zeit alleine ohne Zeugen haben…"
„Oh, bitte", Javert unterdrückte irgend etwas zwischen einem Lachen und einem Keuchen, „keine Versprechungen dieser Art, solange du sie nicht unverzüglich einzulösen gedenkst."
„Ich bin froh, daß du hier bist." Valjean löste die Umarmung, blieb aber dicht vor Javert stehen.
„Ich auch." Für diesen Moment war sich Javert vollkommen sicher.
XXX
Die „Reine Margot" legte gegen zehn Uhr in Hastings an. Valjean trug die schlafende Cosette vom Schiff, Javert folgte mit der Kiste, in der sich außer der Kleidung, die sie trugen, und Cosettes Puppe Catherine alles befand, was sie besaßen. Für einen langen Augenblick standen sie unschlüssig am Kai.
„Und jetzt?" fragte Javert.
„Da ich bis vor ein paar Stunden nicht wußte, daß ich nach England reisen würde, habe ich keine wirklichen Pläne gemacht." Valjean konnte sich ein etwas schiefes Grinsen nicht verkneifen. „Ein Gasthaus, morgen eine Postkutsche nach London und dort eine Bank. Dann definitiv ein Schneider, nachdem wir eine Unterkunft gefunden haben. Und danach ein Haus suchen, wo wir leben wollen."
„Keine wirklichen Pläne, wie?" fragte Javert sarkastisch.
Sie liefen am Kai entlang und dann in die Stadt hinein, bis sie ein Gasthaus fanden, in welchem sie guten Gewissens mit Cosette absteigen konnten. Bevor sie das Gasthaus betraten, erwachte Cosette und verlangte, nicht mehr wie ein Baby getragen zu werden. Also setzte Valjean sie ab und nahm sie an die Hand. Die Verhandlung über das Zimmer stellen sich nicht ganz einfach dar, da der Wirt kein Wort französisch sprach, und Valjeans Kenntnisse der englischen Sprache sich auf etwa zehn Worte beschränkten, die er von einem Geschäftspartner aus Portsmouth gelernt hatte, der vor vier Jahren größere Mengen Jett nach England importiert hatte. Aber mithilfe von Händen, Füßen und einer Goldmünze aus Valjeans unerschöpflichen Taschen erhielten sie tatsächlich ein Zimmer mit einem breiten Bett und ein Abendessen.
„Ach, ja, zwischen Postkutsche und Bank sollten wir noch ein Wörterbuch erwerben", bemerkte Valjean, während er sich auf einen der beiden Stühle fallen ließ.
„Lerne ich jetzt Lesen und Schreiben auf französisch oder englisch?" wollte Cosette wissen.
„Ich denke beides", antwortete Javert, der sich etwas davon irritiert fühlte, daß das servierte Fleisch tatsächlich nach Minze zu schmecken schien. „Das verhindert, daß wir uns versehentlich vergiften, weil wir etwas vollkommen Ungenießbares bestellen."
Statt Wein war zum Essen Bier serviert worden, was beide Männer zunächst etwas mißtrauisch kosteten, dann jedoch als trinkbar akzeptierten. Auch das Essen stellte sich als zumindest genießbar heraus, auch wenn Javert es nicht zu seinem Vorteil mit Valjeans Kochkünsten verglich. Schließlich gingen sie schlafen.
Cosette kletterte in die Mitte des Bettes, wo sie sich zusammen mit Catherine einkuschelte und, ohne auf einer Geschichte oder einem Lied zu bestehen, sofort einschlief.
Die beiden Männer zogen nur ihre Schuhe und Strümpfe sowie die Röcke aus, wobei keiner von beiden sich zurückhalten konnte, verstohlene Blicke zu dem anderen zu werfen. Die Situation war ungewöhnlich. Keiner von ihnen wußte, wie eine gemeinsame Zukunft aussehen würde; noch an diesem Morgen war der Gedanke an eine solche zu absurd gewesen, um damit Zeit zu verschwenden. Ebensowenig wagte einer von ihnen, darüber ernsthaft zu sprechen aus Sorge, dabei einen Bereich zu berühren, für den der andere noch nicht bereit war.
Javert kroch als erster unter die Decke und sah zu, wie Valjean vor dem Bett niederkniete, still betete und dann ebenfalls zwischen die Kissen kletterte. „Gute Nacht, Javert.- Und ein frohes neues Jahr."
Javert lauschte und hörte eine Uhr Mitternacht schlagen. Er hatte fast vergessen, daß in dieser Nacht das Jahr 1824 begann. Er tastete über Cosettes Kopf nach Valjeans Hand und drückte sie für einen kurzen Moment.
XXX
Nach dem Frühstück am nächsten Morgen bestiegen sie die Postkutsche nach London. Dort suchten sie ein Gasthaus und machten sich danach daran, den nächsten Punkt von Valjeans Liste umzusetzen. Sie konnten ja schlecht weiterhin mit einer Kiste voller Geld durchs Land reisen, vor allem, wo ihnen nur die Goldmünzen als Zahlungsmittel blieben. Französische Geldscheine waren schließlich keine gültige Währung in England.
Sie betraten zu dritt eine Filiale der Bank of England, wo Valjean sich radebrechend nach jemandem erkundigte, der französisch sprach. Tatsächlich fand sich ein Kassierer, dessen Großmutter Französin gewesen war.
„Ich möchte gerne ein Konto eröffnen", erklärte Valjean geschäftsmäßig.
Javert konnte nicht umhin zu bewundern, wie schnell es Valjean gelang, sich in Situationen einzufühlen. War er in Montfermeil der Kriminelle gewesen, verkörperte er mit jeder Geste jetzt einen Geschäftsmann.
