DARKNESS
Eine Deepi-Produktion.
Korrigiert mithilfe Kiavalous.
Ohne jedwede Rechte in den Charakteren.
Kapitel 1 – Decend the shades of night
Descend the shades of night...
Death shines her golden light...
Across a blackend sky...
By Machine Head
...
Der Himmel war wolkig und tiefgrau. Unermüdlich fiel der Regen, vernebelte die Sicht und spülte achtlos weggeworfenen Müll aus den Rinnsteinen in die Kanalisation. Zigarettenschachteln gesellten sich zum braunen Herbstlaub und verschwanden in der Dunkelheit. Es prasselte auf die schrägen Dächer, die Regentropfen rollten über weitgehend intakte Ziegel und sammelten sich in nur zu häufig angerosteten Regenrinnen. Der Wind blies ungemütlich durch die nassen Straßen und vertrieb damit sogar hart gesottene Fußgänger von den Gehwegen, damit diese somit ganz der Obhut des kalten Niederschlags überlassen waren.
Einzelne Neonreklamen blitzten durch den steten Regenfall, während die bereits aktivierte Straßenbeleuchtung kläglich Licht auf zugenagelte oder eingeschlagene Fenster warf.
Durch eines dieser zu Bruch gegangenen Fenster schlichen sich die Böen ein, ließen zerschlissene Gardinen wehen und daliegende, grau gewordene Abdecktücher, die vor langer Zeit über das Mobiliar geworfen wurden, unheimlich rascheln. Das Parkett unterhalb des Fensters war aufgequollen und wölbte sich. Das Licht der Straßenlaterne ließ die feuchte Stelle vor der Scheibe glitzern. Der Raum lag in Schatten gebadet und still da. Es war nur eine der vielen leer stehenden und verwahrlosten Wohnungen Nerimas. Außer Ratten, mittellosen Clochards und Kleinkriminellen fand sich niemand mehr in ihnen ein. Die Reichen würden schließlich niemals des Nachts ihre Fenster so ungeschützt lassen.
Wer weiß, welcher Schatten hineinblicken könnte.
„Hey aufwachen." Da war eine Stimme. „Aufwachen." Da war sie wieder. Aber warum sollte sie aufwachen? Es war doch so wunderbar hier, so gemütlich und ruhig. Vor allem aber so warm. Jemand schüttelte sie merklich. Unwillig versuchte sie ihren Arm wegzuziehen, ohne sich der Umarmung des Schlafes zu entziehen. Nochmals, diesmal fester bekam sie die Erschütterung zu spüren. Verzweifelt krallte sie sich an der heilsamen Benommenheit der Müdigkeit fest, doch lief diese ihr wie Sand durch die Hände. Weißes Licht spielte unter ihren Augenlidern, als sie diese zögerlich öffnete. Reflexartig schloss sie diese wieder. Das Licht war ungewohnt grell. War sie eingeschlafen?
Widerwillig hoben sich ihre Wimpern in die Höhe und enthüllten ihr ein gelbes Hemd. Eine Landschaft aus Falten bildete sich auf diesem. Fast so als würden Berge entstehen, nur um daraufhin zu vergehen. Erst dann bemerkte sie den Grund dafür. Sie wurde noch immer gerüttelt, wahrscheinlich vermutete der Besitzer des Kleidungsstücks, dass sie noch schlief. Sie tat ihm den Gefallen ihn vom Gegenteil zu überzeugen, gähnte herzhaft und richtete sich auf. Dabei machten sich ihre Arme schmerzhaft bemerkbar, auf denen sie ihren Kopf gebettet hatte. Das Schwarz im ruhigen Braun ihrer Iris fokussierte den Jugendlichen vor ihr. Sie schätzte ihn zwischen 14 und 16 Jahre. Auf seinem hageren Gesicht spross rege die Akne, was sich anhand der vielen roten Stellen leicht schließen ließ. Er trug sein braunes Haar kurz und eine mahagonifarbene Hornbrille. Das gelbe Hemd, das vorhin noch Gebirgsentstehung gespielt hatte, gab ihr seinen Namen preis, der in kleinen schwarzen Druckbuchstaben auf die linke Brusttasche gedruckt war. Itomo Tikaso. Er lächelte unsicher und kämpfte sichtlich mit der Aufgabe sie darum zu bitten, das Restaurant zu verlassen. Ihr Blick haftete sich auf den gelblichen Lichtkegel der Straßenlampe, die außerhalb einsam wachte. Sie konnte erkennen wie sich der Regen im Licht abzeichnete und seufzte. Das war ja wieder einmal typisch. Nun durfte sie auch noch die regnerische Nacht auf dem Weg zu ihrem Appartement durchqueren.
