Diese kurze Geschichte baut auf einer Nebenhandlung auf, die ich in meiner Geschichte „Eheberatung" angedeutet habe.

Viel Spaß beim Lesen!


Dass ihr siebtes und letztes Schuljahr anders verlaufen würde, als sie gedacht hatte, das wurde Vanessa Lenormand sehr schnell klar. Bereits im Hogwarts-Express gab es viel Gerede, dass es einen neuen Schulleiter und neue Lehrer gab und jeder munkelte, dass es etwas mit dem Dunklen Lord zu tun hatte, der vor kurzer Zeit das Zaubereiministerium übernommen hatte. Die Gesellschaft und die Politik hatten sich merklich verändert und das würde auch die Schule zu spüren bekommen. Muggelstämmige und Halbblüter waren der Schikane und Verfolgung des Ministeriums ausgesetzt und jeden Tag titelten die Zeitungen über Harry Potter, den Unerwünschten Nummer 1.

Vanessa Lenormand stammte aus einer wohlhabenden und angesehenen Reinblutfamilie, deren Geschichte Jahrhunderte zurückreichte. Wie alle aus ihrer Familie war auch sie in Ravenclaw. Sie war groß, schlank und hatte lange, schwarze Haare, die ihr offen über den Rücken wallten. Ihre Haut war makellos wie Porzellan und ihre Lippen hatten ein volles Rot. Ihre Augen waren eisblau. Ihre Familie war bekannt für ihre wunderschönen Frauen und Vanessa bildete da keine Ausnahme. Ihre Mitschüler, die aus Muggelfamilien stammten, scherzten manchmal, dass sie genau der Beschreibung von Schneewittchen aus dem Märchen entsprach: Haare schwarz wie Ebenholz, die Haut so weiß wie Schnee und die Lippen rot wie Blut. Immer wenn Vanessa daran dachte, verdrehte sie genervt die Augen.

Bekannte Maler und Fotografen rissen sich um sie als Motiv für ihre Kunstwerke und sie hatte viele männliche Werber. Auch die Jungs in Hogwarts waren von ihr angetan, sodass Vanessa schon viele Einladungen zu Abschlussbällen oder zu einem Hogsmeade-Wochenende bekommen hatte. Meist hatte sie sie allerdings abgelehnt. Sie mochte den Trubel um ihre Person und ihr Aussehen nicht.

Durch ihren Blutstatus war sie vor dem Ministerium geschützt, allerdings war ihre Familie nicht dafür bekannt, die Ziele des Dunklen Lords zu unterstützen. Ihre Eltern und auch ihre Tante hatten Vanessa sehr liberal und nicht in der Tradition der reinblütigen Familien erzogen, sodass sie keine Vorurteile gegenüber Muggeln oder muggelstämmigen Zauberern und Hexen hatte. Vanessa hatte sich vorgenommen, den Kopf unten zu halten und nicht aufzufallen, auf dass sie ihr siebtes und letztes Schuljahr möglichst gut überstehen würde.

Am Bahnsteig angekommen, schloss sie sich ihren Freundinnen und Mitschülern aus ihrem Haus an und ging zu den Kutschen, die sie nach oben zum Schloss brachten. Ihr fiel auf, dass überall Männer in schwarzen Roben als Wachen postiert standen.

Als sie Hogwarts betraten und in die Große Halle steuerten, fiel Vanessa sofort auf, dass viele Schüler fehlten. Sie sah weder Hermine Granger, noch Ron Weasley, noch Dean Thomas und auch viele andere Gesichter sah sie nicht. Die Gruppe an Erstklässlern, die ihr erstes Jahr auf Hogwarts beginnen sollten, war beträchtlich geschrumpft und viel kleiner, als sie es in Erinnerung hatte. Auch unterhielt sich niemand ausgelassen über die Ferien und die übliche Freude über das Wiedersehen mit den Freunden und die Vorfreude aus das neue Schuljahr fehlten bei allen.

Ihre Mitschüler wirkten bedrückt, alle tuschelten nur verhalten miteinander, viele waren besorgt oder verängstigt. Vanessa fand die Antwort, als das Meer an Schülern in die Große Halle strömte und sich an den Haustischen niederließ. Hogwarts hatte sich verändert.

Dumbledore saß nicht mehr auf seinem Stuhl in der Mitte der Lehrer. McGonagall, Slughorn, Madame Pomfrey und die anderen Lehrer wechselten ernste und besorgte Blicke miteinander. Die Position des Schulleiters hatte niemand geringeres als Severus Snape eingenommen. Zu seiner rechten saßen zwei Personen, ein Mann und eine Frau, die Vanessa noch nie gesehen hatte. Sie waren beide in schwarze Umhänge gekleidet. Ihren Gesichtern nach zu schließen hätte Vanessa gesagt, dass sie vielleicht Geschwister waren. Sie hatten dieselben braunen Augen. Die Frau war klein und rundlich und trug ihr dunkelbraunes Haar in einem strengen Dutt zurückgebunden. Der Mann war ein wenig untersetzt. Er hatte dunkles kurzes Haar. Als ihre Blicke durch die Menge der Schüler schweiften, wechselten sie ab und zu ein paar Wort miteinander und grinsten. Bei ihrem Anblick lief es Vanessa eiskalt den Rücken hinab. Als jemand an ihrem Tisch das Wort „Todesser" erwähnte, war für sie alles klar. Der Dunkle Lord musste Todesser als Lehrer in die Schule befohlen haben.

Snape beugte sich kurz zu McGonagall, dann erhob er sich und gebot der anwesenden Schülerschaft, still zu sein.

„Herzlich Willkommen in Hogwarts. Ich darf euch zum neuen Schuljahr begrüßen. Es haben sich … ein paar Veränderungen ergeben. Fortan werde ich das Amt des Schulleiters bekleiden. Desweiteren wird Alecto Carrow das Amt der Muggelkundelehrerin bekleiden", Snape deutete zu seiner rechten und die beiden Todesser erhoben sich, „und ihr Bruder Amycus Carrow wird Verteidigung gegen die Dunklen Küste unterrichten."

Vanessa beschlich eine böse Vorahnung. Todesser sollten also in Hogwarts unterrichten, das konnte nichts Gutes verheißen. Sie hörte bei Snapes restlicher Rede nicht mehr zu. Ihr Blick war auf die beiden Carrows gerichtet. Ihr überhebliches Grinsen gefiel ihr überhaupt nicht und sie fragte sich, wie es mit Todessern als Lehrer werden würde.

Als das Essen aufgetischt wurde, hatte sie jeden Appetit verloren. Auch ihren Mitschülern schien das Festessen nicht wirklich zu schmecken, denn etliche stocherten nur lustlos auf ihren Tellern herum. Um Vanessa herum wurde viel über Snape und die beiden Todesser gesprochen. Nur die Slytherins waren unbesorgt. Crabbe und Goyle sahen sogar begeistert aus und Vanessa konnte über sie nur den Kopf schütteln.

Abends lag sie lange wach und dachte an das Kommende.


Der nächste Morgen brachte eine Überraschung. Als Vanessa mit den anderen Ravenclaws beim Frühstück saß, verteilten die Hauslehrer die neuen Stundenpläne. Als Professor Flitwick Vanessa ihren Plan gab und sie darauf sah, bemerkte sie etwas Seltsames.

„Es tut mir eid, Professor, da muss ein Fehler unterlaufen sein. Ich habe kein Muggelkunde", sagte Vanessa.

„Ist das bei dir auch so komisch?", fragte eine Viertklässlerin. „Ich hab auch kein Muggelkunde und es steht drauf."

„Professor?"

Professor Flitwick sah sie traurig an. „Ein Beschluss der Schulleitung. Alle Schüler sind verpflichtet, am Muggelkundeunterricht teilzunehmen."

Die Ravenclaws sahen sich entgeistert an. Alle fragten sich, was dies wohl zu bedeuten hatte. Vanessa hatte eine leise Ahnung und es verhieß nichts Gutes.


Es war die Doppelstunde am Nachmittag, ihre erste Stunde Verteidigung gegen die Dunklen Künste und damit die erste Stunde bei dem Todesser Amycus Carrow. Es war die erste Schulwoche und Vanessa wäre am liebsten sofort wieder nach Hause gefahren. Von den anderen Schülern hatte sie schon gehört, dass mit den Carrows nicht gut Kirschen essen war und sie hatte nicht die geringste Lust auf den Unterricht.

Amycus Carrow wartete bereits im Klassenzimmer, als die Ravenclaws und die Hufflepuffs hereinkamen. Als Vanessa durch die Tür trat, fiel der Blick des Todessers auf sie. Er musterte sie von oben bis unten, als würde er sie kennen. Es war der Blick von Männern, die sie nur allzu gut kannte. Vanessa lief ein kalter Schauer den Rücken hinab und sie suchte sich einen Platz möglichst weit hinten aus. Manchmal verfluchte sie ihr Aussehen. Ihr fiel auf, dass ein Erstklässler im Raum war. Der kleine Junge saß verängstigt auf einem Stuhl nahe des Lehrerpults und zitterte. Immer wieder warf er dem Todesser unsichere Blicke zu.

