Diese Story habe ich in Zusammenarbeit mit einer Freundin bereits vor Jahren geschrieben. Akte-X muss sich zu diesemZeitpunkt in Deutschland etwa in der fünften Staffel befunden haben, deshalb kann auch alles an Inhalt der letzten paar Staffeln ignoriert werden. Hoffe, ihr habt trotzdem Spaß daran Mulders und Scullys Abenteuer zu lesen und zu kommentieren :) lg, N.Snape

Disclaimer: Leider gehört mir nichts, habe mir die Charaktere lediglich ausgeliehen und ein bisschen mit ihnen gespielt.

EINS

Craving Building Manhattan
New York Donnerstag
18.24 Uhr

Der Tag war lang gewesen, die Arbeitskollegen schlecht gelaunt, und ihr Vorgesetzter in der Apotheke hatte Sandra das Leben wieder einmal zur Hölle gemacht. Sie hätte am liebsten alles hingeworfen und sich gegen ihr angeborenes Pflichtgefühl und die unsagbare Disziplin, die sie auszeichnete, den Rest der Woche krank gefeiert und die nächste am besten auch noch. Dass sie diesen Tag überstanden hatte, war eigentlich ein Wunder, vor allem in Anbetracht ihrer, trotz des Feiertages geleisteten Über­stunden. Aber die Woche hatte ja auch schon schlecht angefan­gen. Ihre beste Freundin, die in einer Spielzeugfabrik arbeitete, hatte sie schon am Montag angerufen und ihr erzählt, Dass sie von ihrem neuen Vorgesetzten gefeuert worden war. Auch Sandra befürchtete in Anbetracht ihres Zustandes, ihren Job langfristig zu verlieren. Sie war einfach noch nicht lange genug dabei um ihre Stelle trotz der schlechten Arbeitsmarktlage zu behalten.

Das einzige, was Sandra jetzt noch aufrechterhielt, war der Gedanke an ein heißes, ausgiebiges Schaumbad mit dem neuen Roman, den sie sich in der viel zu kurzen Mittagspause gekauft hatte. Dazu ein schönes Glas frisch gepressten Orangensaft, eine Tiefkühlpizza und danach ab ins Bett. Sie wollte den ganzen Ärger einfach vergessen, oder – weil sie genau wusste, Dass ihr das nicht gelingen konnte – ihn zumindest für den Rest des Abends verdrängen. Aber als erstes wollte sie noch Todd anrufen, der seit vier Tagen, im Auftrag seiner Anwaltskanzlei, in Memphis auf Geschäftsreise war.

Selbstverständlich war als Krönung des Tages ihr Parkplatz von irgend so einem Trottel besetzt, dessen Auto sie noch nie zuvor gesehen hatte. Vermutlich handelte es sich wieder einmal um eine der zahlreichen, sich im Zwei-Tages-Takt abwechselnden Gespielinnen des Westentaschencasanovas, der die Wohnung schräg unter Sandra bewohnte.

Dabei hatten alle ihre Freunde und sie selbst natürlich auch immer so hoch angerechnet, Dass sie wohl in dem einzigen Hochhaus in ganz New York wohnten, dessen Vermieter dafür gesorgt hatte, Dass jeder Bewohner in der Tiefgarage seinen festen Stellplatz hatte, den er weder mieten, noch verteidigen musste. Es stand einfach so im Mietvertrag. Das Dumme war nur, Dass es immer wieder Idioten gab, die sich nicht darum kümmerten, ob der Parkplatz, auf dem sie ihr Auto abstellten vielleicht jemand anderem gehörte.

‚Was soll's? Jeder ist sich selbst der Nächste', dachte Sandra, und stellte sich kurzerhand auf einen anderen Parkplatz. Sie stieg aus und raffte all ihre Sachen vom Beifahrersitz zusammen. Nicht genug, Dass sie heute, an Heiligabend gearbeitet hatte, nein, sie hatte sich auch noch Arbeit mit nach Hause nehmen dürfen. War das nicht eine Freude?

