Hallo, Leute!

Das ist eine Übersetzung. Das Original stammt von HighEmpress und heißt "Harry Potter and the archway of the dead".

So und jetzt viel Spaß beim Lesen!

Liebe Grüße

luckyserpent


Kapitel 1

Harry Potter saß auf der Kante seines Himmelbettes im Gryffindor- Schlafsaal und band sich mechanisch die Schuhe zu. Der Raum war gebadet im Morgenlicht, war jedoch völlig leer außer Harrys wenigen Habseligkeiten. Die Vorhänge waren aufgezogen, die Betten gemacht und die Koffer von Dean, Seamus und Neville waren schon von den eifrigen Hauselfen hinausgetragen worden. Harry konnte nicht sagen, ob sie die Nacht überhaupt in dem Saal verbracht hatten. Sie waren wahrscheinlich schon sehr früh aufgebrochen oder sie hatten woanders geschlafen. Ron, erinnerte Harry sich, hatte gesagt, dass er bei seinen Eltern bleiben und schlafen würde, wenn sie im Fuchsbau ankamen. Es fühlte sich merkwürdig an, allein im Schlafsaal zu sein. Es war sechs Jahre lang Harrys Zuhause gewesen. Jetzt, nachdem er so viele Monate abwesend gewesen war, hatte er nicht mehr das Gefühl, als gehörte er hierher. Er hatte sich bereits von diesem Raum verabschiedet. Er hatte nicht erwartet, dass er zurückkehren würde.

Harry warf einen Blick auf seine Uhr. Es war fast Mittagsessenszeit, was bedeutete, dass er wahrscheinlich gute acht Stunden geschlafen hatte, und doch fühlte er sich nicht sonderlich ausgeruht. Die Sätze, die Hermine für ihn auf ein kleines Stück Pergament aufgeschrieben hatte, gingen ihm immer wieder durch den Kopf, als wären sie eine ständige Erinnerung an die gefürchtete Zeit dieses Tages, da er aufstehen und vor Hunderten von Leuten sprechen würde. Heute gedenken wir der Tapferen.

Er hatte sich entschieden, sich von Kopf bis Fuß in Schwarz zu kleiden statt des Festumhangs, den die anderen Schüler mit Sicherheit tragen würden. Es schien ihm angemessener, da er ein ganzes Jahr lang nicht in Hogwarts gewesen war. Er hatte Kreacher zum Grimmauldplatz geschickt, um ihm etwas Kleidung zu holen, und der alte Elf war mit einem Set schwarzer Roben zurückgekehrt, die einst Sirius gehört hatten. Als er den letzten Knopf seines Shirts zuknöpfte, gab er sorgsam darauf Acht, die Wunde an seinem Hals zu verbergen, die er von dem Horkrux zurückbehalten hatte, der ihn beinahe erdrosselt hätte. Seine Hände wiesen Zeichen von Verbrennungen auf und Hermine hatte darauf bestanden, dass er jeden Tag Diptam auftragen sollte, bis die Haut vollständig geheilt war. Er hatte ebenfalls ein Mal auf seiner Brust entdeckt, direkt in der Mitte, wo Voldemorts Tötungsfluch ihn getroffen hatte. Es war ein wenig wund bei Berührung, schien aber ansonsten nur eine geringfügige Verletzung zu sein. Der verblasste schwarze Fleck wirkte recht bedeutungslos neben der runden, roh aussehenden Wunde, die das Medaillon hinterlassen hatte. Alles in allem konnte er sich glücklich schätzen, kein Körperglied oder Ohr verloren zu haben wie George. Mit ein paar zusätzlichen Narben konnte er leben.

Harry blickte sich um, um sicherzustellen, dass er nichts hinterließ. Der Tarnumhang und der Elderstab waren sorgfältig in Hermines mit Perlen verzierter Handtasche versteckt, so dass er sie nicht mit sich herumtragen musste. Nach der Beerdigung plante er seine Habseligkeiten alle zum Grimmauldplatz zu bringen. Er hatte sich entschlossen, sich in Sirius' Haus niederzulassen. Es war jetzt schließlich sein Haus, Harrys Haus. Kreacher hatte sich voller Respekt dazu bereiterklärt, die Residenz auf seine Ankunft vorzubereiten. Der Elf wirkte glücklich, nach Hause zu gehen. Harry hatte einer Rückkehr zum Fuchsbau jedoch nicht entfliehen können, da er Mrs. Weasley schon das Versprechen gegeben hatte. Er konnte die Einladung natürlich abschlagen, doch er würde versuchen, dort so kurz wie möglich zu bleiben. Er hatte Dinge zu tun und Orte aufzusuchen und er wollte uneingeschränkt in seinem Kommen und Gehen sein. Doch all das würde bis nach der Beerdigung warten müssen.