Nachdem sich alle gesetzt hatten, ging Carrow die Namensliste durch und überprüfte die Anwesenheit.

„Sehr gut", sagte er harsch und schritt langsam durch den Mittelgang. „Mein Name ist Amycus Carrow und ich werde ab jetzt Ihr Professor für Verteidigung gegen die dunklen Künste sein. Wie Ihnen sicher in der Zwischenzeit zu Ohren gekommen sein wird, sind meine Schwester und ich Anhänger des Dunklen Lords und auf seinen Befehl hin hierhergekommen. Ihr bisheriger Unterricht in diesem Fach war… unstet und unzureichend, deshalb werden wir ein paar entscheidende Veränderungen vornehmen."

Vanessa gefiel sein fieses Grinsen überhaupt nicht.

„Stehen Sie auf!", sagte Carrow unfreundlich. Mit einem Schwung seines Zauberstabes schoben sich die Tisch und Stühle zur Seite, sodass in der Mitte des Klassenzimmers ein freier Raum entstand.

Die Klasse drängte sich verunsichert zusammen. Carrow packte den kleinen Erstklässler grob am Arm und schleifte ihn in die Mitte.

„Dieser Kleine hier hat es doch tatsächlich geschafft, sich schon in der ersten Schulwoche Ärger einzuhandeln. Er hat im Unterricht meiner Schwester eine ziemlich freche Antwort gegeben."

Vanessa beschlich ein ganz mieses Gefühl.

„Das Thema unserer ersten Stunde oder anders gesagt die Lektion dieser Stunde wird deshalb sein, dass wir ein paar Dinge klarstellen, nämlich was passiert, wenn man sich verhält wie unser kleiner Freund hier."

Er richtete seinen Zauberstab auf den kleinen Jungen. Vanessas Herz begann heftig zu pochen.

„In Hogwarts weht jetzt ein anderer Wind. Crucio!"

Nicht wenige Schüler schlugen sich entsetzt die Hände vor den Mund und wichen erschrocken ein paar Schritte zurück. Der Erstklässler schrie laut auf vor Schmerz, als von dem Fluch getroffen wurde. Er krümmte sich am Boden und wurde von Krämpfen geplagt. Vanessa wurde schlecht. Sie musste den Blick abwenden.

Carrow nahm den Fluch von dem Schüler.

„Nun, jetzt seid ihr an der Reihe."


Was war nur aus Hogwarts geworden? Vanessa war so wütend nach der Stunde Verteidigung gegen die Dunklen Künste, dass sie kaum richtig essen konnte. Ihre Hand krallte sich vor Zorn so fest um das Besteck, dass sie es nicht schaffte, ihr Fleisch oder ihre Kartoffeln richtig zu schneiden. Irgendwann knallte sie das Besteck wutentbrannt auf den Tisch. Sie hatte ohnehin keinen Hunger.

„Dieser Carrow spinnt doch wohl!", sagte ein Mädchen aus der sechsten Klasse, das Vanessa gegenübersaß. „Müsst ihr auch den Cruciatus-Fluch auf Mitschüler anwenden?"

„Ja", sagte Vanessa. „Wir sollten einen Erstklässler bestrafen."

„Bei uns war es ähnlich." Das Mädchen warf einen Blick zum Lehrertisch. „Die Lehrer sehen auch nicht glücklich aus. Aber dass die das zulassen? Ich meine, diese Flüche sind verboten! Was wenn jemand zu Schaden kommt?"

„Die Lehrer können nichts machen", mutmaßte Vanessa. „Sonst sind sie ganz schnell selber dran. Glaubt ihr wirklich, McGonagall und die anderen heißen das gut? Nein, natürlich nicht. Ihnen bleibt nichts anderes übrig. Wahrscheinlich hätten die längst ihre Koffer gepackt und wären gegangen, aber sie wollen mit Sicherheit die Schüler nicht allein lassen."

„Hattest du schon Muggelkunde?", fragte ihre Freundin Sarah das Mädchen aus der sechsten.

„Ja. Und es ist schrecklich. Alecto ist genauso wie ihr Bruder. Sie erzählt uns lauter Schauergeschichten über Muggel. Dass sie schmutzig und nichts wert sind und dass sie daran Schuld sind, dass wir Zauberer im Verborgenen leben müssen."

Vanessa schüttelte den Kopf. Das durfte alles nicht wahr sein! So hatte sie sich ihr siebtes Schuljahr nicht vorgestellt. Sie hatte große Lust ihre Koffer zu packen und zu verschwinden. Leider war dies nicht so leicht. An den Ausgängen der Schule, sogar an den Geheimgängen, hatte man Todesser als Wachposten aufgestellt und wahrscheinlich wimmelte es auch in Hogsmeade nur so vor ihnen.

Auch wenn ihre Eltern den Dunklen Lord nicht unterstützten und die Praxis an der Schule nicht gutheißen würden - Vanessa war so umsichtig gewesen, es in ihrem Brief, den sie vor ein paar Tagen nach Hause geschickt hatte, nicht zu erwähnen - hätten sie ihr wahrscheinlich geraten, das Schuljahr zu beenden. Bis zu den Prüfungen und dem Abschluss waren es nur noch wenige Monate und wenn sie sich zusammenriss und den Kopf unten hielt, war die Zeit vielleicht auch zu bewältigen.

Leider sollte sich Vanessa täuschen.


In der nächsten Stunde Verteidigung gegen die Dunklen Künste ging es mit dem Cruciatus-Fluch weiter. In der letzten Stunde hatten noch nicht alle den Fluch angewendet, darunter auch Vanessa.

Diesmal hatte man als Opfer wieder einen Erstklässler genommen. Das kleine Mädchen wimmerte und schluchzte, als sie in der Mitte des Kreises stand. Der Reihe nach mussten alle Ravenclaws und Hufflepuffs den Folterfluch bei ihr anwenden. Natürlich war niemand bei der Sache. So gut wie keiner schaffte es, den Zauberstab auf das Mädchen zu richten und die Formel zu sprechen. Und die, die es unter Carrows Drohung tatsächlich taten, waren so voller Angst, dass der Fluch keine Wirkung zeigte.

Jeder missglückte Versuch wurde mit einem Cruciatus von Carrow bestraft.

Vanessa war die nächste. Beim Anblick ihrer Mitschüler hatte sie eine solche Wut gepackt, wie sie sie noch nie erlebt hatte. Ihr ganzer Körper bebte und am liebsten hätte sie den Todesser verhext.

„Ms. Lenormand, bitte schön!", sagte er und bat sie mit einer einladenden Handbewegung nach vorne.

Ihre Beine wollten ihr kaum gehorchen, als sie langsam nach vorne schritt. Alle Augen waren auf sie gerichtet. Sie sah die verängstigte Erstklässlerin an. Das Mädchen kauerte auf dem Boden und weinte.

„Machen Sie!", befahl ihr Carrow und drückte ihr seinen Zauberstab in den Rücken.

Vanessa hob ihren Zauberstab und zielte auf die Person vor ihr. Ihr Herz schlug dumpf und schnell gegen ihre Rippen.

„Nein", sagte sie schließlich ruhig und ließ ihren Zauberstab wie in Zeitlupe sinken. In ihrem Inneren kochte es und sie spürte das Blut in ihren Ohren rauschen.

„Wie war das?!", fragte Carrow.

Vanessa drehte sich um, verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihm direkt ins Gesicht. Sie war eine große junge Frau und war mit dem Todesser auf Augenhöhe. „Ich habe gesagt nein", sagte sie erneut.

Amycus starrte sie einen Moment an, offenbar auf diesen Widerstand nicht vorbereitet.

„Also schön, wie Sie wollen", sagte er dann mit einem gehässigen Grinsen. „Anscheinend weiß da jemand noch nicht, wo sein Platz ist. Crucio!"

Sie hatte es erwartet und kommen sehen. Vanessa presste die Lippen aufeinander, dass ihr kein Schmerzensschrei entfuhr, aber der Schmerz zwang sie vor Amycus Carrow auf die Knie. Ihr Körper stand in Flammen und tausend Dolche stachen gleichzeitig auf sie ein. Jeder Muskel in ihrem Körper war zum Zerreißen gespannt.

Sie schnappte keuchend nach Luft. Es war eine Wohltat, als er den Fluch von ihr nahm.

„Vielleicht probieren wir es nochmal", sagte der Todesser.

Vanessas Knie waren weich und sie konnte nicht aufstehen. Sie sah ihn von unten her an. „Nein", sagte sie erneut. Hinter sich konnte sie Getuschel hören. Die anderen Schüler redeten über sie.

„Wie bitte?", fragte Carrow, obwohl er ihre Antwort genau verstanden hatte. Der Folterfluch traf sie ein zweites Mal und diesmal schmeckte sie Blut in ihrem Mund und Übelkeit stieg in ihr auf. Jedoch war der Schmerz weniger schlimm, weil gewaltige Wut sie gepackt hatte.