Gedankenverloren schlenderte sie durch die Tiefgarage, die durch eine große, braune Eisentür mit dem hellen Treppenhaus des sechsundvierzigstöckigen Hochhauses verbunden war. Vor der Tür angekommen sortierte sie diverse Akten und Sammel­map­pen um, und ließ die rechte Hand in ihre große Handtasche tauchen, um nach dem Haus­schlüssel zu suchen. Natürlich versteckte dieser sich in der untersten Ecke, dort wo Sandra ihn nie und nimmer erwartet hätte, und wo es selbstredend am schwierigsten war, ihn mit einer Hand herauszuziehen, während man unter dem anderen Arm einen Haufen von Arbeitsmaterialien zu balancieren versuchte. Wider erwarten bewerkstelligte sie es aber doch, und sogar ganz ohne sich diverse Fingernägel auf dem Weg nach draußen, heraus aus der vollbepackten Tasche, abzubrechen oder einzureißen.

Hochkonzentriert bemühte Sandra sich, den Schlüssel ins Schloss zu schieben, aber er wollte ums Verrecken noch mal nicht hinein gleiten. ‚Wäre ich ein Mann, müsste ich das wohl als Omen für eine bevorstehende Nacht deuten', sinnierte sie verzweifelt, aber dann fand der Schlüssel seinen Weg doch noch.

Sandra zog die Sachen, die sie zwischen ihrem linken Arm und ihrem Körper einge­klemmt hatte, ein Stück hoch, weil sie zu rutschen drohten. Das konnte sie am wenigsten brauchen, Dass ihr jetzt hier vor der Eisentür der ganze Mist auf den Boden fiel! Sie drehte den Schlüssel energisch nach rechts, aber er bewegte sich nicht. Er wollte einfach nicht einrasten.

Sandra versuchte es wieder und wieder, behutsam, mit Gewalt und schließlich so vorsichtig wie die Leute vom Bombenräumkommando. Aber das so sehr ersehnte und so befriedigende Geräusch des Einrastens erklang einfach nicht. Bei einem letzten Versuch drückte sie sich selbst gegen die Tür, um sich doch noch vom Gegenteil zu überzeugen, aber sie blieb unbeirrbar geschlossen.

Da kam Sandra der Gedanke, Dass sie mit ihren Schlüsselspielchen vielleicht riskieren konnte, Dass der Schlüssel abbrach, also zog sie ihn lieber vorsichtig aus dem Schloss, aber auch das gelang nur widerwillig.

„Man sollte mal dafür sorgen, Dass diese verfluchten Kinder in der Dunkelheit allein vor der Tür stehen, dann verlören sie vielleicht den Spaß an so einem Scheiß!" murrte Sandra laut.

Also blieb ihr nur eins übrig, und das war durch die Tiefgarage nach draußen zu gehen und durch die eigentlich Haustür in das Gebäude zu gelangen. Es war zwar ein ziemlicher Umweg, da sie fast einmal ganz um das Haus herum laufen musste, wenn sie nicht über den Maschendrahtzaun klettern wollte, aber was sollte sie sonst tun?

Sie balancierte die Aktenordner noch einmal neu in ihren Armen und machte sich auf den Weg. Als sie zehn Minuten später an der gläsernen Haustür angelangt war, kam ihr der Portier schon entgegen und hielt ihr strahlend die Tür auf. Er war Anfang vierzig und hatte graumeliertes Haar, das gepflegt zurückgekämmt unter seiner Portiersmütze steckte. Sein Name war auf einem kleinen metallischen Schild zu lesen. Frank Morgan. Er arbei­tete schon seit etwa zwei Jahren in diesem Haus, deshalb gehörte er für Sandra bereits zum täglichen Leben. Er war ein ehemaliger Polizist, aber nach einem Unfall in seinem Streifenwagen bei einer Verfolgungsjagd auf einen gefürchteten Drogendealer war er berufsuntauglich geworden. Danach hatte man ihn als Portier eingestellt, woraus er nun das Beste machen musste. Er war immer nett und freundlich zu den Hausbewohnern und auch zu deren Gästen. Außerdem hielt er einem im Gegensatz zum Portier der anderen Schicht auch mal die Tür auf, wenn jemand voll beladen, wie Sandra heute Abend, ankam.

