1 Perfekte Weihnachtsstimmung
Die Vorfreude auf die Weihnachtszeit war dieses Jahr ganz besonders stark in Hogwarts. Überall liefen die Vorbereitungen auf Hochtouren. Es wurde geschmückt und alle redeten plötzlich nur noch von Geschenken und Weihnachtstimmung. Der Schulball und wer mit wem dort erscheinen würde, war in aller Munde. Natürlich hatte Ron vor, mit Hermine hinzugehen und voller Enthusiasmus erzählte er von nichts anderem mehr, als von seinem Vorhaben, ihr endlich seine wahre Liebe zu gestehen und um ihre Hand anzuhalten. Harry freute sich für seine beiden besten Freunde und doch konnte sich bei ihm nicht die richtige Weihnachtsstimmung einstellen.
Niemand von seinen Mitschülern aus Gryffindor hatte bemerkt, dass der schüchterne 17Jährige trotz der riesigen Schar von Verehrerinnen immer noch ohne Begleitung dastand und von Tag zu Tag stiller und verschlossener wurde. Je näher sich die Weihnachtsferien näherten, um so schlechter war es um Harrys Laune bestellt und nun wurden seine Freunde hellhörig. Hermine spürte deutlich, dass etwas mit ihrem besten Freund nicht stimmte. Aber jedes Mal wenn sie ihn fragte, was los sei, antwortete er nur ausweichend: ?Mach dir um mich nur keine Sorgen, Hermine. Ich mag bloß den ganzen Rummel nicht."
Ron war zu beschäftigt mit seinem Plan und fragte Harry lediglich vollkommen geistesabwesend, als sie am Tag vor dem besagten Schulball beim Frühstück saßen: ?Sag mal, mit wem gehst du eigentlich jetzt zum Ball?"
Harry versuchte ein möglichst unbeteiligtes Gesicht zu machen, als er verzweifelt die Unsicherheit in seiner Stimme versteckte: ?Keine Ahnung, ob ich überhaupt auf den Ball gehe."
Ron sah seinen besten Freund ungläubig an und setzte zu einer seiner berühmten Schimpftiraden an. Doch bevor der Rotschopf loslegen konnte warf Harry schnell ein: ?Ich werd´ schon noch jemanden finden. Außerdem hasse ich diesen Krampf sowieso. Erinnere dich nur mal an das Fiasko in unserem vierten Jahr."
Bei der Erwähnung des vierten Schuljahres huschte sofort ein Schatten über das Gesicht des Gryffindors. Hermine warf Ron einen warnenden Blick zu, der besagte, dass es wesentlich gesünder war, nun das Thema schnellstens zu wechseln, bevor entweder sie oder sein bester Freund ihm die Laune verderben konnten. Ihre kleine Unterhaltung war nicht vollkommen unbemerkt geblieben. Am Tisch der Slytherins beobachtete ein hämisch grinsender Draco Malfoy das Geschehen mit unergründlichen stahlblauen Augen. Es war ihm nicht entgangen, dass sein Gegenspieler schon seit geraumer Zeit wie ein fünftes Rad am Wagen wirkte, wenn er bei Ron und Hermine saß. Das früher ach so unzertrennliche Trio von Gryffindor existierte schon lange nicht mehr, seit Ron und Hermine ständig nur Augen füreinander hatten.
Draco Malfoy wirkte im Gegensatz zu seinem ewigen Rivalen überhaupt nicht einsam. Seine ständigen Eskapaden und One-Night-Stands hatten ihm mittlerweile einen gewissen Ruf eingebracht. Er war ein hübscher, junger Mann mit hellblonden, nahezu weißblonden Haaren, die er nun kürzer trug. Draco wusste ganz genau wie er seinen Charme und sein berühmtes Lächeln ausspielen musste, um das zu erreichen was er wollte. Und doch hatte er bisher noch nicht gefunden wonach er suchte. Keine seiner bisherigen Beziehungen konnte ihn wirklich befriedigen, weshalb sie meist recht schnell vorbei waren. Blaise, der neben Draco saß, stupste ihn in die Seite und fragte neugierig: "Draco, wer ist denn deine Ballbegleitung dieses Jahr?"
Jäh aus den Gedanken gerissen antwortete der mit einem leichten Lächeln: "Ich habe immer noch nicht die geringste Ahnung."