Sie spürte ihre Muskeln kaum noch, aber schaffte es tatsächlich, sich hochzustemmen, obwohl der Fluch noch auf ihr lastete. Ihr Zorn schien ihr Kraft zu geben. Sogar der Todesser schien überrascht, als Vanessa sich vor ihm aufgerichtete.

Sie grinste und plötzlich lachte sie einmal laut auf. Sie bedachte Amycus Carrow mit einem verächtlichen Blick von oben bis unten. Der Todesser funkelte sie wütend an, weil sie sich über ihn lustig machte.

„Sie sind armselig, wissen Sie das?", sagte Vanessa und sie wusste nicht, woher sie ihr Selbstbewusstsein nahm. Aber in diesem Moment, wo ihr Zorn und ihre Wut ihren Verstand vereinnahmt hatten, war ihr alles egal. „Hier stehen Sie also, der große, tolle Todesser. Wahrscheinlich stehen Sie in der Gunst Ihres … Möchtegernlords nicht sonderlich hoch oder warum schickt er Sie sonst hierher in die Schule? Ich schätze mal, Sie haben nicht sonderlich viel zu bieten, sondern sind nur ein nichtsnutziger Wicht! Und um sich irgendwie toll zu fühlen, haben Sie es nötig, den Frust über ihr langweiliges Leben an Kindern auszulassen!" Sie wurde jetzt lauter. Keinen Augenblick nahm sie den Blick von Carrow. „Na, wie fühlt sich das an, wenn Sie Ihren geliebten Cruciatus-Fluch auf die Schüler anwenden? Ich weiß es. Wahrscheinlich brauchen Sie das. So wie Sie aussehen, kriegen Sie wohl sonst keine Befriedigung, denn welche Frau würde schon mit so einem widerlichen Kerl wie Ihnen ins Bett steigen? Geben Sie es zu, wahrscheinlich geilt es Sie auf, andere zu quälen. Kriegen Sie wohl sonst keinen hoch?"

Als Vanessa geendet hatte, legte sich Totenstille über das Klassenzimmer. Niemand bewegte sich. Alle Schüler hielten die Luft an. Ein paar schlugen sich entsetzt die Hände vor den Mund. Amycus Carrow tat nichts. Er starrte Vanessa nur an. Diese erwachte allmählich aus ihrer Trance und realisierte, was sie eben getan hatte. Sie war zu weit gegangen. Sie hatte gar nicht realisiert, wie schnell die Worte aus ihrem Mund gekommen waren.

Sie rechnete schon damit, gleich wieder den Folterfluch zu spüren zu bekommen, doch Amycus Carrow tat nichts dergleichen. Vermutlich war er selbst viel zu überrascht.

„Das wird ein Nachspiel haben", zischte er in bedrohlichem Ton, der nichts Gutes verheißen konnte. „Setzen! Alle! Sofort! Ms. Lenormand, Sie werden nach der Stunde hier bleiben!"

Sie mussten etwas schreiben. Vanessa starrte die ganze Zeit nur auf ihr Pergament, aber sie wusste, dass die anderen ihr Blicke zuwarfen. Als es zum Ende der Stunde läutete, strömten alle hinaus, nur sie blieb auf ihrem Platz sitzen.

„Tür zu!", bellte Carrow den letzten Schüler an, der die Tür zum Klassenzimmer hinter sich schloss.

„Ms. Lenormand, kommen Sie nach vorne!", befahl er ihr.

Vanessa erhob sich langsam und schritt zu ihm nach vorne. Carrow nahm einen Stuhl und gebot ihr, sich zu setzen. Sie tat es stumm.

Sie saß mit dem Rücken zu ihm. Es war ihr nicht wohl, dass er hinter ihr stand, aber sie blieb trotzdem bewegungslos auf dem Stuhl sitzen und starrte geradeaus.

Carrow machte ein paar Schritte hinter ihr, dann kam er um den Stuhl herum. „Vanessa Lenormand. So viel Potenzial, aber so ein loses Mundwerk", sagte er.

Vanessa wartete jeden Moment, dass sie der Folterfluch treffen würde, aber nichts geschah. Sie verhielt sich still und bewegte sich keinen Millimeter. Carrow zog weiterhin seine Kreise um sie. Er hatte seinen Zauberstab in der Hand. Vanessa sah stur geradeaus.

Irgendwann, wie ihr schien nach einer Ewigkeit, hielt er vor ihr inne und beugte sich zu ihr hinunter. Er stützte seine Hände rechts und links von ihr auf der Stuhllehne ab und kam ihrem Gesicht gefährlich nahe. Ihre Blicke trafen sich. Es war das erste Mal, dass sie sein Gesicht aus der Nähe sah. Er hatte dunkelbraune Augen und um sein Kinn und auf seinen Wangen zeichnete sich ein Bartschatten ab.

Vanessa versuchte, nicht zu blinzeln. Carrow betrachtete sie und schüttelte den Kopf. „Vanessa, Vanessa. Sie wissen hoffentlich, dass Sie in ersten Schwierigkeiten sind." Er trat wieder hinter sie.

„Wissen Sie, Sie haben verdammtes Glück, dass Sie aus einer angesehenen reinblütigen Familie stammen und wir die Schüler nicht ernsthaft verletzen dürfen. Denn sonst …"

Plötzlich spürte Vanessa, wie er ihre Haare mit seinem Zauberstab beiseiteschob, und ein kalter Schauer lief ihren Rücken hinab. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals. Er beugte sich zu ihr hinunter, sodass sein raues Kinn über die Haut ihres Nackens kratze. Am liebsten wäre sie aufgesprungen und hinausgelaufen. Ekel überkam sie. Sie spürte seinen warmen Atem dicht an ihrem Ohr. Sein Zauberstab glitt langsam über die Knochen ihrer Wirbelsäule.

„Denn sonst würde ich es genießen, jeden einzelnen dieser Knochen genüsslich auseinanderzureißen. Dann sieht ihr Gesicht nicht mehr so schön aus. Aber der Dunkle Lord hat uns befohlen, dass wir die Schüler nicht zu sehr … rannehmen dürfen. Also haben Sie Glück gehabt." Er schritt zu seinem Schreibtisch und Vanessa atmete erleichtert auf. „Sie werden Ihre gerechte Strafe bekommen, das schwöre ich Ihnen. Samstagabend um acht in meinem Büro. Nachsitzen."


„Du hast bloß Nachsitzen bekommen?", fragte Sarah völlig erstaunt. „Wow, ich hatte mir alles Mögliche ausgemalt, was er mit dir anstellen würde. Du hast nicht mal den Cruciatus-Fluch abbekommen?"

„Nein, natürlich nicht. Weißt du nicht mehr, was ich zu ihm gesagt habe?", fragte Vanessa ungeduldig. „Das hätte mir doch noch mal den Triumph gegeben. Das wollte er mir nicht gönnen. Mir wäre allerdings der Cruciatus lieber gewesen als Samstagabend Nachsitzen."

„Du bist echt ein bisschen weit gegangen", meinte Sarah.

„Ich weiß. Es ist mir rausgerutscht, weil ich so sauer war."

„Ja. Du warst echt furchterregend! Das hätte dir keiner zugetraut. Die ganze Schule redet schon über dich!"


Eigentlich hatte sich Vanessa ihre Samstagabende anders vorgestellt. Sie hatte in Verwandlung und Zauberkunst bereits lange Aufsätze zu schreiben und hatte unter der Woche keine Zeit, dafür. Jetzt ging auch noch ein Teil ihres Wochenendes drauf.

Übelgelaunt kam sie am Samstagabend in Carrows Büro. Der Todesser saß hinter seinem Schreibtisch und schien bester Laune. Vor sich hatte er Vanessa einen Tisch und einen Stuhl hingestellt, wo sie arbeiten sollte. Um sie herum standen überall Kisten mit Karteikarten, sodass man aufpassen musste, wo man hintrat.

„Ah, Ms. Lenormand, setzen Sie sich doch", gebot er ihr mit einer Handbewegung und grinste sie diebisch an.

Vanessa tat stumm wie ihr geheißen. „Was soll ich tun?", fragte sie nüchtern. Sie hatte sich fest vorgenommen, sich nicht mehr von seiner Person provozieren zu lassen.

„Sie werden etwas schreiben", sagte Carrow schlicht und erhob sich. Mit einem Schwung seines Zauberstabes hob sich ein Karton mit der Aufschrift A-AB in die Luft und landete vor Vanessa. Ein Stapel leerer Karteikarten folgte.

„Ist das… aus der Bibliothek?", fragte Vanessa erstaunt.

„In der Tat", sagte Carrow höchst vergnügt. „Ihre Aufgabe wird sein, dass Sie die Buchtitel von den alten Karten handschriftlich", er legte besondere Betonung auf das Wort, „auf neue übertragen. Madame Pince wollte das schon länger mal tun, aber sie fand nie die Zeit. Da kam es gerade richtig, dass ich ja jemanden habe, der das übernehmen kann."