Mit einem Satz in seinem Bauch realisierte Harry, dass er seine Zeilen vergessen hatte, schon wieder. Hastig zog er das Stück Pergament hervor, das er in die innere Tasche seines Umhangs gesteckt hatte, und las abermals Hermines winzige Handschrift.

Heute gedenken wir der Tapferen. Obwohl ihre Herzen schwer von Verlusten waren, obwohl die Lage aussichtslos scheinen mochte, haben sie gekämpft, nicht weil es ihnen befohlen worden war, sondern weil sie sich dazu entschlossen hatten. Sie kämpften gegen Unterdrückung an, weil sie an das Recht glaubten frei zu sein. Sie kämpften gegen Herrschaft an, weil sie glaubten, dass sie alle gleich sind. Sie kämpften gegen Grausamkeit an, weil sie glaubten, dass ihnen ein Leben ohne Angst oder Schmerz oder Schrecken zusteht. Heute ehren wir sie für ihren Mut, ihre Entschlossenheit und ihre Selbstaufopferung. Sie haben unzähligen zukünftigen Generationen Hoffnung und Frieden gebracht. Ade.

Harry faltete das Papier zusammen und versuchte, die Rede in seinem Kopf aufzusagen, während er durch den leeren Gryffindor- Gemeinschaftsraum ging. Heute gedenken wir der Tapferen. Warum mussten so viele Menschen sterben?

„Harry!", rief jemand laut, als das Porträt der Fetten Dame sich hinter ihm schloss.

Es war Hermine, die in schnellem Tempo die Treppe hochstieg. Sie schlang ihre Arme um seinen Hals, sobald sie ihn erreicht hatte. Harry war froh zu sehen, dass sie auch keine Hogwarts- Roben trug, sondern ein langes schwarzes Kleid. Ihr Haar war elegant zusammengebunden und lose Strähnen lockten sich um ihr Gesicht. Harry bemerkte, wie viel älter sie wirkte, und fragte sich vage, ob es das Resultat der Mühen im letzten Jahr war oder ob es einfach der natürliche Lauf der Dinge war.

„Hast du gut geschlafen? Ich meine, hast du überhaupt geschlafen?", erkundigte sie sich, während sie in sein Gesicht blickte. „Du siehst furchtbar aus."

„Ich kann mir diese Rede nicht merken", erwiderte er, ihren Kommentar ignorierend. Er zeigte ihr das gefaltete Stück Papier in seiner Hand.

„Oh", machte sie. Sie nahm das Pergament entgegen und las es rasch durch. „Tja, weißt du, es ist mehr wie ein Leitfaden. Du solltest auch ein bisschen improvisieren, wie wir gesagt haben. Füge etwas Eigenes dazu."

Harry zuckte die Achseln. Egal wie viele Male er es hin- und herdrehte, waren die einzigen Worte, die ihm in den Sinn kamen „Es tut mir leid".

„Wofür in Merlins Namen solltest du dich entschuldigen?", hatte Ron ihn mit einem Tonfall angeschnauzt, der Hermines hätte sein können. „Du hast Du- weißt- schon- wen zerstört! Du hast ihm den Garaus gemacht! Wie kann es dir leid tun?"

„Ich bin sicher, dass Harry leid tut, dass all die Menschen sterben mussten, Ron", hatte Hermine erwidert und Harry damit aus der Seele gesprochen.

Er hatte einfach das Gefühl, wenn er ein wenig schlauer gewesen wäre, wenn er Dumbledore die ganzen richtigen Fragen im richtigen Moment gestellt hätte, wenn er früher gehandelt hätte, wenn er nicht so viel Zeit damit verschwendet hätte sich zu verstecken, dann wäre Fred vielleicht noch am Leben. Doch er konnte sich nicht dazu bringen, Ron das zu sagen, zumindest noch nicht.

„Aber Ron hat Recht", hatte Hermine einmal hinzugefügt. „Entschuldige dich nicht. Sei einfach du selbst. Und schlaf etwas."

Doch die Zeit der Beerdigung war schon festgesetzt worden und deshalb war der Schlaf, den Harry bekommen hatte, auf ein Minimum reduziert.

Hermine faltete das Papier gedankenverloren und reichte es wieder an Harry zurück. Er konnte in ihrem blassen Gesicht erkennen, dass auch sie sich nicht viel ausgeruht hatte.