Ohne den nervös von einem Bein aufs andere tretenden Angestellten zu beachten, erhob sie sich vom dreibeinigen Barhocker, starrte grundlos nochmals auf den Tresen, der ihr als Unterlage gedient hatte und wandte sich in Richtung Ausgang. Der Boden der Gastronomie war mit nassen Schuhabdrücken gepflastert. Ihre Hand legte sich auf den geschwungenen Kunststoffgriff und zog die Glastür auf. Kalter Wind drängte sich ihr entgegen und Regentropfen sprangen ihr ins Gesicht. Gänsehaut bildete sich auf ihren Armen und sie zog ihren schwarzen Ledermantel enger. Es blies und zerrte an ihren Kleidern, jaulte und ließ sie frieren, kaum das sie aus dem Schutz des Restaurants herausgetreten war. Unweigerlich suchte sich der Regen seinen Weg in ihren Kragen und rollte ihr von dort aus den Rücken entlang, den kaum mehr als ein dünnes Top spärlich schützte.
„Verdammt! Verfluchter Dreck!", spie sie erbost und beschleunigte ihre Schrittgeschwindigkeit. Je eher sie aus diesem elenden Unwetter heraus wäre, desto besser. Eine Erkältung wäre das letzte, was sie jetzt noch bräuchte. Im Gewerbe lief es augenblicklich ohnehin nicht so gut. Des Nachts ließ sich kaum mehr Kundschaft blicken. Seit diesem ominösen Zeitungsartikel fürchteten sich die Leute das Haus zu verlassen, kaum dass die Sonne sich senkte. Welcher Trottel sich den Quatsch wohl wieder ausgedacht hatte? „Blutleere Leichen in dunkler Gasse gefunden", intonierte sie höhnisch. „Was für ein stupider Blödsinn." Und vor allem schadete es dem Geschäft. Das konnte sie sich erst gar nicht leisten. Reiko wollte Geld sehen. Und wenn Reiko etwas wollte, gab man es ihm besser. Denn wer das nicht tat, nun, der würde keine weitere Gelegenheit mehr haben sich zu wunderen, was dann wohl geschah. Sie hatte genügend Geschichten gehört, wusste zwar, dass ein Großteil dessen erstunken und erlogen war, nein, sein musste, doch hatte sie den Kern in etwa begriffen. Treibe keine Scherze mit einem Wolf, wenn du ein Lamm bist. Also würde sie ihm schön brav seinen Anteil zahlen, so dass er sie in Ruhe ließ. „Leichter gesagt als getan", murmelte sie missgestimmt und vergaß auf den Gehweg zu achten. Ihr linker hochhackiger Lederstiefel landete in einer tiefen Schmutzpfütze. Angewidert zog sie ihn heraus und beschimpfte die Wasserlache wüst. „Typisch, das war ja mal wieder so typisch!", proklamierte sie aufgebracht und setzte ihren Weg fort. Sie hatte noch ein gutes Stück vor sich. Es lagen noch einige dunkle Gassen vor ihr, doch daran wollte sie noch nicht denken.
Ukyo fuhr aus ihren Gedanken auf und stolperte unweigerlich rückwärts. Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube starrte sie in die Dunkelheit der Gasse, aus der das Scheppern gekommen war. Es war ein metallischer Laut gewesen. Hatte vielleicht eine Katze auf der Suche nach Nahrung einen Mülltonnendeckel herabgeschubst? Sie verharrte und lauschte aufmerksam ins Dunkel hinein. Sie vernahm nichts.