Machte der Kerl Witze?!, schoss es Vanessa durch den Kopf. „Ernsthaft? Wie viele Bücher sind denn das?", fragte sie vorsichtig.

„Ich kann es Ihnen genau sagen. Es sind 29.743 Buchtitel. Allerdings kommen laufend welche hinzu. Ich würde sagen, Sie fangen am besten gleich an."

„OK und wie lange?"

„Nun, ich denke bis Mitternacht sollten Sie einiges geschafft haben", meinte Carrow. „Vier Stunden sind eine ordentliche Zeit. Nächsten Samstag geht es dann weiter."

„Moment mal, nächsten Samstag?" Vanessa sah ihn entgeistert an.

„Ja, natürlich, was dachten Sie denn? Dass ich Sie mit einmal Nachsitzen davon kommen lasse?" Er beugte sich bedrohlich nahe zu ihr hinunter. „Sie werden fortan jeden Samstagabend hier bei mir sitzen und schreiben. Ich sage Ihnen ganz ehrlich, es ist zu schade, dass Sie in ein paar Monaten Ihren Abschluss machen und dann von dieser Schule verschwinden, denn eines hätte ich garantieren können. Sonst hätten Sie bis zum Rest Ihrer Schullaufbahn bei mir jeden Samstag nachsitzen müssen und wenn es sieben Schuljahre gewesen wären. Fangen Sie an!"

„Wenigstens habe ich dann die Gewissheit", sagte Vanessa trocken, während sie ihre Feder aus der Tasche nahm. „Dass ich auch Ihnen die Samstagabende versaue."

„Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen zuzusehen", gab Amycus zurück, nachdem er sich gesetzt und sich ein Glas Feuerwhiskey eingeschenkt hatte.

Vanessa nahm die erste Karte und begann zu schreiben. Sie würde sich vor dem Todesser mit Sicherheit nicht die Blöße geben.


Ein paar Wochen vergingen. Der Herbst zeigte sich in all seiner Pracht und färbte die Blätter der Bäume bunt. Jeden Samstagabend verbrachte Vanessa in Carrows Büro und schrieb an der Inventarliste für die Bibliothek. Nach fünf Mal hatte sie gerade einmal die Hälfte der ersten Kiste geschafft. Mit all der Schreibarbeit, die sie unter der Woche und am Sonntag zu erledigen hatte, fühlte sich ihr rechtes Handgelenk bald unangenehm steif an und schmerzte. Carrow schien es überaus zu genießen, ihren jeden Samstagabend bei ihrer Quälerei zusehen zu können. Meist korrigierte er Aufsätze seiner Schüler, aber nicht selten trank er gemütlich ein Glas Feuerwhiskey und beobachtete nur, wie Vanessa sich mit ihrem angeschlagenen Handgelenk abmühte, die Feder gerade zu halten und schön zu schreiben. Und er schien sich auch noch diebisch darüber zu amüsieren.

Sie biss die Zähne zusammen, um ihm keine Schwäche zu zeigen. Die Blöße wollte sie ihm nicht geben. Sie war schon immer stur gewesen und hatte noch dazu das Temperamte ihrer Tante geerbt. Diese hatte sich mit ihrem losen Mundwerk und ihrer Angewohnheit, das auszusprechen, was sie dachte, auch das ein oder andere Mal in Schwierigkeiten gebracht. Wieso sollte es bei Vanessa anders sein? Sie hatte Mist gemacht und durfte jetzt die Konsequenzen tragen. Beinahe wünschte sie sich schon, er hätte sie einfach gefoltert und durchgehext und sie dann in Frieden gelassen. Die Stunden in seinem Büro und die frustrierende Arbeit, die kein Ende nehmen wollte, waren viel schlimmer.

Im Oktober schließlich ging es nicht mehr anders. Vanessas Handgelenk schmerzte so sehr, dass sie zu Madame Pomfrey gehen musste. Als der Todesser im Unterricht den Verband sah, den sie tragen musste, hatte er nur ein herablassendes Grinsen für sie übrig. Vanessa war wütend, genervt und frustriert.

„Wie ich sehe, zeigt die Bestrafung langsam Wirkung", meinte er am darauffolgenden Samstag.

Vanessa konnte zwar schreiben, aber es ging viel langsamer voran als davor. Sie funkelte ihn nur böse an. „Das gefällt Ihnen was?"

„Ein Anblick für Götter!", verkündete er theatralisch.

Vanessa lachte kurz auf. „Ja, das kann ich mir vorstellen. Vor allem, wenn so ein … junges hübsches Mädchen vor Ihnen sitzt, nicht wahr?"

„Bilden Sie sich nicht zu viel auf sich ein", sagte Carrow gelassen.

„Naja, als ich in der ersten Stunde ins Klassenzimmer kam", sagte Vanessa, während sie ihre Feder ins Tintenfass tauchte, „da hatte ich Ihre volle Aufmerksamkeit."

„Passen Sie auf, was Sie sagen", mahnte er sie.

„Was wollen Sie tun? Ich sitze doch schon nach bei Ihnen und mache diese Sisyphusarbeit hier. Schlimmer kann es nicht werden", sagte sie sarkastisch.

„Haben Sie eine Ahnung. Ich könnte alles Mögliche machen, aber der Anblick gefällt mir doch zu sehr", entgegnete Carrow. Das Rascheln einer Tüte war zu hören.

„Was essen Sie da?", wollte Vanessa wissen.

Er hielt ihr die Tüte hoch, sodass sie selbst sehen konnte. „Ernsthaft? Die Dinger esse ich auch gerne", meinte sie. Wie es aussah, konnte alles noch schlimmer werden.

„Dann hoffe ich mal, dass ich Ihnen gehörig den Appetit darauf verderbe."

Mit Schokolade überzogene getrocknete Äpfel aus dem Honigtopf waren ab sofort für Vanessa gestrichen.


Je mehr Zeit verging, desto mehr verließ Vanessa die Lust auf die Schule. Ihr siebtes und letztes Jahr hätte etwas Besonderes werden sollen, mit dem Abschlussball und der Zeugnisvergabe, aber es war so unerträglich geworden, dass jeder Tag nur noch zur Quälerei wurde. Sie hatte morgens schon gar keine Lust mehr aufzustehen, vor allem samstags nicht. Das Wochenende bot ihre keine Erholung mehr vom Unterricht und allmählich ging ihr Carrow auf die Nerven. Es kam ihr schon vor, als sehe sie ihn öfter als ihre Freunde. Für einen Lehrer sah sie ihn definitiv zu oft.

Wenn sie bei ihm im Büro saß, packte sie schreckliche Nervosität und Unruhe und ihr Blick glitt permanent auf die Uhr. Die Zeit schien ihr Streiche zu spielen, denn sie wollte gar nicht mehr vergehen. Von Mal zu Mal kam es ihr vor, als dauerte das Nachsitzen länger, dabei verließ sie ihn immer um Mitternacht, keine Minute später. Wut und Frustration über die Ungerechtigkeit hatten sich in ihr angestaut und manchmal kam auch noch Aggression dazu, sodass sie sich schwer zusammenreißen musste, nicht wieder freche Widerworte zu geben oder sich auf Carrow zu stürzen und ihn zu verhexen.

Was sie besonders ärgerte, war, dass er genau merkte, wie es in ihr brodelte und sich daran königlich amüsierte. Sein Blick und sein fieses Grinsen sprachen Bände. Er wollte sie herausfordern und aus der Reserve locken, um zu sehen, ob sie ihre Lektion gelernt hatte. Den Triumph wollte sie ihm nicht gönnen.

Der Oktober ging allmählich in den November übrig und Vanessas Nerven waren überstrapaziert. Als sie auch noch erfuhr, dass der Weihnachtsabend in diesem Jahr ein Samstag war, brach sie halb in Tränen aus. Carrow hingegen schien höchst erfreut darüber.

„Meine Schwester wird ohnehin nicht zugegen sein, also können wir beide uns amüsieren."

Sie entwickelte langsam eine regelrechte Abscheu gegen sein Klassenzimmer, sein Büro und gegen ihn. Die nie enden wollende, ergebnislose Arbeit trieb sie buchstäblich in den Wahnsinn. Der Stress in der Schule zehrte zusätzlich an ihrer Substanz. McGonagall und die anderen Lehrer mochten nicht mit der Leitung der Schule und den Praktiken der Todesser einverstanden sein, an ihrer Strenge oder ihren Erwartungen an ihre Schüler hatte es allerdings nichts geändert. Die Siebtklässler, die in wenigen Monaten Prüfungen haben würden, erstickten in Hausarbeiten und dem Lernen.