„Deine Hände", sagte sie. Sie nahm seine Handgelenke und drehte sie herum, damit sie einen Blick auf seine Handflächen werfen konnte.

Harry stellte fest, dass ihre Hände vollständig geheilt waren, obwohl sie sich die gleiche Art von Verbrennungen zugezogen hatte.

„Du solltest das Madam Pomfrey zeigen", sagte sie besorgt.

Er entzog ihr seine Hand und versuchte, ihrem Blick auszuweichen. Der Krankenflügel war voller Leute, Schüler und Erwachsene gleichermaßen, die zu schwer verwundet waren, um ins St. Mungos verlagert zu werden. Das war sicherlich kein Ort, an dem er im Moment stecken wollte.

„Mir geht es gut", sagte er leise.

Hermine machte gerade Anstalten, etwas zu erwidern, wurde aber von dem Geräusch vieler Fußpaare, die die Treppe heraufeilten, unterbrochen. Harry sah hinter ihrem Rücken Ron, Bill und Charlie Weasley, die lange schwarze Umhänge mit einer goldenen Anstecknadel an ihrer linken Schulter trugen. Sie nahmen alle zwei Stufen auf einmal.

„Hi, Kumpel", begrüßte Ron ihn. Seine Stimme klang nicht gerade fröhlich. „Dad meint, dass du eine Eskorte zum See gebrauchen könntest."

„Es sind mehr Leute gekommen, als wir erwartet haben", erklärte Bill, während sie die Treppe hinuntergingen.

Harry bemerkte, dass Ron sich zwischen ihn und Hermine positioniert hatte und jetzt einen Arm um ihre Hüfte gelegt hatte.

„Was tragt ihr da?", fragte Harry beiläufig und deutete auf Rons Anstecknadel.

„Du hast auch eine", sagte Ron und gab Harry einen goldenen Stecker.

Die Brosche in Harrys Hand, nicht größer als eine Galleone, war ein elegant geformtes W, das in Gold geschmiedet und mit kleinen roten Edelsteinen verziert war.

„Fred und George hatten einen ganzen Stapel silberner Anstecker für den Laden gemacht. Sie spucken grobe Kommentare aus, wenn man sie vor einem Spiegel trägt. Aber diese hier", sagte Bill und strich liebevoll über seine Brosche, „sind auf Fred und Georges Wunsch in Gold gefasst. Sie fanden, wir sollten ein Familienwappen haben. George hat sie uns heute morgen gegeben."

Harry musste nicht in Bills Gesicht sehen, um seine Trauer zu spüren. Der Schmerz, den das Fehlen von Fred unter den Weasley- Brüdern hervorrief, war greifbar. Da war ein neues und ernstes Auftreten in ihnen allen, traurig und doch stolz. Harry war es fast unangenehm, zwischen ihnen zu laufen, wie ein Eindringling, trotzdem hatten sie ihm eine ihrer Weasley- Wappen gegeben. Nicht eine ihrer Wappen, Freds Wappen, dachte er voller Bitterkeit.

„Hört zu, Leute, ich kann das nicht annehmen. Das gehört Fred. Ich kann einfach nicht…"

„Es gehört nicht Fred, Kumpel", sagte Ron. Er legte eine Hand auf seine Schulter. „Da war auch eins für dich."

Plötzlich wurde Harrys Kehle sehr eng und er brachte kein Wort heraus.

„Wollen wir gehen?", sagte Charlie.

Harry hielt die Brosche den ganzen Weg über in der Hand, als wäre sie sehr zart und könnte jeden Moment zerbrechen. Als er aufschaute, sah er, dass Ron und Hermine die Hände verschränkt hatten. Sie schienen in dem gleißenden Morgenlicht gebadet und für einen Augenblick konnte er seinen Blick nicht von ihnen abwenden. Er spürte den plötzlichen Drang, nach Ginny zu suchen. Er hatte noch nicht mit ihr gesprochen. Ron hatte gesagt, dass Mrs. Weasley Ginny nicht aus den Augen ließ. Sie würde ihn finden, das wusste er, wahrscheinlich eher früher als spät. Jetzt hatten sie Zeit.