Nach einem freundlichen Grüßen durchschritt Sandra die helle Eingangshalle des Hauses. Jetzt galt es nur noch, vier Stockwerke im Fahrstuhl hinter sich zu bringen, und sie war endlich bei ihrer Pizza. Hoffentlich blieb dieser dämliche Aufzug nicht wieder stecken, so wie letzte Woche! Zu ihrer Überraschung war der Aufzug schon da, zwei Minuten später stand sie in ihrer Küche, die Akten und Mappen großzügig auf dem Küchen­tisch verteilt, und machte den Backofen an. Während ihr Abendessen im Ofen heiß wurde, ließ sie sich das Wasser einlaufen.

Nachdem sie aufgegessen hatte, legte sie sich in das dampfende Wasser und ließ eine Minute die Hitze auf sich einwirken. Es war angenehm, die Sorgen des Tages verdrängen zu können und einmal nur an sich und das in ihr entstehende Leben zu denken. Sie bemerkte, wie es ihren Körper veränderte, denn heute Morgen hatte sie schon Probleme gehabt den Reißverschluss ihres Rockes zuzumachen. Als sie Todd von dem Baby erzählt hatte, war er aus dem Häuschen gewesen. Obwohl sie keine Kinder geplant hatten, war er so begeistert gewesen, Dass er sie in den Arm genommen und herumgewirbelt hatte. Wenn sie an diese Szene dachte, die zum Glück niemand gesehen hatte, musste sie unwillkürlich lächeln. Sie freute sich riesig auf das Leben zu dritt.

Eine knappe Stunde später verließ sie mit einem guten Gefühl das weiß gekachelte Badezimmer, streifte sich ihr Nachthemd über und begab sich zu ihrem Kleiderschrank. Seit sie acht Jahre alt war hatte sie die Gewohnheit, ihre Kleidung für den nächsten Tag schon am Abend zuvor raus zu legen. Mit Entsetzten bemerkte sie, Dass alles, was sich noch in ihrem Schrank befand entweder inzwischen zu eng für sie war, oder sich eher für Hawaii eignete. Entnervt machte sie ihre Wäschetruhe auf und suchte etwas Passendes für den nächsten Tag. Dann zog sie sich einen Jogginganzug über, nahm ihre Schlüssel und verließ die Wohnung.

Bei dem Gedanken an den dunklen Keller war ihr nicht ganz wohl, aber sie schalt sich wegen ihrer Angstgefühle. „Du bist ja schließlich kein Kind mehr", sagte sie sich laut und fest. Nein, fest klang ihre Stimme nicht wirklich, es war nur schön, sich das vorzumachen. Sandra ging also langsamer als unbedingt nötig auf den Fahrstuhl zu, der sie zum Keller führte. Der Aufzug fuhr bis zum Ende des Treppenhauses, dort wartete eine große, schwere Feuertür aus Eisen. Hinter dieser Tür befand sich ein etwa zwanzig Meter langer Gang, hinter dem sich die einzelnen Parzellen der einzelnen Mieter befanden. Danach wartete wieder eine Tür, hinter der die Waschküche lag.

Sandra war eine rational denkende, selbstsichere Frau Mitte Zwanzig, aber sie hatte eine wahrhaft kindische Angst vor diesem Keller, ach, vor überhaupt jedem Keller. Vor allem wenn das Licht nur so schummrig war, es nur so von Geräuschen wimmerte, die unbestimmbarer Herkunft waren. Denn dann konnte sie so erwachsen sein, wie sie nur wollte, zu einem kleinen Mädchen würde sie immer wieder werden.