Als Vanessa das nächste Mal zum Nachsitzen kam, war ihr schon nicht wohl. Sie hatte während der Woche kaum geschlafen oder gegessen und nur Aufsätze geschrieben, sodass sie vor lauter Anspannung kurz vor den Tränen stand. Als sie dann aufstehen wollte, um sich einen neuen Karton Karteikarten zu holen, sank sie erschöpft und kraftlos auf den Boden und konnte nicht mehr aufstehen. Ihre Beine wollten sie nicht mehr tragen und die Kiste war viel zu schwer. Der Frust und der Kummer der letzten Wochen, die sich in ihr angestaut hatten, brachen aus ihr heraus. Sie konnte sich nicht mehr gegen die Tränen wehren.

Carrow, der in die Korrektur eines Aufsatzes vertieft gewesen war, bemerkte sie erst gar nicht, wie sie auf dem Boden saß und schluchzte.

„Ms. Lenormand, Sie haben noch viel zu tun. An Ihrer Stelle würde ich weitermachen. Ms. Lenormand?"

Vanessa reagierte nicht. „Was ist mit Ihnen?! Machen Sie weiter!", blaffte er sie an, doch Vanessa protestierte mit einem Kopfschütteln. „Ich kann nicht …", sagte sie schwach. Ihre langen Haare, die wie ein Schleier nach vorne fielen, verdeckten ihr tränenverschmiertes Gesicht.

„Was soll das heißen, Sie können nicht?!"

„Ich…" Sie versuchte aufzustehen, aber schaffte es nicht. „… komme nicht hoch …"

Wütend erhob sich Carrow, packte sie grob am Oberarm und zerrte sie zurück auf ihren Stuhl.

„Seien Sie nicht so zimperlich, Sie …" Er wollte gerade etwas Gemeines sagen, als er ihr Gesicht sah und erstarrte. Er sah sie entgeistert an.

„Was ist mit Ihnen los?!"

„Es war alles ein bisschen viel in der letzten Zeit", sagte sie heiser. „Schon gut, ich … ich mach ja schon …" Sie nahm ihre Feder, aber ihre Finger zitterten so stark, dass sie nicht mehr schreiben konnte.

Carrow beobachtete sie einen Moment von der Seite, dann sah er auf die Uhr. Es war zwanzig nach elf und sie hatten noch fast eine Dreiviertelstunde. Vanessa zweifelte, dass sie durchhalten würde.

„Ist schon gut", sagte er dann ungewohnt ruhig und zu ihrer Überraschung nahm er ihr die Feder aus der Hand. Vanessa zuckte auf seine Berührung fürchterlich zusammen, weil sie Angst hatte, er würde ihr etwas tun. „Na, ich beiße nicht, Mädchen. Sie können für heute gehen. Sie müssen nicht weitermachen."

Vanessa konnte nicht glauben, was er sagte. „Aber soll ich nicht … ich meine … bis Mitternacht …"

„Ich weiß, sonst arbeiten Sie immer bis zwölf, aber … Heute belassen wir es dabei. Gehen Sie schon."

So gut es ging, packte sie ihre Sachen und erhob sich. Er begleitete sie durch den Raum und hielt ihr die Tür auf.

„Schaffen Sie es bis nach oben in Ihren Turm?", fragte er.

„Ja", sagte Vanessa, auch wenn sie sich nicht sicher war. Sie wollte nicht, dass er womöglich mitkam. Sie hatte schon genug Schwäche vor ihm gezeigt. „Danke", hauchte sie beim Hinausgehen.

„Gute Nacht."

Amycus Carrow blieb nachdenklich zurück. Einerseits freute es ihn wie sonst nichts, dass das Mädchen ihre gerechte Strafe bekam und dass das Nachsitzen endlich seine Wirkung zeigte, dennoch hätte er nicht gedacht, dass so etwas passieren würde. Das hübsche Mädchen mit dem losen Mundwerk war zu einem Häufchen Elend zusammengesunken. Er konnte nicht behaupten, dass es ihm sonderlich leid tat, bedachte man, wie sie ihn beleidigt hatte, aber dennoch rührte es an etwas in ihm.

Natürlich war ihm von Anfang an aufgefallen, dass sie ein verdammt hübsches, junges Ding war. Er war immerhin ein Mann und erkannte eine schöne Frau, wenn er eine sah. Sie stach aus der Masse der anderen Schüler heraus. Ihr bildschönes Gesicht so blass und tränenverschmiert zu sehen, das starke, selbstbewusste Mädchen so erschöpft und kraftlos vor sich zu haben, erschreckte ihn doch ein wenig. Sie hatte gerade einmal zwei Monate bei ihm nachsitzen müssen. Wie würde sie wohl bis zum Ende des Schuljahres aussehen? Eigentlich mochte er sich das nicht vorstellen.

Als ihr Gesicht vor seinem geistigen Auge erschien, spürte er plötzlich ein Brennen an seinem Unterarm. In seiner Gedankenlosigkeit dachte er schon, der Dunkle Lord würde ihn rufen, doch es war nicht der linke, sondern der rechte Unterarm.


Vanessa schämte sich. Sie schämte sich so sehr, dass der nächste Samstag sie verdammt viel Überwindung kostete. Nachdem sie von Carrow früher entlassen worden war, war sie sofort in ihren Schlafsaal gegangen und hatte sich ins Bett gelegt. Sie war erst Sonntag am frühen Nachmittag wieder aufgewacht. Von da an ging es ihr besser und sie nahm sich vor, besser auf sich Acht zu geben.

„Sie sehen besser aus", sagte Amycus, als sie in sein Büro kam. „Ich hatte mir ja schon Sorgen gemacht."

Vanessa war nicht in der Stimmung, etwas zurück zu sagen, sondern setzt sich nur kommentarlos auf ihren Platz und begann mit der Arbeit. Es schien ihn zu irritieren, dass sie nichts Bissiges zurücksagte, denn er musterte sie erstaunt. Er sah so aus, als wolle er etwas sagen, doch besann sich und widmete sich einem Buch.

Als es halb zwölf war, erhob sich der Todesser und deutete Vanessa, dass sie gehen durfte. Sie blieb jedoch.

„Was ist? Sie dürfen gehen."

„Ich wollte Ihnen gerne was sagen", sagte Vanessa und nahm ihren ganzen Mut zusammen.

„Und was?"

„Es tut mir leid", sagte Vanessa und es fiel ihr sichtlich schwer, die Worte gegenüber Carrow auszusprechen.

„Was tut Ihnen … Oh, verstehe." Seine Miene hellte sich auf.

„Es tut mir leid, was ich in der Stunde zu Ihnen gesagt habe. Das war nicht so gemeint und ist mir in meiner Wut rausgerutscht."

Carrow nickte anerkennend. „Soll das also eine Entschuldigung sein?"

Vanessa nickte verlegen.

„Das nehme ich zur Kenntnis. Sie wissen aber hoffentlich, dass Sie deswegen nicht weniger nachsitzen müssen?"

„Ja, das weiß ich. Ich wollte es aber trotzdem sagen", sagte Vanessa und ging. Als sie an der Tür war, war der Todesser plötzlich hinter ihr und hielt sie zurück.

„Warten Sie mal", sagte er. „Sie haben mir beim letzten Mal einen kleinen Schrecken eingejagt. Ich will ja nicht, dass ihrem hübschen Gesicht was passiert. Von jetzt an müssen sie nur noch bis halb zwölf arbeiten."

„Ist das Ihr Ernst?", fragte Vanessa skeptisch.

„Das ist mein voller Ernst."

Zum ersten Mal seit Langem war Vanessa wieder zu einem Lächeln zumute. „Vielen Dank. Gute Nacht, Professor."


Bei den nächsten Treffen fühlte sich Vanessa besser. Eine halbe Stunde weniger war nicht viel, aber zumindest etwas. Nach ihrer Entschuldigung war Carrow deutlich freundlicher zu ihr und sie wechselten ab und an ein paar normale Worte miteinander. Auch wenn Vanessa die Stunden mit ganzem Herzen hasste und an jedem anderen Ort lieber gewesen wäre, musste sie dennoch zugeben, dass der Todesser sogar ganz umgänglich sein konnte, wenn man sich gut mit ihm stellte. Dass sie ihm auch den Hauch von etwas positivem abgewinnen konnte, gefiel ihr so gar nicht.

Während der Stunden, die sie in seinem Büro verbrachte, fiel ihr immer wieder auf, dass Carrow sich oft an seinem rechten Unterarm kratzte. Zuerst dachte sie schon an das Dunkle Mal, bis ihr einfiel, dass sich dieses ja am linken Unterarm befand. Außerdem hatte ihr ihre Tante gesagt, dass es brannte, wenn der Dunkle Lord seine Anhänger rief, aber nicht juckte. Irgendetwas anderes musste also mit ihm los sein.

Es war im November, als Vanessa wieder einmal einen Samstagabend bei ihm saß. Es war kurz vor halb zwölf und er hatte gesagt, dass sie gehen durfte. Er begleitete sie zur Tür. In dem Moment als er die Klinke mit seiner rechten Hand herunterdrücken wollte, fiel Vanessa etwas auf. Der Ärmel seines Umhanges war nach hinten gerutscht und entblößte seine Haut. Ihr wurde sofort klar, warum er sich die ganze Zeit gekratzt hatte.