„Was mach' ich mich auch selbst verrückt?" Ukyo stieß einen verbrauchten Luftschwall aus. Sie hatte überhaupt nicht gemerkt, dass sie mit dem Atmen innegehalten hatte. Bedächtig strich sie sich eine nasse Strähne aus dem Gesicht und fixierte das sanfte Glühen und elektrische Summen der Straßenlampe. Einen Meter von ihr entfernt, lag der kleine gelbe Kreis, der beschienen wurde. Ob es dort wohl wärmer wäre? Amüsiert über diesen kindlichnaiven Gedanken schüttelte sie den Kopf. Regentropfen lösten sich aus dem voll gesogenen Pferdeschwanz und wirbelten umher.
Durch das sinnlose Sinnieren würde sie auch nicht trockener werden. Somit fegte sie sämtliche weiteren Überlegungen weg und setzte ihre Füße abermals in Bewegung. Die Kälte war bereits bis zu ihren Muskeln vorgedrungen, sie spürte die Widerwilligkeit, mit der sich ihre Beinmuskulatur kontrahierte und entspannte. Daheim würde sie ein angenehmes, relaxierendes Bad nehmen, ihrem Körper Erholung und Wärme zuführen und sich dann ins Bett kuscheln. Sie mochte zwar nicht viel besitzen, aber ihre Schlafstätte war perfekt. Zumindest für sie. Nicht zu hart oder weich, sondern genau richtig. Wenn sie öfters einmal in einem anderen Bett als dem ihren aufwachte, fühlte sie sich zumeist wie geprügelt und getreten. Ein Umstand, der dann doch eher weniger etwas mit der Auslebung der Phantasien ihrer Kundschaft zu tun hatte.
So müde war sie wohl selten gewesen. Sie fühlte die Trägheit mit jedem Schritt und hätte sich am Liebsten einfach auf dem Gehweg zusammengekauert und wäre eingeschlafen. Aber sie wollte sich ja nicht den Tod holen. Irgendwie erschien ihr diese Formulierung nun gar nicht so witzig. Sie musste wieder an den Zeitungsartikel denken. Seltsamerweise wirkte dieser nun nicht mehr so unglaubhaft und lächerlich wie zuvor. Lag das daran, dass sie nun einsam und alleine die leergefegten Straßen durchzog? Zaghaft warf sie einen kurzen Blick über die Schulter und wurde mit dem Anblick des niederfallenden Regens unter dem Licht der Straßenlaterne belohnt. Ob wohl wirklich blutleere Leichen gefunden worden waren? Wo war das noch einmal gewesen? Hier irgendwo in der Nähe oder doch am anderen Ende des Distrikts? Unbewusst ballte sie die blassen Hände zu Fäusten. Ein Kindheitstick, der sofort einsprang, sobald sie nervös war und nicht genau auf ihre Handlungen achtete.
War da nicht wieder ein Geräusch gewesen? Oder hatte sie es sich nur eingebildet?
„Meine dämliche Phantasie! Ich hätte Schriftstellerin werden sollen", lachte sie verhalten. Doch ihr war überhaupt nicht zum Lachen zumute. Wo zum Teufel hatten diese Morde noch einmal stattgefunden? Wenn sie sich doch nur erinnern könnte. Unmerklich beschleunigte sich ihr Schritt. Anfänglich noch ein leichter Trab, verfiel sie doch allmählich ins Joggen.
„Komm' schon Mädchen, komm' wieder auf den Boden. Es ist alles okay, du bildest dir das alles nur ein", versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Es klappte nicht. Immer mehr Schatten in den nunmehr vorbeihuschende Gassen schienen lebendig zu werden. Dünne Finger legten sich um die Häuserkanten und zogen ihre augenlosen, verzerrten Besitzer hervor. Ließen die Schrecken wie Moorleichen aus der Dunkelheit ins Licht treiben.
