Die Kette um Gilberts Herz ist eng gespannt. Mit jedem Jahr, jedem Glied, wird sie fester und erdrückender. Der Preis, den er für seine fürsorgliche Liebe zu Ludwig bezahlen wird, ist immens hoch. Denmark/ Prussia/ Germany/ Norway. Anno 1864 und 1940.

Das Kind

1864.

Endlich ist Nacht über die Welt gekommen und ein dunkler Schleier hat sich auf die Schlachtfelder gelegt.

Aus den Feinden des Tages werden gewöhnliche Männer, die in ihren Träumen gleich sind vor den Schützengräben des Tages und der Angst in ihren Herzen. Ebenbürtig in dem tiefen Wunsch zu leben und zu überleben, der in einem so grellen Gegensatz zu den wagemutigen Absichten ihrer jeweiligen Landesfürsten zu stehen scheint.

Nur der Wind gesellt sich an die Seite dieser einfachen Soldaten und überschreitet mit ihnen gemeinsam die künstlichen Barrieren des Krieges.

Sacht streicht er über die weichen runden Grashügel, deren sandiger Boden mit Blutlachen und Schwarzpulverresten getränkt ist. Jeder Meter ein Grab in den Lüften.

Spielerisch wandert er von den engen Feldlagern der erschöpften Infanteristen zu den mondänen Zelten der Offiziere am Rande des Waldes, lässt die groben Vorhänge aus Leinentüchern unruhig umher schwenken und dringt schließlich in das Innere vor.

Er kommt nicht allein.

Er ist nicht der einzige, der keine Grenzen mehr kennt.

Der schwarze Schatten, den er mit sich leise in das Zelt hinein führt, ist zu allen entschlossen.

Handeln heißt die Devise des Moments - schnell, kaltblütig und rücksichtslos – nicht denken.

In Sekundenbruchteilen findet die dunkle Gestalt, was sie sucht, zieht ihr Schwert aus der Scheide und legt die blitzende Klinge der Waffe an die zarte Kehle des kleinen Jungen, der friedlich auf einem Feldbett vor sich hinschlummert.
Das strohblonde Kind hat auf die Rückkehr seines Bruders gewartet, hat so sehr versucht wach zu bleiben, um zu hören, wie der größte Held, den sich seine Fantasie ausmalen kann, von den allerneuesten Schlachterfolgen und Landgewinnungen des Tages erzählt.

Fest graben sich die kleinen Hände in einen mit Federn besetzten Hut und zerknittern das luxuriöse Material, dass er sowohl an seine Brust gepresst hat, wie er es selber auf seinem Körper trägt. Zerbrechlich schimmert ein Stück der feinen Haut unter dem weißen Seidenhemd hervor, dessen Bänder ordentlich verschnürt sind.

Schon spürt die zwielichtige Erscheinung – genau genommen ein Soldat dänischer Herkunft - einschneidend genau die besondere Nachgiebigkeit des Widerstands, auf den die Schwertklinge einpresst. Jetzt braucht es nur noch Tatkraft, nur noch eine fließend harte Bewegung und das Blut des Kindes wird an der scharfen Klinge hinterströmen – nicht anders als der rote Lebenssaft all seiner Landesgenossen, die ebenso gestorben sind.

Doch der Soldat zögert, wo er es nicht dürfte. Jetzt nicht den Mut verlieren. Nicht daran denken, dass es ein unschuldiges Kind ist. Wer von ihrer Art ist schon wirklich unschuldig.

Die wertvollen Augenblicke rinnen ungenutzt durch seine offenen Hände, rinnen an ihm vorbei.

Er muss es tun, es gibt keinen anderen Weg.

Wild aufschäumend kreisen die barmherzigsten Regungen in seinem Verstand herum. Ein nervöses Zucken geht durch die starre Maske seines Gesichts, ein winziger Funken Mitleid flammt in seinem Inneren auf.

Langsam lässt der Däne die Hand sinken und starrt auf die feinen Gesichtszüge des Kindes, welche von klassischer Purheit sind.

Im Gegensatz dazu wirkt das bereits eindrucksvolle Vermächtnis der Klinge, dass sich in Form eines feinen roten Strichs quer über die weiße Kehle zieht, wie das höllische Heraufdämmern einer bösen Verdammung.

Warum nur wacht der Junge nicht auf? Fühlt er sich so geborgen in dem Zelt seines Bruders?

Ganz nah neben dem Bett des Kindes steht ein weiteres Soldatenlager, unordentlich liegen dort zwei graue Decken über der Matratze verstreut, hängen mit den Enden tief im Dreck des Bodens.

Leise tritt nun der Mann an dieses zweite Bett heran, nimmt ein schmales Federkissen in die Hände und wendet es ein paar Mal zwischen seinen großen Händen hin und her.

Dann also kein mit zarten Kinderblut befleckter Tod, sondern ein stilles sanftes Wegdämmern in die andere Welt hinüber. Auch gut. Das mindert vielleicht die zwickenden Schuldgefühle, die er genau genommen, gar nicht empfinden sollte.

