Aftermath

Er verließ die Klinik früher als gewöhnlich.

Seine Kollegen würden wieder einmal ein Date wittern; eine Verabredung mit irgendeinem Mädchen in einem Café anstelle der üblichen Clubs und Bars, in denen er seit der Scheidung Stammgast geworden war.

Sollten sie. Es machte ihm nichts aus, wenn sie über sein Privatleben spekulierten.

Es war ihm lieber, sie hielten ihn für einen Playboy, als wenn sie den wahren Grund für seinen vorgeschobenen Feierabend herausfinden würden.

In der Ambulanz war er ihm aufgefallen.

Ein dunkelhäutiger Mann, offenbar afrikanischer Herkunft, der mit einer der diensthabenden Schwestern gesprochen hatte.

Eigentlich nichts Ungewöhnliches, und Chase wäre nicht einmal aufmerksam geworden, wenn der Mann nicht plötzlich in seine Richtung geblickt hätte.

Einen winzigen Moment nur, in dem sich sein Blick mit seinem traf, ehe er rasch wieder wegschaute.

Als sei es ihm unangenehm, bemerkt worden zu sein.

Als hätte er nicht vorgehabt, von ihm entdeckt zu werden.

Er war in das nächste Untersuchungszimmer gegangen, wo ihn ein Patient erwartete, und hatte sich eingeredet, er wäre nur paranoid.

Doch das Herz hatte ihm bis in den Hals geklopft dabei.

Als er wenig später wieder hinaus trat, war der Mann verschwunden, die Schwester in irgendeine Schreibarbeit vertieft.

Er hatte nicht gewagt, sie auf den mysteriösen Besucher anzusprechen, der höchstwahrscheinlich nur ein Patient war.

Er musste aufhören, Gespenster zu sehen.

Seit Wochen hatte er nicht mehr daran gedacht, hatte es mehr oder weniger erfolgreich aus seinem Gewissen gelöscht, doch der Mann hatte eine Reaktion in ihm ausgelöst, die einer Panikattacke glich.

Es war ihm nicht mehr passiert, seit er die ganze Sache verdrängt hatte.

Seit er sich davon überzeugt hatte, dass es keinen Sinn für ihn machte, sich mit Schuldgefühlen herumzuschlagen, die ihn nur zerstören würden.

Doch dieser seltsam ertappte und zugleich lauernde Blick des Mannes ließ ihn nicht los.

Ihm war übel und ein wenig flau zumute, und er war froh, als sein Klinikdienst beendet war.

Ohne noch einmal in den vierten Stock zu fahren, trug er sich aus, holte seine Sachen und beschloss, nach hause zu gehen.

Er hatte noch Überstunden gut von der Zeit nach seiner Scheidung.

Chase griff nach den Schlüsseln in seiner Manteltasche, während er über den Parkplatz zu seinem Wagen ging.

Es war lächerlich. Es war über ein Jahr her, und niemand konnte ihm etwas nachweisen.

Was er getan hatte, betraf House' Abteilung, nicht ihn allein.

Wenn jemals jemand etwas über den Tod des Diktators herausfinden sollte, dann würde es nicht mit seinem Namen in Verbindung stehen.

Foreman hatte das einzige Beweisstück verbrannt, das ihn direkt mit Dibala in Verbindung bringen konnte.

Du bist sicher, dachte er. Selbst House hat dich beschützt.

House würde die Sache in Griff bekommen, sollte sie wieder an die Oberfläche kommen.

Und es war ziemlich ausgeschlossen, dass das jemals passieren würde.

„Dr. Chase? Dr. Robert Chase?"

Eine Stimme scheinbar aus dem Nichts.

Ein schwerer, französischer Akzent, der seinen Namen fast unkenntlich klingen ließ.

Noch bevor er sich umdrehte, wusste Chase, wen er vor sich haben würde.

Sein Herz begann zu rasen, und ihn überkam plötzlich das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, doch er wandte sich um und sah in ein dunkles, ausdrucksloses Gesicht.

Auf einmal ergriff ihn eine so überwältigende Panik, dass ihm beinahe übel wurde.

Er würde nicht die Nerven verlieren.

Er würde ruhig bleiben.

Es war nur ein Flashback. Nur eine Erinnerung.

Dass der Mann ihn hier und jetzt ansprach, musste überhaupt nichts bedeuten.