Während sie die Korridore hinuntergingen, wurde Harry sich mehr seiner Umgebung bewusst. Er bemerkte zum ersten Mal das volle Ausmaß an Schäden, die das Schloss erlitten hatte. Fast alle Fenster waren zerbrochen, was breite Strahlen von Sonnenlicht ungehindert hereindringen ließ und die vielen zersplitterten Türen, zerstörten Bilderrahmen und zerrissenen Tapeten beleuchteten. An einigen Stellen war die Wand auseinandergesprengt und Steine über den Boden verstreut. Die Gänge waren verlassen, was Harry das merkwürdige Gefühl gab, dass er durch eine alte, heilige Ruine schritt. Als sie durch den Eingang zur Großen Halle gingen, sah Harry erleichtert, dass die Decke wieder den Himmel draußen widerspiegelte, blau mit winzigen weißen Wölkchen, und ihm wurde bei dem Anblick etwas leichter ums Herz. Er glaubte sich daran zu erinnern, wie die Decke irgendwann während seines letzten Duells mit Voldemort zu einer roten Feuerbrunst zerbarst war, doch er war sich nicht sicher. Er war auf das konzentriert gewesen, was er in dem Augenblick getan hatte, und die Details seiner Umgebung zu jener Zeit waren ein wenig verschwommen. Er war froh, dass wenigstens eins der besten Wahrzeichen von Hogwarts gerettet worden war.

„Meine Güte! Ich hätte nicht gedacht, dass so viele Leute kommen würden."

Harry trat hinter Hermine und verstand auf der Stelle die plötzliche Nervosität in ihrer Stimme. Sie waren durch die Eingangstür getreten und fanden sich einer Menge von mindestens tausend Menschen gegenüber. Sie waren alle in kleinen Gruppen versammelt und unterhielten sich in gedämpften Stimmen. Die meisten von ihnen trugen schwarz oder feierliche Roben. Weit vorn am Rand des Schwarzen Sees stand ein hölzernes Konstrukt, das Harry an dasjenige beim Trimagischen Turnier erinnerte. Also fand die Beerdigung in der Nähe des Schwarzen Sees statt wie Dumbledores.

„Meine Fresse!", keuchte Ron. „Sieht so aus, als wäre das gesamte Zaubereiministerium hier. Und schaut, Beauxbatons!"

Tatsächlich waren die Kutsche und ihre fünf prächtigen geflügelten Pferde an einem schattigen Fleck nahe Hagrids Hütte zu sehen. Schüler in blauen Roben liefen paarweise zum Schwarzen See, Madam Maxime vorneweg.

„Aber wie sollen wir durchkommen?", raunte Charlie Bill zu. Er warf einen verstohlenen Blick zu Harry.

„Ich glaube nicht, dass ich in Gefahr bin", schaltete Harry sich ein.

„Einige Leute könnten immer noch unter dem Imperius stehen, Harry", sagte Hermine leise. „Es sind noch Todesser auf freiem Fuß."

„Aber nicht mehr lange", erwiderte Ron wütend.

Charlie tätschelte Ron bedeutungsvoll auf den Rücken.

„Wir sind schon spät dran. Hier, Harry, nimm das."

Hermine drückte ihm den Tarnumhang in die Arme. Für einen flüchtigen Moment widerstrebte es ihm, ihn überzuziehen. Er wollte sich nicht mehr verstecken, aber die Aussicht, durch all diese tuschelnden Leute zu gehen und ihren Blicken ausweichen zu müssen, gab ihm einen guten Anreiz, den Tarnumhang anzulegen.

Bill und Charlie gingen voran und Harry konnte durch den durchsichtigen Stoff des Umhangs sehen, dass sie ihre Zauberstäbe an ihren Seiten gezückt hatten. Ron und Hermine folgten mit Harry. Ron hatte beschützerisch eine Hand um Hermines Schultern gelegt und Harry konnte sehen, dass er ebenfalls seinen Zauberstab bereithielt. Langsam bahnten sie sich einen Weg durch die Menge, die sich vor ihnen teilte, so dass Bill und Charlie nicht einmal darum bitten mussten, dass ihnen der Weg freigegeben wurde. Vertraute Gesichter tauchten den ganzen Weg lang auf. Ron und Hermine hielten einige Male an, um jemandem die Hand zu schütteln. Je näher sie dem Schwarzen See kamen, desto mehr Menschen klatschten bei ihrem Durchtritt, um ihrer Bewunderung Ausdruck zu verleihen. Bill und Charlie senkten ihre Wachsamkeit nicht, doch Ron schien sich auf der Hälfte des Weges zu entspannen, als Viktor Krum auf sie zutrat. Er näherte sich mit einer Handvoll Durmstrang- Schülern im Schlepptau und für eine Sekunde standen sich Krum und Ron Weasley gegenüber. Dann nahm Krum Ron plötzlich an den Schultern und zog ihn in eine brüderliche Umarmung, worauf die anderen Durmstrang- Schüler alle in Beifall ausbrachen und laut lachten.