Entschlossen die weichen Enden des Kissens in den Händen haltend, kniet sich der Soldat lautlos neben den Jungen hin und beugt sich weit über dessen friedliches Gesicht

Nur noch Zentimeter trennen den halb geöffneten Mund des Kindes von dem Stoff, der auf seine Atemzufuhr gedrückt werden soll, aber noch ehe der erwischte Däne das Klirren des Metalls, das herrische Zischen der Klinge durch die Luft hört, weiß er, dass es zu spät ist, dass sich in seinem Rücken der Gegner aufgebaut hat.

Als die Klinge des Schwertes zielgenau an seine ungeschützte Kehle gesetzt wird, ist er sich schlagartig im Klaren darüber, dass er die erste Schlacht verloren hat.

„Gilbert..." keucht er erschrocken auf, die Stimme ein einziger zischender Ton, weil das scharfe Metall ihm den Atem nimmt.

Noch kraftvoller drückt der preußische Soldat sein Schwert an die Halsschlagader des Dänen.
Barsch und angespannt liegen die blindwütigen Hände an dem kühlen Schaft, halten sich daran fest, um nicht die Beherrschung zu verlieren und ein Blutbad zu veranstalten, noch hier an Ort und Stelle.

„Ahh..Gilbert, lass es mich erklären..."

„Wie. Kannst Du. ." wispert der Mann hinter ihm tonlos, noch immer vollständig durchdrungen vom Schock über seine Entdeckung im Inneren des Zeltes.

„Es ist nichts persönliches, das weißt du..."

„Es gibt Grenzen..."

„Nein...nein..hör.." unter einem mühseligen Aufwand schafft es der Däne, seinen Kopf nach hinten ziehend, von der Waffe zu weg zu weichen, steht langsam auf – mit in die Luft erhobenen Händen - dreht sich zu dem anderen Soldaten herum und fordert beschwörend, „Hör mir zu...!"

Es schaudert ihn als er sieht, wieviel Wahnsinn in den roten Augen des Preußen schwimmt. Dort lodert massiv glühender Hass auf. Und der Wunsch nach einem Massaker, nach Rache.

Keinen Zentimeter hat der Andere die Klinge sinken lassen, die direkt auf den Bauch des Größeren gerichtet ist. Eine tiefe Schramme zieht sich über seine Wange und der Arm liegt in einem Verband, zweifellos die Hinterlassenschaften des andauernden Krieges.
Doch sie stechen nicht ansatzweise so tief unter die Haut, in die Brust des Preußen hinein, wie das unerwartete Ereignis, welches er hier gerade noch dabei war, zu verhindern.

Der bloße Instinkt hatte ihn von der allabendlichen Lagebesprechung mit den Heeresführern zu seinem Zelt fortgetragen – fast war es ihm peinlich, sich bei den Generälen mit einer Lüge zu entschuldigen, fast hätte er auf halben Weg wieder kehrt gemacht und die merkwürdige Vorahnung in seinem Bauch einfach abgeschüttelt.

Der Däne schöpft tief nach Luft und setzt wieder zum Reden an: „Was ist, wenn er Preußen schad..."

„Es. Gibt. Grenzen..." wird er mit dünner, fast unhörbarer Stimme unterbrochen. Es klingt wie ein Mantra, mit dem sich der Sprechende selber beruhigen will. Tatsächlich ist es nur die Essenz dessen, was Gilbert eigentlich wirklich aus zu drücken versucht, nur die Spitze des Eisbergs. Tief in seinem Sprachvermögen wühlen die Würmer der Vergeltung, fressen sich durch das Fleisch zu seiner Seele und legen eine urtümliche Angst frei, von der er nicht geglaubt hatte, sie empfinden zu können.

„Was ist, wenn er aus Preußen..."

„Er ist ein Kind!"

„Nein. Nein, das ist er eben nicht!" schüttelt der Däne energisch mit dem Kopf. „Er könnte eine Bedrohung sein, für dich, für uns beide und viele andere Länder, für ganz Mitteleuropa, verdammt nochmal, siehst du das nicht? Alles was er kennt ist Krieg und Tod, er wird nie so wie die anderen sein, so mächtig, wie er jetzt schon ist. Und wenn du damit weiter machst, ihn zu Feldzügen mit zu nehmen als wäre Blutvergießen ein reines Vergnügen wird er irgendwann alles Dagewesene übertreffen und die Grausamkeit perfektionieren!"

Beide Männer blicken zu dem Schlafenden, um zu sehen, ob der Junge durch die zum Ende seines Plädoyers immer lauter gewordene Stimme des Dänen aufwachen wird, aber tiefe Atemzüge zeugen von einem andauernden geruhsamen Frieden.
Unter dem Bett des Kindes, halb versteckt von den Schatten der Nacht, sind kleine in gerader Linie aufgestellte Zinnsoldaten sichtbar, die sich Glied für Glied tapfer kämpfend und sterbend gegenüber stehen. Ein passgenaues Abbild der momentanen Kriegslage, detailgetreu nachgestellt bis in die minimalsten Darstellungen gesonderter Frontabschnitte hinein.