Bleib ruhig. Gib ihm keinen Anlass, durchzudrehen. Sei klar und vernünftig und vor allem arglos. Lass ihn nicht wissen, dass du dir am liebsten in die Hosen machen möchtest vor Angst.

Ohne es zu wollen, trat er einen Schritt rückwärts. „Wenn Sie eine Konsultation brauchen, ich bin außer Dienst. In der Klinik werden Sie-…"

Die Worte blieben ihm im Hals stecken, als der Mann eine kleine Handfeuerwaffe aus seiner Jackentasche riss und auf ihn richtete.

Er hörte den rasch hintereinander folgenden Knall zweier Schüsse, und der Rückstoss ließ ihn taumeln.

Klebrige Wärme breitete sich auf dem Stoff seiner Kleidung aus.

Auch ohne hinzusehen, wusste er, dass sie von seinem Blut kam.

Flüchtig fragte er sich, weshalb er keinen Schmerz empfand, obwohl er die Antwort als Mediziner kannte.

Er würde kommen. In einer halben Minute, spätestens in einer.

Wenn der Adrenalinspiegel sank und sein Kreislauf zusammenbrechen würde.

Vor seinen Augen verschwamm der Parkplatz zu einem wirren Strudel aus Licht und grauen, wirbelnden Flecken.

Schock. Er verlor zu viel und zu schnell Blut.

Eigenartig, dass er seinen Zustand so gelassen diagnostizieren konnte.

Er brauchte Hilfe, bevor der Kerl ihm den Rest geben würde.

Jemand schrie, und er hörte die rasche Abfolge von schweren Schritten und laute Stimmen, die durcheinander redeten.

Zumindest eine davon schien einem Wachmann zu gehören, die das Gelände kontrollierten.

Von weit weg drang eine fremdartige Stimme durch – dem Klang nach ein Fluch -, und dann stieß sein Attentäter die heraneilenden Zeugen zur Seite und flüchtete zwischen den parkenden Wagen hindurch.

Sein Blick suchte nach Hilfe, bevor er in Ohnmacht fallen würde.

Um Hilfe rufen ging nicht. Da war viel Druck auf der Lunge. Er würde nicht einmal sprechen können.

Als er sich an dem hinter ihm stehenden Wagen abstützte, glitt er in seinem eigenen Blut aus.

Nur nicht fallen.

Aufgeregte Stimmen.

Zwei beherzte Wachmänner, von denen einer auf ihn zurannte, während der andere die Verfolgung des Schützen aufzunehmen schien.

Es spielte keine Rolle.

Er brauchte dringend Hilfe.

Die Notversorgung ging ausgesprochen langsam voran.

Und das, dachte er, in einem Krankenhaus. Das war beinahe komisch.

Doch er fühlte nichts, nicht einmal Schmerz.

Dafür kroch ein Gefühl in ihm hoch, dass sich von allem unterschied, was er bisher erlebt hatte.

Er würde sterben.

Wenn niemand kam, würde er auf der Stelle verbluten.

Vor einem Krankenhaus.

Er würde nicht mehr aufwachen.

Das hier war vielleicht das Letzte, was er sah, bevor er auf ein blendendes Licht zugehen würde.

Oder in einen finsteren Abgrund fuhr.

In ein paar Minuten wäre alles vorbei, und das Leben würde ohne ihn weiter gehen.

Er dachte an House und an Foreman, die ein paar Stockwerke über ihm waren und vermutlich nicht ahnten, was sich auf dem Parkplatz abspielte, die aber die einzigen sein würden, die einen Sinn aus dem Geschehen machen konnten.

Er würde sich nicht einmal von jemandem verabschieden können.

So wenig, wie er es von seinem Vater gekonnt hatte.

Endlich fiel er, doch er spürte keinen Aufprall, keinen Schmerz.

Der scharfe, metallische Geruch von seinem eigenen Blut drang in sein qualvoll geschärftes Bewusstsein.

Jemand berührte seinen Arm, sprach energisch auf ihn ein.

Er wollte antworten, doch sein Gehirn befand sich in Alarmbereitschaft und schaltete sämtliche klaren Gedanken ab, konzentrierte sich auf die wenige Zeit, die ihm blieb, um zu überleben.

Er hatte nicht vor, jetzt schon zu gehen.

Es war viel zu früh.

Gott, hilf mir.

„Wir brauchen einen Arzt hier! Schnell!"

Es war das letzte, was er hörte, bevor er ohnmächtig wurde.