Äußerlich wirkte Draco vollkommen ruhig als sein Hausgenosse ihn lächelnd ansah und ihn neckte: "Oh, du willst also ein Geheimnis daraus machen? Alter Schürzenjäger."
Draco musterte Blaise mit einem unbeteiligten Gesicht und zuckte leicht mit den Schultern. Dieser sah seinen Freund mit abschätzenden, stahlblauen Augen an und stopfte eine sich lösende, schwarz-blaue Strähne zurück den Pferdeschwanz. Draco gab keine weitere Antwort und wollte offensichtlich ein Mysterium daraus machen.
In der folgenden Nacht wälzte sich Harry ruhelos in seinem Bett hin und her. Nachts fühlte er seine Einsamkeit noch stärker. Es gab keine ablenkenden Ausweichmanöver, um seinen unangenehmen Gedanken zu entgehen. Der Gryffindor seufzte leise und fuhr sich durch seine mittlerweile fast schulterlangen, schwarzen Haare, die er tagsüber mit einem Haargummi bändigte. Um die anderen nicht zu stören, beschloss er, einen nächtlichen Spaziergang in den abgelegenen Westturm zu machen. Wie üblich würde er auf dem Dach enden, weil man von dort sehr gut die Sterne beobachten konnte.
Harry griff seinen Unsichtbarkeitsmantel und schlich sich aus dem Gryffindorturm. Er hatte dieses Mal Glück und begegnete weder Mr Filch, dem unsympathischen Hausmeister, noch seiner ewig nervenden Katze Mrs Norris. Auf dem Dach des verlassenen Westturmes angekommen, ließ sich Harry auf den Rücken fallen und beobachtete tief in Gedanken versunken die Sterne. Sonst hatten die leuchtenden Punkte am Himmel immer eine äußerst beruhigende Wirkung auf ihn, aber heute verfehlten sie ihre tröstende Wirkung vollkommen. Seine ganze Trauer und die Einsamkeit stiegen unaufhaltsam an die Oberfläche seines Bewusstseins.
In der heutigen Nacht rächten sich seine unzähligen Versuche, die aufsteigende Verzweiflung einfach zu ignorieren und zu verdrängen. Harry wurde von den ganzen aufgestauten Gefühlen überwältigt. Unfähig sich dagegen zu wehren, schossen ihm Tränen in die Augen und bahnten sich ihren Weg in die Freiheit. Er schloss die Augen, doch trotzdem flossen ihm immer noch Tränen über das Gesicht und befeuchteten seine spröden Lippen. Der Junge, auf dem die ganze Hoffnung der Zaubererwelt lastete, spürte den salzigen Geschmack seiner eigenen Tränen und der immer größer werdende Kloß in seinem Hals drohte, ihn zu ersticken. Das Bedürfnis laut aufzuschluchzen wuchs fast ins Unermessliche. Der stechende Schmerz in seiner Brust und in seinem Hals wurden immer stärker.
Plötzlich durchbrach ein schleifendes Geräusch die Stille der Nacht und eine andere Person zog sich keuchend und leise vor sich hinfluchend durch das Dachfenster hoch. Harry hatte keine Energie mehr in seinem Körper. Er blieb einfach reglos liegen. ohne jeglichen Versuch seine Tränen wegzuwischen oder sich zu verbergen. Schon ertönte eine ihm wohlbekannte, schnarrende Stimme neben ihm: "Potter, was machst du denn hier?"
Draco Malfoy konnte in der Dunkelheit sein Gegenüber nur schemenartig erkennen, aber wusste trotzdem sofort, mit wem er es hier zu tun hatte. Der reglos daliegende Gryffindor gab keine Antwort. Draco blinzelte irritiert, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Er war ziemlich verärgert, weil er seinen Lieblingsplatz besetzt vorfand. Ausgerechnet der Gryffindor musste dort auf ihn warten, obwohl er jetzt am liebsten allein sein wollte, um erst mal sein Gefühlschaos zu ordnen.
Mit katzengleichen Bewegungen näherte sich der Slytherin Harry und ließ sich zögernd neben ihm nieder. Neugierig beäugte er den immer noch reglos daliegenden, schwarzhaarigen Jungen. Zu seiner Verwunderung stellte er mit einem leichten Schaudern fest, warum Harry nicht geantwortet hatte. Er war ganz offensichtlich zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen oder er schämte sich ganz einfach, weil er, auch wenn es fast unglaublich schien, weinte. Das erste Mal in seinem Leben fühlte sich Draco Malfoy total hilflos. Er war zutiefst geschockt, aber seltsamerweise auch irgendwie berührt von diesem Anblick.