Sie ging verdrossen auf die Tür zu, war dabei streng darauf bedacht, weder auf das mulmige Gefühl in ihrer Magengegend zu achten, das sie so sehr an manche Situation im Wartezimmer ihres Zahnarztes erinnerte, noch dem Wanken in ihren Knien nachzugeben.

Vor der Tür verharrte sie noch einige Sekunden, oder auch Minuten, ehe sie den Schlüssel ins Schloss steckte. Dass genau das auch diesmal nicht klappen wollte, lag an dem Zittern ihrer rechten Hand, und das konnte sie beim besten Willen nicht über­­sehen. Sandra ballte die Hand zu einer Faust, die den Schlüssel umklammerte, legte sie an die Lippen. „Reiß dich endlich zusammen! Du willst doch nicht den ganzen Abend vor dieser Tür verbringen", murmelte sie, und es klang wie eine Beschwörungsformel.

Sie startete einen neuen Versuch, und diesmal lief alles reibungslos. Der Schlüssel glitt wie von selbst hinein und drehte sich völlig ohne ihr Zutun um (natürlich tat er das nicht, es war bloß für Sandra so, als ginge die nötige Energie von dem Schlüssel aus, als wäre er es, der ihre Hand in dieser Bewegung mitnahm und nicht umgekehrt).

Sie zog den Schlüssel hinaus und legte ihre Hand auf die Klinke, in der festen Absicht, sie hinunter zu drücken, aber dann blieb sie doch in dieser Position stehen und sah auf die Hand hinunter. Sie sah den schlichten Goldreif, den ein dunkelroter Edelstein schmückte, sie dachte an Todd. Was er wohl gerade machte? Ob er in diesem Augenblick auch das sehnsüchtige Verlangen hatte, in ihren Armen zu liegen? Sie würde auf jeden Fall einiges dafür geben, jetzt bei ihm zu sein, in einem gemütlichen Bett, in seinem blonden Haar wühlend ihre gemeinsame Zukunft planen.

Als die Panik drohend in ihr aufzusteigen begann, wollte Sandra nichts so sehr, wie das Bewusstsein aus zu schalten, sich einfach vor den Fernseher zu setzen und in eine andere Welt entführen zu lassen, andere für einen denken lassen und selbst nichts mehr mit all dem zu tun zu haben.

Um den schlimmsten aller Gedanken nicht aufkommen und in ihr Bewusstsein durchdringen zu lassen, drückte sie die Türklinke der schweren Eisentür hinunter. Alles war ihr recht, wenn sie nur möglichst bald aus diesem dunklen Keller verschwinden konnte.

Entschlossen schwang sie die Tür auf. Der Geruch, der den Keller beherrschte war eine Mischung aus Feuchtigkeit, abgestandener Luft und dem Schimmel, der auf immer in den Fugen des Gemäuers wohnen würde. Und wer wusste schon, was sonst noch in diesen Wänden wohnte, ruhte oder sogar lebte?

Ein eiskalter Schauer überlief Sandra, und ließ ihre Nackenhaare sich aufstellen. Sie griff nach dem Lichtschalter und die drei Glühbirnen, die den Gang entlang von der Decke hingen, erleuchteten. Nein, erleuchten taten sie eigentlich nicht. Der Stromkreislauf war geschlossen, und der feine Wolframsdraht in den Lampen glühte, aber ungemein viel Licht spendeten diese Lampen nicht. Der lang Gang war ihrem Geschmack nach immer noch viel zu dunkel.

Sandras Weg hatte sie bisher höchstens ein oder zweimal allein hier runter geführt, denn normalerweise wurde sie von Todd oder ihrer Freundin Michelle begleitet. Außer­dem war sie noch nie bei Nacht – oder gar nach siebzehn Uhr hier gewesen, doch jetzt war sie allein mit ihren Ängsten in dem zweifelhaften Dämmerlicht. Es war wohl wie bei allem im Leben. Egal, wie sehr man sich bemühte, diesen Situationen aus dem Weg zu gehen, und wenn man es zu einer Religion machte, immer nach dem besseren, dem sicheren Weg zu suchen, irgendwann erwischte es einen dich, und man ist allein in der Dunkelheit. Ob man das nun metaphorisch auslegte oder mit einer alles anderen als bildhaften Lage verglich. Mit so einer, in der Sandra sich gerade befand.