„Verdammt, verdammt mach' dich nicht irre. Bleib' ruhig, bleib' ruhig, zum Teufel noch mal!", sprach sie sich selbst mit gezwungener Ruhe zu.
„Du siehst da nichts. Da ist nichts. Es gibt keine Monster. Es gibt keine Gespenster. Es gibt keine blutleeren Leichen. Das war nur ein blöder Scherz von einem dieser überbezahlten Zeitungsredakteure, weil ihnen kein anderer Schutt eingefallen ist. Die wollen doch nur Sensationen haben und lügen einem ohnehin ins Gesicht. Nicht wahr? Nicht wahr?"
Inzwischen rannte sie. Ihre Absätze klackten über das nasse Pflaster. Das Geräusch hallte aus den dunklen Gassen und Nebenstraßen wieder. Ein ständiges Echo aus der Düsternis. Immer schneller, immer näher, immer lauter.
Ukyo weinte, ohne es zu merken. Sie registrierte nicht einmal, dass ihre Sicht verschwamm und die Welt um sie herum stetig unschärfer wurde. Sie achtete nicht darauf, wohin sie ihre Füße setzte. Sie legte keinen Wert darauf, ihre keuchende Atmung zu beachten.
Da war etwas. Irgendetwas war doch da. Zu eingeschüchtert über die Schulter zu blicken, warf sie stattdessen rasche, abgerissene Blicke auf die in Schatten getauchten Gassen, die sich neben ihr auftaten. Dunkel und leer. Oder doch nicht so leer wie sie es gerne hätte?
„Verdammt weg, weg, bloß weg. Ich muss hier weg", schrie sie sich selbst zu. In ihren Ohren begann das Blut zu rauschen, sie spürte die aufsteigende Wärme in ihrem Bauch und das ständig schlimmer werdende Seitenstechen. Aber sie würde nicht stehen bleiben. Um keinen Preis der Welt. „Blutleere Leichen, sie sagten blutleere Leichen. War das hier oder woanders? Verflucht, erinnere dich du blöde Kuh!", wimmerte sie, während ihre Augen brannten, Nase lief und langen, nassen Haare hinter ihr herwehten.
Es klapperte. In einer der Gassen hatte sich etwas geregt. Irgendetwas hatte sich dort bewegt. Ukyo rannte schneller und spürte ihren Körper rebellieren. Ihr war übel und ihr Magen scheute sich nicht, ihr das unmissverständlich mitzuteilen. Sie fühlte den sauren Geschmack auf ihrer Zunge, alles verkrampfte sich in ihr. Sie wollte so gerne stehen bleiben, sich umdrehen und herausschreien, dass dieser gottverdammte Idiot, wer auch immer er sein mochte, ruhig herauskommen solle, damit sie ihm die Leviten lesen konnte. Aber sie wusste, dass sie das nicht tun würde. Niemand würde sie dazu bewegen können, sich jetzt umzudrehen oder stehen zu bleiben. Selbst für alles Geld der Welt nicht. Und selbst, wenn sie sich anschließend auf den roten Teppichboden ihres Appartements erbrechen würde, wäre es das wert. Sofern sie dann endlich von der Straße hinunter und wohlbehalten in ihrer Wohnung wäre; die hohe Eichentür zugeschlagen und abgeschlossen.
Da war es wieder. Dieses Geräusch. Jenes Klappern. Sie heulte. Sie wollte weg, so schnell wie nur irgend möglich. Sie wollte daheim sein, einen heißen Kakao trinken und darüber nachdenken, was sie morgen tun konnte bis es Abend wurde und sie arbeiten musste. Sie wollte in ihrem Bett liegen, sich hineinkuscheln in das weiche Kopfkissen und aus ihren Alpträumen aufwachen, nur um sich damit beruhigen zu können, dass es auch wirklich welche waren.
„Ich will nach Hause. Oh Gott, bitte! Ich will in", sie schluchzte laut „meine Wohnung. Bitte!", heulte sie aufgelöst, während ihre Beine immer stärker stachen und ihre Waden sich bis zur Unerträglichkeit verkrampften.