„Wo ist Harry?", raunte Krum in Hermines Ohr.

„Keine Sorge, er ist hier", versicherte Hermine ihm, während Ron sie von Krum weg zu einer Reihe von Sitzen zog.

Ron und Hermines Ankunft am Rand des Sees wurde mit einem weiteren Beifallsausbruch von einem Herzstück aus Hogwarts- Schülern begrüßt, die größtenteils DA- Mitglieder sowie ihre Familien waren. An diesem Punkt hatte Harry wirklich das Gefühl, dass er den Umhang abnehmen sollte, vor allem da er immer wieder angerempelt wurde. Er stupste Hermine gegen die Schulter.

„Nein, noch nicht", flüsterte sie sofort. „Es gehen Gerüchte um… Bleib versteckt."

Dann wurde er fast von Neville umgerannt, der gerade angekommen war und nun Hermine sehr fest umarmte. Rons Aufmerksamkeit war ebenfalls beansprucht. Er steckte in einem langen Händeschütteln mit Professor Slughorn. Da seine Freunde nicht mit ihm reden konnten, entschloss Harry sich, stattdessen zu dem Konstrukt zu gehen, das er vom Schloss aus gesehen hatte. Es war eine kleine hölzerne Plattform, die mit schwarzen Vorhängen umhüllt waren. Sie war nicht sehr breit, aber hoch genug, dass jeder eine gute Sicht auf den Redner hatte. Harry bahnte sich einen Weg darauf zu in der Hoffnung, etwas Privatsphäre zu bekommen, um seine Rede zu üben. Er zog den Tarnumhang ab, sobald er sicher war, dass er von der Menge nicht gesehen werden konnte. Hermines Kommentar schien seine Sinne geweckt zu haben. Was für Gerüchte? Warum hatte man ihm nicht bescheid gesagt? Wer, der noch bei Sinnen war, würde an einem Tag wie diesem irgendeine Aktion planen? Der Gedanke allein war abscheulich. Und zu welchem Zweck? Die Herrschaft des Dunklen Lords war vorüber, oder nicht?

Harry grübelte gerade über die sogenannten Gerüchte nach, als er aus heiterem Himmel realisierte, dass er die Weasley- Brosche beim Abziehen des Umhangs fallen gelassen hatte. Hastig und mit einem Satz im Magens faltete er das schwere Kleidungsstück auseinander und sah erleichtert, dass das goldene Wappen auf den Boden gefallen war. Erst als er sich hinkniete, um die Brosche aufzuheben, bemerkte er, worauf er stand. Unter seinen Füßen war ein Beet von kleinen weißen Blumen, die sich so weit zu erstrecken schienen, wie das Auge zu jeder Seite der Bühne reichte. Und in der Mitte des weißen Feldes lagen etwa fünfzig schwarze Särge, Reihe über Reihe, wie kleine Boote auf einem Ozean aus Licht.

Harry blieb wie angewurzelt stehen, atemlos. Er wusste die Anzahl, doch erst jetzt realisierte er, wie viele genau gestorben waren. Der Knoten in seiner Brust schien sich zu verengen. Wie viele von ihnen waren Menschen, die er gekannt hatte? Er hatte die Liste von Namen gesehen, aber plötzlich wollten sie ihm alle nicht mehr einfallen. Wie konnte er sich nicht an ihre Namen erinnern? Warum war sein Gehirn plötzlich so taub geworden? Das Summen der Menge hinter der Bühne schien zu verstummen. Es gab nur noch ihn und fünfzig Särge. Zweiundfünfzig, dachte er. Jenseits des Blumenfelds in der Nähe der Bäume konnte er Dumbledores Marmorgrab sehen. Dumbledores zählt als eins und Dobbys Grab im Shell Cottage auch. Das macht zweiundfünfzig. Und als er begann, die Gräber hinzuzufügen, fielen ihm andere Namen ein. Cedric, Sirius, Moody, Hedwig, Wurmschwanz. Wie viele andere noch? Wie viele waren wegen eines einzigen Zauberers gestorben?

Ein einziger Zauberer? Voldemort? Ist ihm alle Schuld zuzuschreiben? Was ist mit dem Jungen, der lebte? Warum zur Hölle hast du so lange gebraucht, Auserwählter?

„Harry?"