„Professor, was haben Sie da?", fragte sie und deutete auf seinen Unterarm, der schuppig und rau war.

„Nichts, schon gut. Gehen Sie jetzt", gebot ihr der Todesser.

„Nein, das sieht ja echt übel aus."

Er konnte nichts tun. Vanessa hatte schon seinen Ärmel genommen und ihn nach oben geschoben. Entsetzt blickte sie auf die Haut, die wund und entzündet war. Sie war trocken und schuppig und er hatte sich blutig gekratzt.

„Professor!", sagte sie ernst. „Was haben Sie denn gemacht? Das sieht nicht gut aus!"

Sie drängte ihn auf den Stuhl, auf dem sie zuvor gesessen war, und betrachtete seinen Unterarm eingehend.

„Wie lange haben Sie das denn schon? Waren Sie nicht bei Madame Pomfrey?"

Er verneinte. „Das ist nichts", sagte er und entwand sich ihrem Griff. Er wollte seinen Arm schon wieder mit dem Ärmel bedecken, aber Vanessa hielt ihn energisch davon ab.

„Nichts, ja, das sehe ich! Warten Sie mal hier!"

Sie durchquerte die Tür, die in seine angrenzenden privaten Räume führte, und ging in das kleine Badezimmer. Im Medizinschränkchen über dem Waschbecken fand sie sofort, was sie suchte.

„Hey, was machen Sie denn da?!", fragte Carrow verärgert, aber sie ließ ihm keine Zeit, etwas zu tun. Schon war sie zurück in seinem Büro.

Sie hatte zwei kleine Glasphiolen mitgebracht, eine mit einer blauen, die andere mit einer roten Flüssigkeit gefüllt, die sie beide aufschraubte und in eine Schüssel gab.

„Das darf man nicht mischen!"

„Doch, das sehen Sie doch, dass man das darf."

Die Mischung dickte sich an und nahm die Konsistenz einer Salbe an. Sie wurde weiß. Ehe Carrow protestieren konnte, nahm Vanessa etwas auf ihren Finger und strich es auf seine Haut. Er zuckte zusammen und sog pfeifend die Luft ein.

„Ich weiß, das brennt etwas, aber gleich wird es besser werden", versicherte ihm Vanessa und trug den Rest der Salbe auf seinen gesamten Unterarm auf.

Als sie geendet hatte, sah sie sich hilfesuchend nach einem Verbandsmaterial um. Schließlich nahm sie ihr Halstuch, das sie trug, und wickelte es vorsichtig um seine Haut.

Er starrte sie nur fassungslos an.

„Besser?", fragte sie.

„Ja. Könnten Sie mir vielleicht mal erklären, was das sollte? Was haben Sie da draufgeschmiert?!"

Vanessa grinste. „Keine Angst, ich wollte Sie nicht vergiften. Ich habe zwei Heiltränke zusammengemischt. Die Pflanzen da drin sollten Ihnen helfen."

Carrow musterte den Verband, den sie gemacht hatte. „Das sieht sehr … gut aus. Kennen Sie sich mit Heilen aus?"

„Ein wenig, ja. Ich möchte nach der Schule Heilerin werden", sagte Vanessa.

„Verstehe."

„Verraten Sie mir jetzt mal, was das war? Das sah wirklich übel aus! Wieso sind Sie damit nicht zu einem Heiler gegangen? Das hätte sich viel schlimmer entzünden können."

„Das ist eben manchmal bei mir. Was Falsches gegessen oder Stress oder keine Ahnung. So schlimm war es zugegeben noch nie."

„Was hat das denn ausgelöst?", wollte Vanessa wissen.

„Es hat angefangen, als Sie in meinem Büro fast zusammengebrochen sind", sagte Carrow. „Seitdem ist es immer schlimmer geworden."

Vanessa grinste. „Waren Sie etwa so um mich besorgt?", fragte sie leise.

Sie sahen sich in die Augen und für einen Moment vergaß Vanessa völlig, wo sie gerade war oder dass sie eben gerade noch hatte gehen wollen. Sie wurde zu sehr von seinen warmen, braunen Augen vereinnahmt.

„Nein. Das hätten Sie wohl gerne, oder?"

„Vielleicht. So viel Zeit, wie wir miteinander verbringen, da würde es mich nicht wundern, wenn Sie schon von mir träumen", scherzte sie mit einem Lächeln.

„Sie wollen also Heilerin werden, ja? Haben Sie schon mal ein Praktikum im St. Mungo-Hospital gemacht?"

„Oh, ähm… Nein. Wissen Sie, ich möchte nicht Heiler für Menschen, sondern für Tiere werden", sagte Vanessa etwas verlegen.

„Oh. Na dann", sagte Carrow. „Ein seltsamer Wunsch. Wie kommt das?"

„Ich hatte seit meiner Kindheit den Wunsch, Heilerin zu werden. Aber ich hatte auch immer mit Tieren zu tun. Wissen Sie, meine Familie hat ein Hofgestüt mit Pferden und Rindern und allem möglichem. Ich habe da in den Ferien immer mit den Tieren gearbeitet. Und so entstand der Wunsch."

„Verstehe. Ist aber trotzdem gut geworden", meinte er mit Blick auf den Verband. Er lächelte und es gefiel Vanessa irgendwie, weil es nicht gemein oder herablassend, sondern ehrlich war. „Es gibt in London eine Schule, nicht wahr? Wollen Sie die besuchen?"

„Ja, allerdings ist es schwer aufgenommen zu werden. Ich hoffe, dass mein Zeugnis gut wird. Bewerben muss ich mich ja mit dem vom letzten Jahr und da bin ich mir nicht sicher, ob ich die erforderliche Note in Zauberkunst geschafft habe", sagte Vanessa. „Die Sorge darüber hat mich kürzlich wahrscheinlich auch etwas arg geschafft. Meine Prüfungsergebnisse müssen exzellent werden, wenn ich die Ausbildungsstelle kriegen möchte."

„Ich bin mal zuversichtlich, dass Sie das schaffen werden", sagte Amycus Carrow. „Sieht ja schon sehr professionell aus." Er hielt seinen Arm hoch.

„Und? Ist es schon besser?"

„Viel besser. Zuerst brennt es, aber dann … geht's."

„Machen Sie das ein paar Mal, bis es weg ist. Sie wissen noch, welche Tränke ich benutzt habe?"

„Ja."

Sie nahm ihre Tasche und ging.

„Warten Sie! Was ist mit ihrem Schal?"

„Geben Sie ihn mir irgendwann zurück. Machen Sie das mit der Salbe weiter. Gute Nacht."

„Danke … dafür", sagte der Todesser, doch Vanessa war schon hinausgerauscht.

Er blieb betreten in seinem Büro zurück und wusste nicht, was er denken sollte. Es war nett von ihr gewesen und sie war so besorgt um ihn gewesen, das hätte er nicht zugetraut. Und sie hatte ihm noch dazu geholfen. Die Heiler, die er in der Vergangenheit besucht hatte, waren immer ratlos gewesen, sodass er es irgendwann aufgegeben und akzeptiert hatte. Vanessa Lenormand hatte geschafft, was er nicht für möglich gehalten hatte.

Ihr Berufswunsch war ungewöhnlich für ein junges Mädchen, aber er war zugegeben beeindruckt. Er hatte ihr verschwiegen, dass er jemanden in der Heilerschule kannte. Ihm kam eine Idee.


Es war die Doppelstunde Verteidigung gegen die dunklen Künste. Vanessa und die anderen erhielten ihre Aufsätze zurück, die sie als Hausaufgabe hatten schreiben müssen. Sie war erstaunt, dass sie eine gute Note bekommen hatte, dabei hatte sie gedacht, dass ihr Geschriebenes nicht sonderlich gut war.

Sie las gerade die Anmerkungen durch, die Carrow an den Rand des Pergaments geschrieben hatte, da bemerkte sie, dass er ihr zwei Blätter statt eines zurückgegeben hatte. Verwundert zog sie es aus der Pergamentrolle heraus.

Als sie die Überschrift las, erstarrte sie. Es war eine Bestätigung über die Aufnahme an der Heilerschule in London. Sie konnte zum kommenden Semester anfangen.

„Was hast du da?", fragte Sarah, die neben ihr saß, doch Vanessa versteckte das Papier schnell.

„Nichts, gar nichts."

Sie wusste nur zu gut, auf wessen Konto das ging, doch warum tat er das? Nach der Stunde blieb sie im Klassenzimmer und stellte Amycus Carrow zur Rede.

„Ist das Ihr Werk?", fragte sie ihn und knallte den Schrieb auf sein Pult.

„Wer weiß."

„Ich hab keine Lust auf solche Spielchen, Professor!", ereiferte sich Vanessa. „Was soll das? Warum haben Sie das gemacht?"

Das war eine gute Frage und Amycus konnte sie nicht beantworten. Er wusste nicht, warum er es getan hatte, er hatte nur einfach das Gefühl gehabt, es tun zu müssen.