Seit sie denken konnte, verfügte sie über eine blühende Phantasie, und mehr als einmal hatte die ihr im Leben hilfreich zur Seite gestanden. Sie bemitleidete Menschen, denen jegliche Form von Phantasie fehlte, aber gerade jetzt, wo ihr all die Dinge durch den Kopf schossen, die sie absolut nicht gebrauchen konnte, beneidete sie diese Menschen auch grenzenlos. Denn diese Menschen hatten bestimmt keine Angst von einem Vergewaltiger misshandelt und umgebracht zu werden.

Sandra rückte noch einmal den Wäschekorb zurecht, den sie auf ihrem Hüftknochen balancierte, dann ging sie mit kleinen Schritten los. Ihre Absätze klapperten auf dem Betonfußboden und entwickelten ein geradezu schauderhaftes Echo. Sie wäre gern schneller gelaufen, um das hier so einfach und sorgenfrei (hahaha) wie nur eben möglich hinter sich zu bringen, aber das Tippen ihrer Schuhe könnte dabei so laut werden, Dass sie womöglich überhören könnte, wenn sich jemand von hinten an sie heranschlich.

Nach zehn wackligen Schritten erreichte Sandra die Tür, hinter der sich die Waschküche befand. Natürlich wusste sie, Dass es auch dort nichts Böses zu befürchten gab, es war schließlich nur eine Waschküche, aber dennoch fühlte sie sich jetzt alles andere als besser. Was sie erwartete waren einige Waschmaschinen, die in Reihen aufgestellt waren, Wäscheleinen, die etwa auf Augenhöhe gespannt waren und ein paar Trockner. Wenn sie Glück hatte war die Waschküche leer, wenn sie ganz, ganz viel Pech hatte, würde nasse Wäsche an den Leinen hängen und ihr ins Gesicht schlagen, wenn sie nicht vorsichtig war, sondern in Panik geriet. Doch Sandra sollte mehr als ganz, ganz viel Pech haben.

Zunächst stand sie vor einem mehr praktischen Problem. Es ging dabei um die Augen – Hand – Licht – Koordination, denn wenn sie den Gang verließ, würde sie das Licht löschen müssen, die schwere Eisentür öffnen und dann so schnell wie nur möglich um den Türrahmen herum nach dem Lichtschalter greifen, um nicht im Dunkeln zu stehen. Das wäre ja an sich keine große Sache gewesen, wenn sie nicht (allein in diesem Keller wäre) den sperrigen Wäschekorb unter dem rechten Arm halten müsste, dessen Inhalt, wenn sie ins Schwanken käme sich auf dem Boden verteilte, stände sie entweder im Dunkeln da, oder sie müsste sich länger als unbedingt nötig in diesem Keller aufhalten. Sie konnte ja schlecht ihre Sachen einfach hier liegen lassen. Das heißt, sie konnte schon, nur dummerweise wäre dann der ganze Ausflug bis jetzt umsonst gewesen.

„Ich werde einfach die Tür aufmachen, dann fällt noch etwas von dem Licht aus dem Gang in die Waschküche, dann kann ich ohne Angst dort das Licht anmachen, reingehen, und das Licht von draußen ausmachen", überlegte sie halblaut. „Und wenn ich fertig bin mit Waschen, gehe ich nach oben, hole den Test von der Torte raus und werde sie zur Feier des Tages ganz allein aufessen", beschloss sie wenig zuver­sichtlich, so Dass es eher nach der Wahl für eine Henkersmahlzeit klang.