Hermines leise Stimme schien weit entfernt, obwohl sie direkt neben ihm stand. Harry schüttelte den Kopf in dem Versuch, die andere fragende Stimme zum Schweigen zu bringen. Es war sein Gewissen, das mit ihm sprach, und er würde sich ein andermal damit befassen müssen. Er rollte den Tarnumhang zusammen und reichte ihn Hermine, doch seine bebenden Hände entgingen ihr nicht.

„Es ist alles in Ordnung, Harry", flüsterte Hermine sachte. „Es ist fast vorbei. In ein paar Tagen wird es nur noch…"

„Eine Erinnerung sein?", sagte Harry abrupt, den Satz für sie beendend. „Ich bezweifle, dass die Weasleys der gleichen Meinung sind."

Hermine wollte gerade etwas erwidern, als sie von der Ankunft von Kingsley Shacklebolt, dem neu ernannten Zaubereiminister, unterbrochen wurden. Ein wenig halbherzig trat Hermine ein paar Schritte zurück, damit Kingsley Harry die Hand schütteln konnte.

„Gut gemacht, Potter, gut gemacht", sagte er warm. „Dumbledore wäre sehr stolz."

Einen Augenblick später stieg Kingsley die Stufen zu der Plattform hoch und die letzten murmelnden Stimmen verstummten. Harry ging ein paar Schritte zu dem schwarzen Vorhang, um zu sehen, ob er vertraute Gesichter erspähen konnte. Ihm war bewusst, dass Hermine ihn halb beobachtete und halb Kingsleys Rede lauschte.

Ron hatte sich zu all seinen Brüdern, außer Fred, in die erste Reihe gesetzt. Ginny war ebenfalls dort, am Ende der Reihe. George lehnte sich an ihre Schulter und sie strich in einer mütterlichen Art und Weise über sein Haar. Seine Augen waren geschlossen und Tränen strömten sein Gesicht herunter wie Regentropfen. Harry verstand plötzlich, warum Ginnys Mutter sie gebraucht hatte. Nach Fred war sie George am nächsten. Und alles, das Harry jetzt wollte, war bei ihr zu sitzen. Er wollte diesen Augenblick mit ihr teilen, fern von der zentralen Bühne, fern von den Blicken und der überwältigenden Last von fünfzig Särgen auf seinem Gewissen.

„Ich will das nicht tun", sagte er wahrheitsgemäß zu Hermine. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll."

„Das macht nichts, Harry", erwiderte sie sachte. „Sei einfach du selbst."

Sie küsste ihn sanft auf die Wange und verschwand hinter dem schwarzen Vorhang.

Kingsley redete und Harry las abermals die Zeilen auf dem Stück Pergament. Sein Hals fühlte sich trocken an. Der Knoten in seiner Brust drückte ihm schmerzhaft auf die Lungen. Er fühlte sich außer Atem, fast betäubt. Als er hörte, wie Kingsley seinen Namen rief, war es durch einen Nebel hindurch. Auf der Treppe realisierte er, dass er vergessen hatte, die Weasley- Brosche anzustecken. Er holte es schnell nach, den einen Fuß schon auf der letzten Stufe.

„Geht es dir gut, Harry?", erkundigte Kingsley sich. Er runzelte die Stirn. „Du siehst so aus, als wäre dir schlecht."

Harry brachte ein schwaches „Mit geht es gut" hervor und Kingsley setzte sich auf den einen Stuhl, der in die Ecke der Plattform gestellt worden war. Harry hatte gerade bestürzt bemerkt, dass er den Großteil der Rede vergessen hatte. Da war etwas mit Aufopferung und Hoffnung für zukünftige Generationen gewesen.

„Heute", begann er. Seine Stimme war zittrig und schien nicht einmal die erste Reihe zu erreichen.

Aus dem Augenwinkel sah er, wie Kingsley geräuschlos an ihn herantrat. „Zeige mit deinem Zauberstab auf deinen Hals und sage Sonorus", raunte er Harry zu. „Und hole vorher tief Luft."

Harry tat wie geheißen. Ihm wurde mehr und mehr bewusst, dass er am ganzen Körper zitterte, und hoffte, dass niemand anderes es bemerkt hatte.

„Heute", wiederholte er. Diesmal wurde seine Stimme so weit getragen, dass er ein leises Echo zurückhallen hörte, als der Klang die Oberfläche des Sees traf. Er holte noch ein Mal tief Luft. „Heute gedenken wir…"

Doch er konnte es nicht über die Lippen bringen. Aus seiner Kehle kam kein Wort. Er wusste, dass seine Augen mit Tränen gefüllt waren. Er konnte diese Rede nicht halten. Sie entsprach nicht seinen Gefühlen. Doch er hatte keine Worte, um auszudrücken, was er vermitteln wollte. In seinem Kopf waren nur Namen: Cedric, Sirius, Dumbledore, Moody, Hedwig, Wurmschwanz, Snape, Lupin, Tonks, Fred.