„Ich … hab Ihnen einen Gefallen getan, oder etwa nicht? Sie wurden aufgenommen, also freuen Sie sich doch."

„Natürlich freue ich mich", sagte Vanessa. „Das ist mein Traum, seit ich fünf Jahre alt war! Aber Sie, Sie haben einfach …" Sie seufzte und brach an. Sie wusste ohnehin nicht, was Sie sagen sollte. „Erwarten Sie jetzt kein Dankeschön!", stellte sie klar, nahm ihr Pergament und rauschte mit wehendem Umhang hinaus.

Amycus brauchte kein Dankeschön. Sie so selbstbewusst und trotzig zu sehen, so überhaupt nicht eingeschüchtert in seiner Gegenwart, wie sie ihn immer wieder herausforderte, genügte ihm vollkommen.


Sie war sauer. Oh, ja, Vanessa war noch nie so sauer gewesen. Was bildete sich der Kerl eigentlich ein, sich so in ihr Leben einzumischen? Sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. Warum hatte er das gemacht? Er hatte kein Recht dazu.

Beim Nachsitzen funkelte sie ihn immer wieder böse an und ihr Fuß wippte die ganze Zeit nervös auf und ab. Carrow wusste genau, weswegen sie schmollte. Er sagte nichts, sondern zwinkerte ihr nur mit einem verschmitzten Grinsen zu, was sie ziemlich auf die Palme brachte.

Sie war wütend auf ihn und das gefiel ihr überhaupt nicht. Sie beschäftigte sich seit geraumer Zeit zu viel mit ihm. Andauernd schlich er sich in ihre Gedanken, sodass sie manchmal im Unterricht etwas geistesabwesend war. Wenn McGonagall sie zurechtwies, verfluchte sie Amycus Carrow innerlich.

Was hatte sie falsch gemacht? Ihr kam es vor, als hätten sich alle gegen sie verschworen. Zu allem Überfluss schmerzte ihr Handgelenk schon wieder unangenehm.


Es war das letzte Nachsitzen vor den Weihnachtsferien. Das ganze Schloss war schon in festlicher Stimmung und dekoriert, doch Vanessa konnte sich dieses Jahr überhaupt nicht darauf freuen. Das neue Jahr bedeutet, nur noch sechs Monate bis zu den Prüfungen und die Siebtklässler mussten allmählich beginnen, den Stoff zusammenzuschreiben und zu wiederholen. In einem Fach mussten sie zudem eine fachbezogene Präsentation über ein vorgegebenes Thema halten und Vanessa hatte keine Ahnung, was sie machen sollte.

Missmutig saß sie am Tisch und schrieb die Buchtitel mit AF ab. Sie war so in Gedanken vertieft, dass sie gar nicht bemerkte, wie Carrow hinter ihr stand.

„Ms. Lenormand?"

Sie machte einen Satz in die Luft. „Sind Sie verrückt, Sie können mich doch nicht so erschrecken!", fluchte sie, doch er lachte nur.

„Es ist schon zehn vor zwölf. Ich schätze es ja, wenn Sie länger bleiben wollen, aber … Sie dürfen ja früher gehen."

Entnervt packte Vanessa ihre Sachen und wollte gehen.

„Ich habe etwas für Sie", sagte er und holte ihr Halstuch aus seiner Tasche. „Ich wollte Ihnen das zurückgeben."

Vanessa starrte wie in Trance auf ihr Kleidungsstück, dann war plötzlich ihr Ärger über ihn wie verflogen. Sie hatte gar nicht mehr an das Tuch gedacht, dass sie ihm vor so vielen Wochen gegeben hatte. Es jetzt wiederzusehen und von ihm zurückzubekommen, erfüllte sie irgendwie mit Freude.

Sie nahm es entgegen, ohne den Blick davon zu nehmen. „Es hat gut gewirkt. Ich hab es den Hauselfen zum Waschen gegeben. Ms. Lenormand, alles in Ordnung?"

„Was? Oh, ja", sagte sie schnell. Ihre Gedanken überschlugen sich gerade. Dann traf sie einen Entschluss. Sie gab es ihm zurück.

Er sah sie fragend an. „Das gehört doch Ihnen und ich brauche es nicht mehr. Sehen Sie." Er rollte seinen Ärmel nach oben. Seine Haut war wieder völlig gesund.

„Behalten Sie es", sagte Vanessa. „Das ist … mein Weihnachtsgeschenk für Sie."

„Ihr … Geschenk für mich?"

Sie nickte. „In ein paar Monaten mache ich Abschluss und werde die Schule verlassen. Dann sehen wir uns ja nicht mehr. Ich habe dieses Jahr mit Ihnen mehr Zeit verbracht, als mit manchen meiner Freunde. Behalten Sie es als Erinnerung an die Samstagabende, die sie mit mir hier zusammen sitzen mussten."

„OK, das werde ich tun", sagte er.

Er hielt ihr die Tür auf, als sie hinausging, aber anstatt in seinem Büro zu bleiben, begleitete er sie diesmal auch durch das Klassenzimmer, bis auf den Gang hinaus. Die Tür zum Klassenraum war natürlich geschlossen. Vanessa wollte schon nach der Klinke greifen, doch Carrow hatte offenbar dasselbe im Sinn gehabt. Ihre Hände berührten sich für einen kurzen Moment.

„Entschuldigung", sagte er leise. Vanessa nickte nur und wollte so schnell es ging hinaus. Sie verstand nicht, warum sie sich plötzlich so leicht fühlte. Dass er ihr Tuch als Geschenk angenommen hatte, erfüllte sie mit Glück und insgeheim war sie schon gespannt auf den Heiligabend, wenn sie bei ihm sein würde.


Weihnachten schien sogar an den Todessern nicht vorbeizugehen. Als Vanessa am 24. Dezember in Amycus Carrows Büro kam, sah sie, dass auf seinem Schreibtisch ein Tannenzweig lag, auf dem eine rote Kerze brannte.

Vanessa nahm wie üblich an ihrem Tisch Platz und machte mit der Arbeit weiter. AF war zum Glück kein umfangreicher Buchstabe, sodass sie heute zu AG übergehen konnte. Carrow war nicht da, aber sie konnte seine Stimme von nebenan hören. Er sprach mit einer Frau, die Vanessa leicht als seine Schwester identifizierte. Sie arbeitete schon ein paar Minuten, als er in das Büro zurückkam.

„Bei Merlin, Sie sind ja schon da", sagte er überrascht. „Es ist doch erst sieben vor acht. Was ist mit Ihnen los? Ich weiß, Sie hatten das dringende Bedürfnis, mich zu sehen."

Vanessa schnaubte. „In Ihren Träumen!", sagte sie und fügte leise hinzu: „Vielleicht kann ich ja dann eher …"

„Ach so, Sie halten sich also für ganz schlau, ja?"

„War ja nur ein Gedanke." Vanessa zuckte mit den Schultern und schrieb weiter.

Um kurz nach elf machte sie eine kurze Pause und gähnte ausgiebig. Dabei bemerkte sie, dass Carrow gar nicht mehr an seinem Tisch saß. Er war nach nebenan gegangen. Als er zurückkam, hatte er einen Teller und Flasche dabei. Wahrscheinlich trank er wieder Feuerwhiskey, schoss es Vanessa durch den Kopf und sie konnte nur die Augen verdrehen.

Sie hatte das Zeug natürlich schon mal probiert, weil ein paar Freunde sie überredet hatten. Sie fand, es gab nichts Widerlicheres als Feuerwhiskey. Bereits der Anblick oder der Geruch ließen sie erschaudern und sie fragte sich ernsthaft, wie der Todesser das Gesöff trinken konnte.

Sie sah auf die Uhr und jubelte innerlich, dass es bald vorbei war. Da fiel ihr ein, dass sie ja fragen wollte, ob sie wenigstens heute an Weihnachten früher gehen durfte, noch dazu, weil sie ja früher angefangen hatte.

„Professor? Haben Sie es sich überlegt?"

„Ob Sie früher gehen dürfen, weil sie auch früher hier waren? Hm …", sagte er und tat so, als würde er überlegen. „Nein."

„Ach, warum denn?"

„Keine Chance."

„Es ist Weihnachten!", protestierte Vanessa.

„Richtig und weil wir beide das ja dieses Jahr zusammen verbringen müssen, können wir uns das ganze ja wenigstens vergnüglich gestalten. Kommen Sie! Nehmen Sie Ihren Stuhl mit."

Er winkt sie zu sich. Vanessa legte ihre Feder beiseite, nahm ihren Stuhl an der Lehne und setzte sich zu ihm.

„Was … wird denn das?", fragte sie unsicher.

„Trinken Sie ein Glas mit mir?"

„Oh, nein, danke. Das ist doch Feuerwhiskey, oder? Das mag ich nicht."

„Nein. Das ist Rotwein", sagte Carrow und zeigte ihr die Flasche. „Mögen Sie sowas?"