Dann klapperte es genau neben ihr und sie schrie auf. Kreischte, dass ihre Stimmbänder zu zerreißen drohten, ihre Augen sich schlagartig weiteten, dass sie glaubte, sie gleich verlieren zu müssen und ihr Fuß vom Gehweg abkam. Sie strauchelte, ruderte mit den Armen, um ihr Gleichgewicht, koste es was es wolle, zurückzuerlangen, nur um zu erahnen, dass sie trotz dieser Bemühung einen schweren Fehler begangen hatte. Mit einem heiseren Aufschrei schlug sie der Länge nach hin, prallte mit ihrem Brustkorb auf die Gehwegkante, die sich ihr schmerzhaft in die Rippen bohrte und ihr die Luft entzog. Ihr Kopf folgte wenig später und prallte auf den harten, nachtschwarzen Asphalt, während ihre Haare auf die Oberfläche einer Pfütze klatschten, die sich im Rinnstein gebildet hatte.
Sie heulte und schrie als sie versuchte sich umgehend wieder aufzurichten. Ihr Fußgelenk knickte abrupt um und ließ sie erneut hart zu Boden gehen.
„Weg, ich will doch nur weg. Bitte, verdammt, ich will weg!", schrie sie in die Nacht. Das Echo ließ auf sich warten. Nur der Regen fiel weiter. Immer auf sie herab. Kalt und unbarmherzig drängte er sich unter ihre Kleidung und auf ihre Haut.
Nochmals stieß sie sich mit ihren Händen einerseits vom gepflasterten Gehweg, andererseits von der asphaltierten Straße ab. Langsam kam sie hoch, zog ihren schmerzenden Fuß hinterher und begab sich in eine kniende Haltung. Ihre Handflächen wurden innerhalb eines Augenblicks eiskalt. Erst dann bemerkte sie es. Es herrschte Stille. Bis auf den herabprasselnden Regen war es ruhig. Da war niemand, der ihr folgte. Niemand, der sie gleich ergreifen würde. Keiner, der sie blutleer saugen würde. Sie hatte sich das alles nur eingeredet. Alles war nur ein elendes Hirngespinst gewesen. Ein Hirngespinst, das ihr vermeintlich das Fußgelenk verstaucht hatte. Nochmals konzentrierte sie sich auf ihre Umgebung.
„Nein, außer dem Regen. Da ist nichts", seufzte sie mit einer solchen Erleichterung, dass ihr unbemerkt erneut Tränen über die Wangen flossen. Der Krampf, der ihren gesamten Körper erfasst zu haben schien, löste sich schlagartig. Die Schmerzen, die im Hintergrund stachen, waren zwar noch da, aber verschwanden hinter einer Wand aus dumpfer Freude. Betäubt sah sie auf den kleinen Rinnsal, der schwach von der Straßenlaterne hinter ihr angeleuchtet wurde. Ruhig plätschernd lief er über kleine Unebenheiten, riss ein störrisches Blatt mit sich und ließ es im Abflussgitter des Rinnsteins verschwinden. In der Dunkelheit.
Ihr lief ein Schaudern über den Rücken und die Verkrampfung war plötzlich wieder omnipräsent. Angespannt hielt sie den Atem an und verdrängte krampfhaft das Blutrauschen in ihren Ohren. Sie musste wissen, ob da etwas war. Der Regen fiel und schlug auf dem Pflaster und der Straße auf. Weit entfernt wie in einer anderen Dimension wurde ein Fensterladen zugeschlagen. Es war wirklich still. Da war kein fremdes Geräusch. Da war rein gar nichts. Sie lächelte und kam sich zeitgleich wie der größte Idiot vor.
„Ich dumme Kuh, dumme Kuh, dumme Kuh", lachte sie heraus. Mit ihren Händen schlug sie sich auf die Oberschenkel und kicherte frei heraus. Wie hatte sie nur so dumm sein können, anzunehmen, dass es tatsächlich so etwas Absurdes gab wie bleiche Leichen, aus denen man alles Blut gesaugt hatte? Das war doch Quatsch.