Dann plötzlich klatschte jemand. Und das Klatschen schwoll zu einem donnernden Applaus an. Und unter dem Beifall hörte er Stimmen, die er kannte. Sie riefen alle einstimmig seinen Namen und ermutigten ihn. Dann kam es, das, was er sagen wollte.

„Ich wünschte", begann er wieder und der Aufruhr legte sich auf der Stelle. „Ich wünschte, dass ich heute nicht hier wäre. Ich wünschte, dass ich an diesem wundervollen Sommertag nicht vor Ihnen stehen würde. Ich wünschte, dass wir alle woanders sein könnten, zu Hause bei unseren Lieben, nicht hier mit den leeren Sitzen und den Särgen und der Trauer. Zu viele sind gestorben."

Er hielt inne und ließ seinen Blick einen kurzen Moment lang auf Ginny ruhen. Er konnte Mrs. Weasley schluchzen hören. Doch jenseits der Sitzreihen waren Hunderte von Leuten versammelt. Sie waren alle von verschiedenen Ständen, verschiedenen Familienstämmen und verschiedenen Herkünften. Hauselfen, Goblins, Zentauren, Riesen, Zauberer, Muggle: sie waren alle aus einem Grund hier. Sie wollten es wissen. Sie wollten Bestätigung. Sie hatten das Gerücht gehört, die Geschichte, die Neuigkeiten, doch sie wollten es mit eigenen Ohren hören. Deshalb gab es keine bessere Zeit, die Aufmerksamkeit aller zu erwecken. Sie mussten verstehen, dass Voldemort nie mehr zurückkehren würde. Und sie mussten wissen, was sie tun konnten, um den Aufstieg eines weiteren Dunklen Lords zu verhindern.

„Und heute müssen wir uns selbst fragen, warum", fuhr er heftig fort. Er zwang sich, gerade zu stehen. „Die Dunklen Künste? Dunkle Magie allein kann nicht die Schuld für all diese Todesfälle haben."

Die Menge war still.

„Mein Sohn!", rief plötzlich jemand. „Mein Sohn ist gestorben! Den Tötungsfluch direkt durch die Brust! Die Dunklen Künste sollten allesamt verboten werden!"

Es gab Getuschel und Genicke, doch Harry ignorierte es. Er rieb sich seine Brust an der Stelle, wo er den zweiten Tötungsfluch erhalten hatte.

„Sehen Sie dieses Kind?", sagte er plötzlich und deutete mit seinem Finger auf einen kleinen Jungen in der dritten Reihe. „Sein Name ist Dennis Creevey. Sein Bruder ist gestorben. Und doch konnte Dennis nicht genug Hass aufbringen, um einen Tötungsfluch hervorzubringen. Nicht einmal, um den Mörder seines Bruders zu töten. Denn, sehen Sie, um jemanden zu töten, muss man es wollen. Und Dennis will niemanden töten."

Er sah, wie Dennis Creeveys Mutter ihren Sohn in die Arme schloss.

„Warum waren die Todesser so gut darin, Menschen umzubringen?"

Die Frage war fast unhörbar und Harry konnte den Sprecher nicht sehen, deshalb wiederholte Harry sie für alle. Er konnte sehen, dass Menschen sich nun auf ihren Sitzen bewegten, ihre Nachbarn fragten und antworteten.

„Sie dachten, dass sie das Richtige tun", sagte eine Stimme nahe der Plattform. Harry blickte hinunter und sah, dass es Minerva McGonagall war. Sie saß sehr nahe an der hölzernen Bühne und war umgeben von anderen Hogwarts- Lehrern.

„Genau, Professor", stimmte Harry zu. „Sie dachten, dass sie das Richtige tun. Sie hatten ein höheres Ziel. Es war die alte Fehde von der Reinheit des Blutes. Das ist der Grund, weshalb sie ihn anbeteten. Es war das Ziel, das er versprochen hatte. Und sie folgten ihm ohne Zweifel, weil er alles war, an das sie glaubten, der Reinste von allen, der Erbe von Salazar Slytherin."

Seine Worte schienen einen allgemeinen Aufruhr hervorzurufen. Leute redeten mehr und lauter. Selbst mit dem Sonorus- Zauber wusste Harry, dass er aus vollem Halse brüllen müsste, um gehört zu werden. Doch das war kein Problem. Er konnte es schaffen. Seine Kehle fühlte sich nicht mehr so eng an.