Harry Potter hatte immer noch die Augen geschlossen und versuchte verzweifelt gegen seine Tränenflut anzukämpfen, um seinem ewig stichelnden Rivalen nicht so ein leichtes Ziel abzugeben. Aber er fühlte sich wie ausgelaugt und es wollte sich einfach kein Erfolg einstellen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als die Augen aufzumachen und sich auf ein äußerst unerfreuliches Wortgeplänkel vorzubereiten. Harry öffnete seine tränenverschleierten, grünen Augen und sah den Slytherin mit ratlosem Gesichtsausdruck neben sich sitzen.
Als Draco sah, dass sein Gegenüber die Augen öffnete, wusste er zunächst gar nicht wie er reagieren sollte. Dies war eine vollkommen neue und unerwartete Situation für ihn. Harry raffte sich zu einer sitzenden Position auf. Sofort fielen ihm seine schwarzen, unbändigen Haare ins Gesicht und verdeckten seine Augen. Nur das leichte Zittern der Schultern verriet, dass der junge Zauberer immer noch geräuschlos weinte. Noch immer hatte keiner von beiden etwas gesagt und der Slytherin verspürte plötzlich den unbändigen Drang, den anderen Jungen einfach tröstend in den Arm zu nehmen, obwohl es sich hier um den Wunderknaben von Gryffindor handelte. Aber er konnte einfach niemanden weinen sehen auch wenn es hier um seinen Rivalen, den berühmten Harry Potter, ging.
Draco erinnerte sich plötzlich an seine eigene miserable Gefühlslage, der er es zu verdanken hatte, dass er sich hier auf dem Dach des Westturmes befand. Der Slytherin spürte seine eigenen Tränen aufsteigen, während er dem anderen Jungen tröstend eine Hand auf die Schulter legte. Angesichts der Tatsache, dass Harry in einer ähnlichen Verfassung war, schien es irgendwie weniger schlimm zu sein, die übliche Fassade für einen Moment fallen zu lassen. Schon bald rannen dem sonst angeblich so arroganten und selbstsicheren Slytherin ein paar einsame Tränen über die blassen Wangen. Er begann ganz leicht zu zittern, als er die altbekannte Kälte tief aus seinem Innern emporsteigen fühlte.
Harry blickte hoch zu seinem Gegenüber, als dieser ihn an der Schulter berührte. Mit wachsendem Erstaunen nahm er wahr, dass sein ehemals so gehässiger Gegenspieler offensichtlich versuchte, ihn zu trösten. Seine Gesichtszüge veränderten sich urplötzlich und wurden weicher, bevor er anfing, ebenfalls zu weinen. Dieser Anblick würde wahrscheinlich jeden anderen Schüler und die meisten der Lehrer in Hogwarts ohnmächtig umfallen lassen: Draco Malfoy und Harry Potter weinend nebeneinander.
Der Gryffindor legte zaghaft seine Hand auf die des Slytherins und spürte wieder Tränen aufsteigen. Die beiden Jungen umarmten sich plötzlich, ohne darüber nachzudenken, als wäre es ein simpler Reflex. Immer noch hatte bisher keiner der beiden gesprochen. Die Stille wurde nur von einigen, nicht rechtzeitig unterdrückten Schluchzern unterbrochen, die wie ein Startschuss auf die beiden wirkten. Die Umarmung war fast zärtlich. Beide hielten einander fest, während sie sich die Seele aus dem Leib weinten und nun frei schluchzten, ohne weitere Versuche ihre Gefühle zu unterdrücken.
Die ganze Situation hatte eine sehr befreiende Wirkung. Beide Jungen genossen es, von starken Armen gehalten zu werden und den warmen Körper des anderen zu spüren. Das erste Mal in ihrem Leben ließen sie in der Gegenwart eines anderen ihren Gefühlen freien Lauf. Sie hielten sich noch in den Armen, als sie sich bereits beruhigt hatten. Seltsamerweise fühlte es sich gut und nicht falsch an. Ganz langsam und vorsichtig strich Draco durch das schulterlange, schwarze Haar des Gryffindors und brach schließlich das Schweigen: "So etwas ist mir noch nie passiert, Harry.", flüsterte er.
