Prolog
Die Dunkelheit überwältigte ihn. Schatten streckten ihre langen, dürren Finger aus nach ihm, umschlangen und zogen ihn mit sich fort. Er hörte Stimmen, laut und angsterfüllt – Sam. Es musste Sam sein. Ein mattes Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er die zweite Stimme erkannte. Dann wurde alles schwarz.
„Dean…"
Sam's Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, ein atemloses Keuchen voll Entsetzen und Panik. Castiel kam neben ihm zum Stehen, den Blick ebenso wie der jüngere Winchester auf seinen Schützling gerichtet.
Seine Schultern hingen schlaff nach vorne, der Kopf war reglos auf seine Brust gesunken und seine Augen waren geschlossen. Das gleißend helle Licht erstarb abrupt und Dean Winchester's Körper glitt mit einem leisen Rascheln zu Boden. Staub wirbelte auf, ließ die Luft dick und greifbar wirken. Ohne zu zögern hastete Sam auf seinen älteren Bruder zu, sank neben ihm auf die Knie und zog ihn in seine Arme.
„Dean!", presste er hervor, sein Gesicht panisch und angstverzerrt.
Auch der Engel war nun näher getreten, Verzweiflung und Verbitterung in seinen Augen. Er legte eine Hand auf Sam's Schulter, doch dieser schüttelte sie ab. Er wollte nicht hören, was Castiel zu sagen hatte, würde nicht einmal versuchen, zu begreifen was geschehen war. Wieso nur hatte er das getan?
Ein jähes Zucken ließ Dean's Körper in seinen Armen erbeben und Sam starrte voll Grauen auf das blasse Gesicht seines Bruders. Die Lider erzitterten, öffneten sich langsam und voll Anstrengung. Sam spürte, wie sein Herz in tausend Stücke sprang, als sein Blick von durchdringend goldfarbenen Augen erwidert wurde. Ohne ein Wort entwand er sich aus Sam's Umklammerung, richtete sich gerade auf und strich sich mit bedächtigen Bewegungen den Staub von der Kleidung. Castiel war zurückgewichen, seine Lippen leicht geöffnet, der Blick voll Empörung und Zweifel.
„Castiel", sagte Dean und seine Stimme war so tief und klar, dass sie Sam einen Schauer über den Rücken jagte.
„Michael", erwiderte der Engel und schüttelte voll Trauer den Kopf.
„Nein…"
Sam rappelte sich auf, stolperte vorwärts, die Hand auf Dean's Arm – doch dieser wandte ihm lediglich seinen Kopf zu, sein Blick so kalt und vernichtend, dass Sam augenblicklich zurückzuckte.
„Dean… gib mir meinen Bruder zurück!"
Trotz des Hasses und der Verzweiflung in Sam's Stimme, schritt Michael weiter vorwärts, durchquerte den gedrungenen Raum und blieb am Fenster der verlassenen Lagerhalle stehen. Das Mondlicht reflektierte sich in den schimmernd gelben Augen und Sam spürte einen Brechreiz in sich aufsteigen. Er sah zu Castiel, voll Hoffnung und Vertrauen, doch der Engel starrte nur wie verzaubert zu Dean – zu Michael hinüber.
Er war wunderschön. Castiel konnte seine Augen nicht einen Moment lang von dem Erzengel abwenden. Zu sehr nahm ihn die schimmernde Gestalt Michael's gefangen, faszinierte ihn. Es war lange her, seit er einen Erzengel in seiner vollen Pracht gesehen hatte. Stark und stolz – und wunderschön. Er verfluchte sich für seine Hochachtung, seine Ehrfurcht vor ihm, versuchte sich in Erinnerung zu rufen, dass es Dean's Körper war, den er besetzte. Doch es schien ihm unmöglich, den Blick zu senken, die unbeschreibliche Schönheit nur eine Sekunde missen zu müssen. Er hörte Sam seinen Namen sagen und doch brauchte er noch einige Sekunden, um ihn anzusehen.
„Cas… Dean… was ist... was ist mit Dean?!"
Der Schmerz kehrte zurück. Die Angst und der Hass auf die Engel – auf seine Familie, die ihm das genommen hatte, wofür er all die Zeit gekämpft hatte. Er biss sich auf die Lippe, schmeckte dünnes, süßes Blut und wand den Blick ab von Sam, von Michael. Erst als er den jüngeren Winchester leise keuchen hörte, sah er wieder auf. Michael war fort.
Sie hatten Dean verloren.