Der Kassierer warf allerdings zunächst einen sehr abschätzigen Blick auf Valjeans abgetragenen gelben Rock. „Ich bin nicht sicher, ob unser Institut für Ihre Belange wirklich in Frage kommt", sagte er herablassend.
Valjean blickte sich ausgiebig um, betrachtete die Holzvertäfelungen und den Marmorboden und bemerkte dann: „Ja, ich verstehe. Bei dem, was all das hier gekostet haben dürfte, haben Sie natürlich kein Interesse an so kleinen Beträgen wie 160.000 Francs. Das ist verständlicherweise unter Ihrer Würde."
Der Kassierer wurde panikartig bleich. „Oh, nein, Monsieur, ich wollte selbstverständlich nicht andeuten… Vielleicht mögen die Herren und die junge Dame mich eventuell in das Büro unseres Direktors begleiten? Wir können dort in Ruhe bestimmt eine Lösung finden."
In dem genannten Büro sah Javert amüsiert zu, wie Valjean innerhalb von Sekunden von einem unerwünschten zu einem besonders geschätzten Kunden wurde. Neben den luxuriösen Sesseln, in denen sie sitzen durften, zeichnete sich dies auch noch dadurch aus, daß eine Bonbonniere mit allerfeinstem Konfekt vor ihnen aufgebaut wurde. Nachdem die Bonbonniere allerdings in Cosettes Reichweite gelangt war, verschwand der Inhalt recht schnell.
„Wenn wir gerade dabei sind, wäre es vielleicht sinnvoll, wenn Sie auch ein Konto für M. Javert eröffnen würden?" sagte Valjean gerade. „Ich nehme an, daß Ihr Geld ebenfalls hierher transferiert werden soll, Javert?"
Javert war für einen Moment irritiert. Einerseits war es ihm sehr recht, wenn er eine Möglichkeit hatte, über sein Geld zu verfügen; natürlich war es im Verhältnis zu Valjeans Reichtum nur ein kleiner Betrag, aber er hatte ihn all die Jahre zurückgelegt, auch wenn er niemals gewußt hatte, wofür, schließlich hatte es nie etwas gegeben, dessen Besitz ihm erstrebenswert erschienen wäre. Andererseits gefiel es ihm nicht, daß Valjean hier eine Trennung herbeiführte. Irgendwie hatte er gehofft, daß sie zusammen sein würden in jeder Beziehung. „Sicher", antwortete er und schrieb kurz nieder, bei welcher französischen Bank sich seine Ersparnisse befanden.
Nachdem sie die Bank verlassen hatten, wobei die gesamte Belegschaft sich mit Verbeugungen verabschiedete, kaufte Valjean im nächsten Buchladen ein Wörterbuch. Damit bewaffnet besuchten sie einen Schneider. „Wir benötigen jeder drei neue Anzüge", erklärte Valjean.
Während die zwei Gesellen des Schneiders sofort begannen, Stoffe vorzulegen, wandte Javert ein: „Das ist ein Irrtum. Ich brauche keinen neuen Anzug."
Valjean trat einen Schritt zurück und betrachtete Javert schweigend einmal skeptisch von oben nach unten und zurück.
„Was ist nicht in Ordnung mit dem, was ich trage? Das ist eine fast neue Uniform."
„Wollen Sie wirklich in einem fremden Land die nächsten Monate in einer französischen Polizeiuniform herumlaufen?"
Javert war sich sehr bewußt, daß Valjean recht hatte, er brauchte andere Kleidung, aber es fiel ihm schwer, das zu akzeptieren. Die Uniform hatte ihm Respekt verschafft, sie hatte ihn auch geschützt, denn solange er sie trug, hatte es niemand gewagt, ihm häßliche Dinge wegen seiner Herkunft nachzubrüllen. Er hatte den Dienst quittiert, wenn er jetzt noch die Uniform ablegte, was blieb dann von ihm? Er hatte fast dreißig Jahre eine Uniform getragen, da war es schwierig, sich dem zu stellen, was er darunter sein mochte. „Nein, das wird schwerlich gehen", antwortete er. Es war gerade einmal zwei Tage her, daß er alles über Bord geworfen hatte, was er gewesen war. Da waren Rückfälle etwas, das sogar nach seinen strengen Maßstäben verzeihlich war.
Javert ließ sich sogar davon überzeugen, einen Anzug anzuprobieren, um die Größe festzustellen und die Art des Schnitts entscheiden zu können. Als er hinter der spanischen Wand hervortrat, fiel Cosette förmlich der Unterkiefer herunter. „Das sieht ja großartig aus."
Valjean sagte zunächst gar nichts, sondern betrachtete Javert sehr eingehend mit einem Funkeln in den Augen, das viel zu viel über die Gedanken dahinter verriet.
Javert wagte einen Blick in den Spiegel, er hatte zwar erklärt, beim Rasieren in einen solchen hineinzuschauen, doch sich bewußt anzusehen, hatte er nicht wirklich nötig gefunden. Jetzt tat er es, um festzustellen, daß er tatsächlich verändert wirkte, nicht ganz so streng und trotz der grauen Strähnen in seinem Haar einige Jahre jünger als zuvor. Ohne die Uniform war andererseits offenkundiger, daß seine Herkunft eher in der Provence als auf den britischen Inseln lag; wer es ahnte, hätte die Ahnung ohne weiteres bestätigt gefunden, daß Romablut in ihm floß. Zu seinem Entsetzen errötete er.