Sandra erinnerte sich an etwas, das ihre Mutter ihr gesagt hatte, als sie noch ganz klein gewesen war. „Wenn man etwas zu lange bedenkt, wird es bedenklich." Immer diesen Spruch murmelnd öffnete sie zuerst die schwere Tür, hinter der die Wasch­küche lag, hielt sie mit dem Rücken offen und griff in die blendende Dunkelheit und fand fast auf Anhieb den Lichtschalter, um ihn anzuknipsen. Sie fühlte sich dabei, als würde sie den anspruchsvollsten und nervenaufreibendsten Leistungssport betreiben, den sich je ein Mensch vorstellen könnte. Sandra spürte, wie ihr kalter Schweiß aus den Poren trat und auf der Haut klebte. Das war ein Erlebnis, das sie lange nicht mehr gehabt hatte. Nicht seit jenem Tag, an dem sie von ihrem Onkel, der mal wieder besoffen von seiner Arbeit auf dem Feld nach Hause gekommen war, im dunklen Geräteschuppen eingesperrt worden war, weil sie es gewagt hatte, ihn zur Begrüßung zu umarmen. Seit diesem Erlebnis hatte sie panische Angst vor der Dunkelheit, denn erst nach vierzehn Stunden in der drückenden Schwärze des Schuppens war sie von ihrem großen Bruder Glen befreit worden.

Das Kunststück gelang, und sie stand sicher und wohlbehalten in der Waschküche. Sie hätte nicht gedacht, Dass sie je so froh sein würde, in diesem Raum zu sein.

„Das Licht!" Es fiel ihr siedendheiß ein und traf sie wie ein Schlag in die Magengrube. Sie hatte das Licht auf dem Gang nicht ausgeschaltet! Das bedeutete, Dass sie noch einmal diese Tür öffnen musste, ohne zu wissen, was sich dahinter verbarg.

Vielleicht war ihr ja jemand gefolgt und wartete nur auf diese Gelegenheit. Ja, vielleicht war da jemand hinter der Tür. Oder Etwas!

„Oder vielleicht machst du dich auch nur grundlos verrückt!"

In Lichtgeschwindigkeit riss sie die Tür wieder auf, drückte auf den Lichtschalter und zog sie wieder zu, um alle bösen Geister auszusperren. Dass sie unter diesen Umständen den Schalter überhaupt erwischt hatte, war ein absoluter Glücksgriff gewesen.

Ohne Zeit zu verlieren, oder einen weiteren Gedanken an ihre Ängste zu verschwenden, steuerte sie direkt auf die Waschmaschine zu.

Sie stopfte die Sachen in die Maschine und schaltete diese ein. Dann drehte sie sich um, um wieder nach oben zu gehen. Sandra hatte einen Anflug von Selbstverliebtheit und übermäßigem Stolz, während sie bemüht war, den gleichen Akt, den sie gerade vollbracht hatte, möglichst ebenso erfolgreich zu wiederholen.

Sie hatte gerade die Tür geöffnet und sah für Sekundenbruchteile in die Dunkelheit. Sandra fühlte sich sehr allein. Sie hatte kein gutes Gefühl. Es war ein bisschen wie die leere, drückende Angst, die sie noch aus ihrer Schulzeit kannte, wenn eine wichtige Prüfung anstand. Die Dunkelheit wirkte auf eine Weise bedrohlich und bedrückend, wie sie es nicht mehr erlebt hatte, seit sie ein kleines Kind gewesen war.

Sandra hatte ein – für eine erwachsene Frau – seltsames Verhältnis zur Dunkelheit. Wenn sie beruflich allein in einem Hotel übernachten musste, ließ sie grundsätzlich ein kleines Licht die ganze Nacht lang eingeschaltet. Sie hatte sich immer eingeredet, das nur zu tun, damit sie in dem fremden Zimmer nicht über diverse Möbelstücke stolpern und dagegen laufen würde, wenn sie nachts zur Toilette wollte, tatsächlich aber hatte sie nur Angst vor dem betrunkenen Lachen ihres Onkels, das sie nur im Dunkeln hörte. Das war auch der Grund, weshalb sie selbst in ihrem eigenen Schlafzimmer nur selten ohne Licht schlafen konnte, wenn sie allein war. Und sei es nur das Nachttischlämpchen, über das sie ein buntes Tuch gelegt hatte, damit das Licht gedämpft wurde. Sie hatte versucht sich das abzugewöhnen, aber es war zwecklos.