„Dann ist es also wahr", sagte Slughorn und Harry konnte den Schock in seiner Stimme hören.

„Er war der Erbe von Slytherin", sagte Harry in einem nüchternen Tonfall. „Aber er war kein Reinblüter. Er war zur Hälfte Muggle. Und sein Name war Tom Riddle, wie sein Muggle- Vater."

Die Menge schien nach Luft zu schnappen und dann hoben sich die unzähligen Stimmen auf einmal. Es war, was er hatte erreichen wollen. Die Leute vor ihm realisierten, dass sie hinters Licht geführt worden waren. Der mächtigste Zauberer aller Zeiten war kein Reinblüter gewesen. Zum ersten Mal in fünfzig Jahren wurde Voldemorts Überlegenheit in Frage gestellt und das Ergebnis war ein Tumult, der mit jeder Sekunde stärker wurde.

„Ich erinnere mich an Riddle", sagte ein sehr alter Mann, der aussah, als wache er gerade auf. „Er hat eine Auszeichnung für Verdienste an der Schule gewonnen. Er war auch Vertrauensschüler. Willst du sagen…? Der Riddle?"

„Kein Reinblüter?", rief Cornelius Fudge. Er saß fern von den Hogwarts- Lehrern bei ein paar anderen Ministeriumsbeamten. Harry glaubte zu sehen, dass der Ex- Zaubereiminister etwas wie „absurd" vor sich hin murmelte.

„Aber warum?", kreischte eine Frau, den Tränen nahe. „Was wollte er damit beweisen?"

„Er wollte zeigen, wie außergewöhnlich er war", antwortete Harry. „Er wollte eine neue Ordnung erschaffen. Er wollte diese Ordnung sein. Er wollte Macht für sich selbst. Jeder andere Grund war nichtig für ihn. Seine eigene Großartigkeit war das einzige, das ihm jemals etwas bedeutet hat."

„Willst du uns damit sagen, dass dieser Krieg sinnlos war?", brüllte eine zornige Stimme. „Willst du sagen, dass unsere Kinder für irgendeinen machthungrigen Narren gestorben sind?"

„Natürlich will er das nicht sagen, Sie bescheuerter Depp!", rief Ron zurück. „Haben Sie ihm nicht zugehört?"

„Ich schätze, was ich versuche zu sagen", fuhr Harry fort, „ist, dass Lord Voldemort ein ausgedachter Name ist, der Angst einflößen sollte, aber dahinter war er nur ein Mann. Sehen Sie, Tom Riddle hat als nichts anderes angefangen, als was jeder von uns heute ist. Er war ein Junge, der zur Schule gegangen ist, der eifrig gelernt hat und der für seine Bemühungen belohnt worden ist. Er hatte einen Plan, ein Ziel, das er sich gesetzt hat, und danach gestrebt. Aber obwohl er sehr gerissen war, hat er nicht gesehen, was das einzige war, das er wirklich gebraucht hätte. Und genau diese eine Sache macht uns hier mächtiger als er jemals gewesen ist."

Und als er das sagte, sah er Ginny an, dann Ron und Hermine, und sie strahlten ihn alle an.

„L'amour", sagte Fleur mit den Armen um Bills Hals.

„Die größte Magie überhaupt", stimmte Mr. Weasley zu. Er küsste seine Frau auf die Stirn.

„Wir sind heute hier, weil jeder von uns die Macht hat, selbstlos zu lieben. Diejenigen, die fort sind, haben gekämpft, um die zu beschützen, die sie liebten. Woran wir uns erinnern müssen, ist nicht, wie sie gestorben sind, sondern wie sie sich zu leben entschlossen haben. Sie sind die wahren Helden. Und wenn Sie jetzt alle aufstehen könnten, würde es wahrhaftig zeigen, wie stolz wir sind, sie unsere Familie und Freunde nennen zu dürfen."

Er hatte seinen Satz noch nicht beendet, da ertönte ein Geräusch wie ein Donnergrollen, als die Menge vor Harry Potter gleichzeitig aufstand. Einige Menschen weinten; andere umarmten ihre Verwandten und Nachbarn. Alle sahen zueinander und teilten ihre Trauer und ihr Glück. Der Augenblick schien in der Zeit erstarrt, als wäre es ein Refrain, der niemals endete. Dann glaubte Harry eine leise Musik zu hören, wie der Gesang eines Phönix', doch als er zum Himmel aufschaute, sah er nur eine Herde von Thestralen durch einen Tränenschleier hindurch.


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