Harry berührte mit seinen Fingern sanft, fast streichelnd Dracos Wange und hauchte: "Das kann niemand verstehen oder erklären. Das war einfach einmalig."
Der Slytherin nickte und merkte, dass er den anderen Jungen immer noch im Arm hielt. Draco horchte tief in sich hinein und stellte fest, dass seine Befürchtungen sich in diesem Augenblick bewahrheiteten. Aber er genoss es, seinen früheren Erzfeind in den Armen zu halten und sich geborgen zu fühlen. Dann brach er erneut das Schweigen und fragte mit heiserer Stimme: "Was bedeutet das jetzt?"
Harry antwortete mit ebenfalls heiserer, immer noch zittriger Stimme: "Ich nehme an, das bedeutet, dass wir soeben unsere Feindschaft begraben haben, oder?"
Draco konnte nicht umhin zu schmunzeln und erwiderte, während er dem Gryffindor tief in seine unergründlichen, grünen Augen blickte: "Also von meiner Seite aus war unsere sogenannte Feindschaft eigentlich bloß ein Schutzschild."
Harry verlor sich fast im tiefen, unergründlichen Ozean Dracos nun meerblauen Augen und fragte mit leichtem Stirnrunzeln: "Was soll denn das bedeuten?"
Der gutaussehende Slytherin lächelte sein einnehmendstes Lächeln und eröffnete mit unschuldiger Miene: "Das bedeutet, dass ich Theater gespielt habe, damit niemand merkt, was ich wirklich fühle."
Harry sog die Worte des Geständnisses förmlich in sich auf. Sein Gesicht erhellte sich plötzlich, als er heftig errötete und flüsterte: "Bevor du jetzt weitersprichst solltest du wissen, dass ich da etwas mit mir rumgetragen habe, was ich noch niemandem erzählt habe: Ich bin homosexuell."
Draco zog eine wohlgeformte Augenbraue in die Höhe und räusperte sich, bevor er weitersprach: "Nun... ähm... ich denke, dass ich auch eher auf Männer stehe und vor allem auf dich."
Der Gryffindor bekam es irgendwie fertig, noch mehr zu erröten und konnte sich die Frage nicht verkneifen: "Aber was ist mit deinen ganzen One-Night-Stands und deinem Ladykiller-Image?"
Nach einem kräftigen Hustenanfall, da er sich vor Schreck verschluckt hatte, antwortete Draco: "Ich wollte mir beweisen, dass ich nicht schwul bin, aber es hat sich nie so richtig angefühlt wie heute als ich dich umarmt habe."
Die beiden Jungen sahen sich an, um die Reaktionen des anderen zu beobachten und ihre Gesichter waren nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Draco schloss seine Augen und lehnte sich vor, um Harry zu küssen. Der Gryffindor schloss ebenfalls seine Augen und ihre Lippen trafen sich in einem ersten sanften Kuss. Der bereits erfahrene Slytherin knabberte ganz leicht an der Unterlippe Harrys und dieser öffnete bereitwillig seine Lippen einen Spalt breit, um der Zunge seines Gegenübers Einlass zu gewähren. Beide Jungen erforschten den Mund des anderen mit ihren Zungen und genossen das aufregende Gefühl, dass dabei entstand. Der Kuss wurde immer leidenschaftlicher und bald gab es keinen Zweifel mehr, dass die beiden nun keine Rivalen mehr sein würden, sondern vielmehr ein Paar.
Der Morgen fing bereits an zu grauen. Nach Luft schnappend ließen die beiden frisch Verliebten voneinander ab. Draco legte seinen Arm um Harrys Schulter und zog ihn grinsend an sich als er vorschlug: "Willst du mit mir auf den Schulball gehen und die gesamte Schule auf den Kopf stellen?"
Harry konnte sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen als er antwortete: "Das wäre mir ein Vergnügen. Ich kann es kaum abwarten, die Gesichter der anderen zu sehen."
Die beiden kicherten bei der Vorstellung des Tumults, den ihr Auftritt auslösen würde, aber schließlich waren beide diese ständige Aufmerksamkeit gewöhnt und das war der beste Weg, ihre neu geschlossene Beziehung offiziell bekannt zu geben und möglichst viele Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.