Nicht, dass Gilbert diese Einzelheit bemerken würde.

„Ich lasse ihn auf den Schlachtfeldern aufwachsen, damit er sich eines Tages anständig wehren kann, in genau so einer Situation wieder dieser hier, wenn ihm irgendjemand grundlos nach seinem Leben trachten will!" bekennt der Preuße verachtungsvoll mit einer schalen Bewegung seines Mundes.

„Das wirst du bereuen, eines Tages wirst du das bereuen..."

Gefährlich blitzen die roten Augen auf, bevor sie vor Ekel über die bloße Andeutung der Botschaft, die in den Worten des Anderen liegt, eng zusammen gekniffen werden: „Ich werde es in keinem Jahrhundert meiner Existenz bereuen, auf das achtgegeben zu haben, was ich liebe!"

„Gilbert..." ertönt die geflüsterte Erwiderung darauf beschwörend und es klingt beinahe wie ein hilfloser Seufzer: „du bist viel zu eingenommen von dem Jungen. Wir – gerade wir - dürfen ins keine Sentimentalitäten erlauben, das weißt du sehr genau. Wir dürfen es nicht, weil es unsere Länder und unsere Völker Blutzoll kosten wird, immer und immer wieder."

Keine sogenannte Vernunft, keine noch so überzeugte Ansprache könnten den Preußen dazu bewegen, auch nur zu erwägen, was für den Anderen noch immer im Bereich des Vorstellbaren liegt. Mit einem großen Schritt geht er auf das Bett zu und lässt dabei fuchtelnd sein Schwert sinken, abwehrend, hat genug gehört von dem Eindringling, genug von seiner bloßen Anwesenheit.

„Nur weil du, Mathias, unfähig bist, höhere Gefühle zu empfinden, heißt das nicht, das es dir jeder gleich tun muss!"

Ungeheuer ausdrucksvoll und vielsagend klingen die Worte aus dem Mund eines Mannes, der sonst vor der Welt der Emotionen zurück scheut und am liebsten jeden Kontakt mit ihr komplett vermeidet. Aber hier am Bett des Kindes, dass so kurz davor stand, ermordet zu werden, fühlt er sich von seltsamen Mächten überrannt und praktisch dazu gedrängt, sein Herz offen zu legen.

Das heißt jedoch nicht, dass deswegen all sein Kampfgeist aus ihm gewichen ist.

Noch einmal lässt Gilbert die scharfe Klinge in die Luft fahren, drohend. „Lauf!" befiehlt er dabei, mit nachdrücklicher Schärfe. Wohl wissend, dass alles, was er tun muss, zu Schreien ist, um ein halbes dutzend Wachen in seinem Zelt versammelt zu wissen. Auch wenn er das niemals tun würde, weil es dem Jungen ein unangenehmes Erwachen bescheren würde.

Klirrendes Eis hallt durch seinen Ton, durch seine viel versprechenden Worte als er ein letztes endgültiges Mal fordernd die Stimme erhebt, des Sieges sicher, aber noch immer gezeichnet von der Situation, die er mehr durch Glück als durch Können aufgehalten hat: „Lauf, wie du noch nie gelaufen bist, ich schenke dir dein armseliges Leben. Aber solltest du noch einmal in Ludwigs Nähe kommen, kann ich für nichts mehr garantieren, hast du das verstanden? Dann werde ich Dänemark zu Staub zermahlen und dir alles nehmen, was du je für wertvoll befunden hast!"

Und wie es Gilbert befiehlt, so geschieht es.

Der fremde Schatten, den der Wind in das Zelt getragen hat, zieht sich hastig zurück, ohne sich noch einmal herum zu drehen.

Noch ehe der Flüchtende an den Leinenvorhängen vorbei ins Freie gelangt ist, hat sich der erschütterte Preuße schon erschöpft, aber unendlich behutsam auf das Bett des Kindes gesetzt, die Hände auf den zerberstenden Mund gepresst, um ja keinen Laut von sich zu geben, um ja die Schreie des blanken Entsetzens nicht preis zu geben, die aus ihm heraus springen wollen, bei der Vorstellung an das, was sich hier hätte ereignen können.

Und selbst als er die Augen schließt, welche die Tränen nicht mehr halten können, sieht er noch immer die schreckliche dünne rote Linie an der Kehle des Jungen vor sich. Sie spaltet seine Pupillen. Sie spaltet sein Fleisch. Und lässt das Band um sein Herz eiserner werden, lässt es sich fester um seinen pulsierenden Lebenskern schlingen, genauso fest, wie er jetzt seine bebenden Arme um den kleinen Körper des Kindes windet, um das kostbare Wesen innig an sich zu pressen.