(Alp)Traumhochzeit

Lisa saß auf der Fensterbank in ihrem alten Zimmer in Göberitz. Als hätte sich nichts verändert sah sie aus dem Fenster und träumte vor sich hin. Die sanften Klänge von Ravels Bolero drangen aus den Kopfhörern ihres MP3-Players. Verschämt machte Lisa sich am Lautstärkeregler zu schaffen. Das war doch das Lied, das David für ihre erste gemeinsame Nacht ausgesucht hatte. Und auch jetzt, sechs Monate nach ihrer überstürzten Heirat, liebten sie sich immer noch oft zum Rhythmus dieses Liedes. Bei dem Gedanken daran, wie David ihr zu verstehen gab, dass er sie begehrte und wollte, wurde Lisa rot. Wie oft hatte sie einfach nur an Deck des Segelbootes und später im Hauptzimmer ihres Bungalows in Tasmanien gestanden, als plötzlich dieses Lied erklang? Jedes Mal hatte es nur eine Bedeutung: Sex mit David. Sex mit ihrem Ehemann. Nein, Liebe machen bedeutete es. Irgendwie hatte es etwas von Pavlov und seinen Hunden. Es war ein Ton zu hören und sie war sofort willig. Lisa lachte in sich hinein. Bei anderen Paaren war das ganz gewiss genauso. Es war ja auch nichts Schlimmes dabei. Sie liebte David und David liebte sie. Er war ein gut aussehender Mann, ihr Traummann eben und bald würde er auch noch Vater. Lisa strich sich über ihren Bauch. Es war noch nichts zu erkennen, rein gar nichts, aber im Krankenhaus hatte man ihr die Schwangerschaft bestätigt. Sie hätte ja glatt nichts gemerkt, wenn Bruno und Hannah sie nicht gezwungen hätten, sich untersuchen zu lassen. Es war alles perfekt: Sie war glücklich verheiratet mit dem besten Mann aller Zeiten, die Firma lief rund, ihre Familie unterstützte sie und bald würde sie Mutter werden. Es war fast perfekt. Mit einer unbedachten Äußerung hatte Hannah jemanden ins Spiel gebracht, den sie nun schon sechs Monate lang verdrängte: Rokko. Alles hatte in ihr revoltiert, als Hannah ihn als Fehler bezeichnet hatte, aber sie hatte sich nicht getraut zu widersprechen. Sie wäre vermutlich gar nicht in der Lage zu formulieren, welche Rolle Rokko in ihrem Leben gespielt hatte. Er war ganz sicher kein Fehler gewesen und es war auch kein Fehler gewesen, David zu heiraten. Es war nur ein Fehler gewesen, Rokko so stehen zu lassen. Den Schmerz hätte sie ihm ganz sicher nicht ersparen können, aber sie hatte eine Chance, ehrlich mit ihm zu sein, nach der anderen ausgeschlagen, nur um ihm im wohl ungünstigsten Augenblick den Verlobungsring seiner Oma zurückzugeben. „Ich wünsche euch viel Glück", hatte er mit fester Stimme gesagt, aber in seinen Augen hatte sie lesen können, dass sie ihm das Herz herausgerissen und zu Hackfleisch verarbeitet hatte. Lisa lächelte sich zu. Diese Gedankenspirale war so typisch für sie, dabei half sie niemanden – weder ihr noch Rokko. Er war wie vom Erdboden verschluckt – keine Artikel von oder über ihn, keine Kampagnen von ihm, seine Wohnung war leer. Sie war vorbeigegangen, gleich am Tag nach ihrer Ankunft. Sie hatte Kerima besucht und die Seidels und auf dem Weg zur S-Bahn war sie bei Rokko vorbeigegangen. Ob sie den Mut gehabt hätte, zu klingeln und ihn um ein Gespräch zu bitten, wusste sie nicht, aber seine Wohnung leer vorzufinden, machte ihr Sorgen. Ihm war doch hoffentlich nichts zugestoßen! „Lisa, Mäuschen", steckte Helga den Kopf in das Zimmer ihrer Tochter. „Hast du den David schon erreicht?", wollte sie auf das Telefon zu Lisas Füßen deutend wissen. „Nein, noch nicht", gab Lisa offen zu. „Ich habe es aber auch erst ein Mal versucht. Die Verbindung war wirklich schlecht. Ich habe nachgedacht und dabei die Zeit vergessen. Ich probiere es gleich noch einmal", versicherte sie ihrer Mutter.

„David, sitzt du? Nein, setz dich, bitte. Es ist wichtig", kicherte Lisa wie eine Pubertierende in das Telefon hinein. „Sitzt du jetzt? David, mir war doch immer so schlecht, ja? Nein, es ist nichts Ernstes… Wobei, doch, schon. David, wir werden Eltern." Selig grinste Lisa den Telefonhörer an. „Ja, du hast richtig gehört, wir werden Eltern. Nein, du musst nicht herkommen… Oder… Doch, bitte, komm her, ja? So schnell du kannst", änderte Lisa plötzlich ihre Meinung. „Ja? David?", hakte sie nach, als die Verbindung immer schlechter wurde. „Ja, bitte, komm zu mir… zu uns nach Berlin, ganz schnell, ja?", bat Lisa ihren Ehemann, bevor die Leitung ganz zusammenbrach.