„Hört ihr? Quatsch, absoluter Quatsch!", rief sie in den Regen, klatschte sich auf die Oberschenkel und lachte.
Dann schepperte es und sie schrie auf. Mit einem Mal spülten Tränen den kurzen Anflug der Heiterkeit wieder hinfort. Ihre Hände, kalt und vom Regen aufgeweicht, drückten sie vom Untergrund ab und mit einem Schmerzensschrei richtete sie sich auf. Das linke Fußgelenk brannte als wäre es nicht verstaucht, sondern zerfetzt.
„Oder blutleer", stieß sie hysterisch aus und sich mit ihrem rechten Fuß ab, während sie versuchte vorwärts zu humpeln. Der Niederschlag schlug lachend auf dem Untergrund auf und da waren sie wieder. Diese verschrumpelten Hände, die sich an den Häuserkanten hochzogen. Hochzogen aus einer dunklen, lichtlosen Tiefe und sie mit ihren schwarzen, blinden Augen anblickten und grinsten und lange, scharfe Zähne entblößten. Sie schrie und ungeachtet ihrer Schmerzen humpelte sie weiter. Sprang auf einem Bein vorwärts, zog das andere nach, sprang vorwärts, zog nach.
„Renn' du dämliches Miststück, renn' doch. Verflucht renn'!", brüllte sie außer sich, vernahm das Rauschen des Blutes, das Auftreffen der Regentropfen und sonst nichts. Sie trieb sich weiter an, ungeachtet der Schmerzen, die nun wie heiße Nähnadeln ihren Knöchel penetrierten. „Will weg, will weg, verflucht. Bitte. Will doch nur weg", wimmerte sie.
Dann sah sie Licht. Den gelben Kreis auf dem Pflaster vor ihr. Gelb, warm und einladend. Schön warm und sicher. Sie humpelte schneller und spürte augenblicklich, dass sie einen Fehler begangen hatte. Sie verlor die Balance, doch bevor sie nochmals so brutal wie vorhin aufschlug, federte sie den Sturz mit ihren Händen ab. Ein gutturaler Laut entkam ihrer Kehle beim aufzischenden Schmerz. Ein neuer Stoß Salzwasser brannte aus ihren Augenwinkeln. Mit einem entsetzten Wimmern hob sie ihre rechte Handfläche. Was sie sah, ließ sie erneut schreien. Eine große, an mehren Stellen weiße Scherbe ragte hervor. Tief hinein geschnitten und eifrig rotes Blut über ihr Handgelenk verteilend. Mit einer Mischung aus Weinen, Schnauben und Kreischen zog sie sich mit ihrer linken Hand und dem rechten Ellbogen zum Lichtkegel.
„Gelb und einladend, komm' schon, gelb und warm, verdammt komm' her, gelb und sicher", flüsterte sie mit schmerzender Kehle ihr Mantra dem Lichtkegel entgegen, der dennoch nicht näher kommen wollte. Immer wieder schoss die Pein durch ihre Nervenbahnen, ließ sie mit den Zähnen knirschen und das metallische Aroma von Blut schmecken. Hatte sie sich auch noch gebissen? Hatte sie sich die Zunge durchtrennt? „Nein, ich kann doch reden, es geht mir gut, verflucht es geht mir gut, es geht mir", ihre Worte verschluckten sich „ich will zum gelben Licht, zum gelben Licht. Komm' her!" Ihre Haut war kalt, nass und sie spürte, dass sie fror. Die einzige Wärme kam von ihrer blutenden Hand. Ein pulsierendes Rot, dass sie im Gleichtakt mit der Scherbe auslachte. Ukyo schluchzte. Mit einem Schrei rieb sie nochmals mit ihrem Ellbogen über dem feuchten Pflaster und krallte sich mit der Hand in eine der nassen Rillen, um sich voran zu ziehen, so dass die lackierten Nägel brachen, während ihr der Regen ins Gesicht spritzte.