Das Licht auf dem Kellerflur hinter der Tür, die sie gerade aufgestemmt hatte schaltete Sandra ohne Schwierigkeiten ein.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch.

Ihr Herz machte einen riesigen Satz. Ihre freie Hand fuhr an ihre Kehle, und sie brauchte eine lange Sekunde, um sich wieder so weit unter Kontrolle zu haben, Dass sie wieder einigermaßen normal atmen konnte. Bestimmt war es nur eine der laufenden Waschmaschinen, oder ein Trockner. Es gab also absolut keinen Grund sich Sorgen zu machen.

Schnell ließ sie ihre Hand wieder zur Wand in der Waschküche gleiten und tastete nach dem Lichtschalter.

Sie war nicht erschrocken, sie war schockiert und starr vor Angst, als sie fühlte, wie sich eine klamme Hand auf sie legte und sie zum Lichtschalter führte.

Das Licht erlosch in der Waschküche, und die Hand griff stärker zu, zog sie an ihrem Handgelenk – zunächst behutsam, dann bestimmt zurück in den dunklen Raum.

Sandra spürte, Dass jeder Widerstand zwecklos war, sie hätte auch gar nicht die Kraft dazu gehabt, denn die Angst bohrte sich wie ein glühendes Schwert in ihr Herz und drohte sie zu zerreißen.

Die Hand war kräftig, aber gleichzeitig leblos, zwei Dinge, die nicht zusammen passten, und für eine Sekunde dachte Sandra, sie bildete sich das alles nur ein, weil ihre überreizten Sinne und ihre Phantasie ihr einen Streich spielten, aber dann bohrten sich die langen Fingernägel der Hand in ihr Fleisch, und das macht die Sache um so realer.

„Ggghhhhhha!" war alles, was sie atemlos hervorbringen konnte. Gleichzeitig ließ Sandra den Wäschekorb mit dem Waschpulver fallen, den sie so bedacht unter ihrem Arm balanciert hatte, riss sich von der Hand los und taumelte nach hinten. Weg von der Hand, aber unglücklicherweise auch weg von dem Lichtspalt, der noch durch die sich langsam schließende Tür fiel und immer schmaler wurde, und für Sandra jetzt das Symbol des Überlebens darstellte.

In blinder Panik rannte Sandra rückwärts ins Dunkel, den Blick immer weiter auf den Lichtstrahl gerichtet, in den nun eine Gestalt trat.

Mit dem nächsten Schritt, den sie tat, lief Sandra gegen etwas, drehte sich einmal um die eigene Achse und verlor das Gleichgewicht. Sie stürzte.

Beim Aufprall schlug sie sich den Kopf an irgendetwas Hartem an, sie konnte nur vermuten, Dass es sich dabei um eine Waschmaschine oder einen Trockner handelte. Mit letzter Kraft rappelte sie sich wieder auf, denn sie hörte, Dass die Schritte der Gestalt immer näher kamen. Mit vorgestreckten Armen wankte sie in die Richtung, in der sie die andere Tür vermutete, aber ihre Hände berührten etwas Feuchtkaltes. Sandra erschrak, schrie auf und verlor völlig die Orientierung und ihren Gleichgewichtssinn, so Dass sie wieder fiel.

Diesmal jedoch hatte sie nicht mehr die Kraft, sich wieder hochzuziehen. Sie spürte, wie etwas Warmes, Klebriges ihre Stirn hinab aus der Kopfwunde sickerte, die sie sich zugezogen hatte. Blut.

Sie war in völliger Dunkelheit, aber sie bekam keine Angstzustände, sie fühlte sich nicht einmal mehr im Mindesten besorgt, denn eine wohltuende, betäubende Schwärze senkte sich über ihr Bewusstsein, und Sandra gab dem wohlwollend nach.

Sie spürte nicht mehr, wie es sich auf sie stürzte.