„Der Rand, da ist der Rand, ich will zum Rand, zum Rand!", schniefte sie und zog sich nochmals, all ihre Kräfte mobilisierend dem warm scheinenden Gelb entgegen. Dann hatte sie es erreicht und ließ ihre linke Hand schmutzig und nass im Lichtkegel glänzen. Ihre Augen waren rot vom Weinen, brannten und dennoch heulte sie vor Freude.
„Licht, endlich Licht. Ich bin sicher, endlich sicher", heulte sie hervor. Weinte und schluchzte und starrte glücklich auf ihre im Licht schimmernde Hand.
Dann nahm sie den schwarzen Fleck in der ansonsten ungetrübten, gelblichen Erhellung wahr. Klein und unscheinbar befand er sich am äußeren rechten Rand. Und dann wurde er größer. Es regnete und sie wollte nicht wahrhaben, was sie hörte. Es konnte einfach nicht sein. Es knirschte. Einmal. Dann ein zweites Mal. Ukyo versuchte zu schreien, doch ihre Kehle zog sich zu und nahm ihr die Luft dafür. Der schwarze Fleck war nun bereits doppelt so groß. Und dann konnte sie es nicht mehr leugnen. Es knirschte wieder.
„Nein! Nein! Nein! Nein!", versuchte sie zu kreischen, doch ihre Stimme versagte und gab nicht mehr als ein unidentifizierbares Gurgeln von sich. Ihre Sicht schwamm in einem Meer aus Salzwasser und doch sah sie, dass der schwarze Fleck nun bedrohlich groß war. Und ein Schuh setzte sich knirschend in ihrem Sichtfeld ab. Ukyo schrie trotz der brennenden Kehle.
Spröde knackste ein Gelenk und das Schuhleder bog und wölbte sich. Die Ferse hob ein wenig vom Untergrund ab und hinterließ nur einen Schatten, einen schwarzen Fleck auf erhelltem Anthrazit.
„Ich", keuchte sie und spürte ein Feuer in ihrer Lunge wüten „will nicht. Will weg. Will leben. Bitte, bitte."
Es knackste nochmals als das Knie sich durchbog, um auf dem rauen Pflaster aufzusetzen. Der Schatten lag nun über ihr. Sie vernahm nichts. Und das machte ihr mehr Angst als alles andere. Kein keuchen, seufzen, atmen. Einfach nichts.
Ihre Augenlider pressten sich zu und sie betete. Betete ungehört das Vaterunser, betete dafür, dass sie gleich in ihrem warmen, weichen, kuscheligen Bett aufwachen und hierüber lachen würde oder bemerkte, dass sie die Theke gar nicht verlassen und abermals darüber eingeschlafen war. Oder das mit den Geräuschen auch der Schatten verschwunden war.
Sie schlug die Augen auf. Und da war nichts. Ihr Herz schlug frenetisch. Das Blut musste ihr bald aus den Ohren quellen. In ihren Augenwinkeln brannte es. Der Regen fiel mit unverminderter Heftigkeit. Aber der Schatten war nicht mehr da. Sie hob ihren Kopf, zögerlich und zitternd. Da war der gelbe Kreis und er war hell, warm und sicher. „Und da ist", sie schniefte und stotterte hervor „kein schwarzer Schatten."
Sie lächelte erschöpft, dann erstarb das Lächeln. Sie spürte die Hand, die nicht die ihre war, durch langes, nasses Haar streichen. Ihr langes, nasses Haar.
„Nein, nein, nein", heulte sie gequält auf.
Ein erneutes Knacksen. Sie zuckte zusammen und wagte nicht aufzusehen.
„Kleines Vögelchen", hauchte es an ihr Ohr. Nur der Atem war nicht warm. Er war kalt.
„Kleines Vögelchen", zog es über ihren Nacken. Ihre Augen waren aufgerissen, die Unebenheiten des Pflasters, eine schmale Rille zwischen zwei Steinen, direkt vor ihr.
„Kleines Vögelchen", lachte es leise. Und leckte ihren Hals.
Ukyos Schrei überschlug sich.