„Ich … hab es noch nie probiert", sagte Vanessa, der sichtlich unwohl dabei war, in Gegenwart eines Todessers zu trinken.

„Kommen Sie, trinken wir ein Glas. Auf Weihnachten." Er schenkte ihr etwas ein und überreichte ihr das Glas.

„Hey, ich will Sie schon nicht abfüllen", sagte er, nachdem er ihr misstrauisches Gesicht gesehen hatte. „Da gäbe es andere Wege."

Schließlich ließ sie sich überreden und sie stießen an. Der Rotwein schmeckte gar nicht schlecht und Augenblicke später spürte sie schon die wärmende Wirkung des Alkohols.

„Plätzchen? Da ist auch kein Gift drin, versprochen. Das haben die Hauselfen gebacken."

Vanessa nahm eines. Es schmeckte hervorragend. „Danke."

Als sie ihr Glas geleert hatte, schenkte sie sich nach. Ihr war lustig zumute. „Ich glaube, wenn ich jetzt nicht mehr Nachsitzen bei Ihnen hätte, dann würde mir etwas fehlen." Sie wusste nicht, warum sie das gesagt hatte.

„Ehrlich? Sind Sie so gerne hier bei mir? Das ehrt mich aber wirklich", meinte Carrow.

Sie erwiderte nichts auf seinen Kommentar hin. Mittlerweile hatte sie nicht mehr so ein Problem in seiner Gegenwart. Manchmal fand sie es sogar überaus amüsant.

„Ich meine, das Nachsitzen ist irgendwie so zur Routine für mich geworden, dass das schon dazu gehört. Ich bin seit vier Monaten jeden Samstag bei Ihnen. Mein längstes Nachsitzen war eine Woche bei McGonagall. Irgendwie gehören Sie … allmählich auf eine beunruhigende Art und Weise zu meinem Leben dazu."

„Würde es Sie noch mehr beunruhigen, wenn ich Ihnen sage, dass ich ein Geschenk für Sie habe?", fragte Carrow leise.

Vanessa stutzte. „Ein Geschenk?"

Er griff in seine Schreibtischschublade und holte eine kleine Papiertüte heraus. Vanessa erkannte es sofort. „Sie haben doch gesagt, dass Sie das gerne essen."

Es war ihre Lieblingssüßigkeit aus dem Honigtopf, die, die sie sich vorgenommen hatte, nicht mehr zu essen, weil Amycus Carrow sie auch mochte.

„Als ich gesehen habe, dass Sie das mögen, wollte ich das nicht mehr kaufen", gab sie peinlich berührt zu.

„Jetzt bin ich gekränkt!", sagte er nicht ganz ernst gemeint. Er zwinkerte ihr zu, als er ihr das Tütchen überreichte. Vanessa konnte nicht verhindern, dass Hitze in ihre Wangen stieg. Es musste der Alkohol sein, redete sie sich ein. Sie war über sich selbst erschrocken, aber sie spürte plötzlich das Bedürfnis, ihm um den Hals zufallen, unterdrückte es aber und schob diesen Gedanken schnellstmöglich beiseite.

Sie saßen noch weit bis nach Mitternacht zusammen und tranken Wein. War die letzten Wochen keine Freude über Weihnachten bei Vanessa aufgekommen, wollte sie es jetzt nicht anders verbringen als in Amycus Carrows Büro.


Nach Weihnachten hatte sich spürbar etwas verändert. Wenn jetzt der Samstag kam, dann empfand es Vanessa nicht länger als Last, zum Nachsitzen gehen zu müssen. Jedes Mal, wenn sie Amycus Carrow sah, dann war ihr das Schreiben leichter und es machte ihr nicht mehr so viel aus. Die Zeit verging ebenfalls schneller. Und bei dem Todesser hatte sie auch das Gefühl, dass er sich nicht mehr an ihren Mühen über die leidvolle Arbeit erfreute, sondern an ihr, dass sie ihre Samstagabende bei ihm verbrachte.

Sie hatte sein Weihnachtsgeschenk in ihrem Koffer aufbewahrt und manchmal nahm sie es heraus und betrachtete es. Er war seltsam und beängstigend, wie oft er ihre Gedanken besetzte und wie schnell sie vergessen hatte, wer er eigentlich war und warum er in Hogwarts war. Wenn sie vorher geahnt hätte, was bei ihrem nächsten Nachsitzen passieren würde, dann hätte sie vielleicht etwas anders gedacht.

Es war kurz vor halb zwölf und Vanessa war für heute fertig mit ihrer Arbeit. Amycus leerte seine Glas Feuerwhiskey, während sie ihre Sachen zusammenpackte.

„Gute Nacht."

Sie hatte ihre Hand auf den Griff der Tür gelegt und die Tür bereits einen Spalt geöffnet, als sie plötzlich jemanden dicht hinter sich spürte. Amycus Carrow stand hinter ihr und drückte die Tür langsam zu. Vanessa fand sich zwischen ihm und der Tür. Ihr Herz begann, laut gegen ihre Rippen zu pochen.

„Ich bekomme noch ihre Hausaufgabe. Den Aufsatz", erinnerte er sie.

„Ich werde mich morgen ran setzen", sagte Vanessa. „Gute Nacht, Professor."

Sie wollte von ihm weg, aber er ließ sie nicht gehen. Er schob ihre Haare beiseite, doch diesmal benutzte er nicht seinen Zauberstab, sondern seine Hand und seine Fingerspitzen streiften die Haut in ihrem Nacken. Vanessa stand wie gelähmt an der Tür und wusste nicht, wie ihr geschah. Sie konnte sich nicht mehr bewegen. Sie wagte es nicht, sich umzudrehen. Ein Schauer fuhr durch ihren Körper.

Carrow war so dicht bei ihr, dass sich ihre Körper berührten. Vanessa schossen alle möglichen Szenarien durch den Kopf, was der Todesser tun würde, doch mit dem, was dann folgte, hätte sie niemals gerechnet.

Er küsste sie. Er küsste sie seitlich auf den Hals und seine Hände strichen langsam über ihre Taille und dann über ihre Hüften. Eine Gänsehaut lief über ihre Haut. Sie wollte protestieren, sie wollte nicht zulassen, was er tat, doch ein Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet und sie konnte nicht sprechen. Und auch wenn ihr Verstand ihr sagte, dass dies, was gerade passierte, absolut falsch war, so sagte ihr Körper etwas anderes. Sie spürte auf einmal ein Kribbeln in ihrem Bauch und ein wohliges Gefühl bereitete sich in ihrem Unterleib aus. Sie merkte, wie sie sich allmählich entspannte.

Carrow küsste weiter ihren Hals und er wurde fordernder. Seine Hände glitten von ihren Hüften wieder nach oben, diesmal zu ihrer Brust. Er war vorsichtig, beinahe sanft, was sie ihm nicht getraut hätte. Vanessa kam nicht umhin, für einen Moment genüsslich die Augen zu schließen. Sie genoss, was er tat.

Sie drehte sich langsam um und ehe sie etwas tun konnte, hatte er schon seine Lippen auf die ihren gepresst und küsste sie heftig. Er drückte sie fest gegen die Tür. Und in diesem Moment war es um sie geschehen.

Vanessa erwiderte seine Küsse genauso heftig. Sie schlang ihre Arme um ihn und zog ihn noch näher an sich, dann wirbelte sie ihn herum, sodass er mit dem Rücken zur Tür stand. Carrow drängte sie plötzlich von der Wand weg in eine andere Richtung. Sie konnte nicht sehen, wohin sie gingen, irgendwann nur kamen sie durch eine Tür, die hinter ihnen ins Schloss fiel, und sie spürte, wie sie auf etwas Weiches fielen.

Carrow war jetzt über ihr und noch immer küssten sie sich heftig. Sie hatte längst vergessen, mit wem sie gerade zu Gange war, sie wollte einfach nur, dass es immer weiter ging. Eine Leidenschaft, von der sie nicht gewusst hatte, dass sie sie überhaupt fühlen konnte, hatte sie ergriffen und ihren Verstand, ihre Vernunft völlig übermannt.

Gierig schlang sie ihre Beine um ihn, während seine Hände ihren Körper erkundeten und er sie langsam auszog. Ihr war heiß und sie krallte sich in seinen Rücken. Sie spürte, dass er erregt war. Er ließ kurz von ihr ab, um sich seinen Umhang auszuziehen. Vanessa half ihm nur zu gern dabei und bald darauf hatten sie sich ihrer Kleidung entledigt. Der Todesser küsste sie weiter auf den Hals und Vanessa konnte nicht anders als laut aufzukeuchen. Sie kämpften um Dominanz und wer von ihnen die Führung übernehmen sollte. Es war genau wie zuvor im Unterricht und manchmal während des Nachsitzens. Vanessa wollte nicht kleinbeigeben. Sie rieb sich immer wieder an ihm und es gefiel ihr.

Sie verlor sich völlig in seinen Berührungen und das einzige, was sie wollte, war, dass dieser Moment nie enden würde. All die Frustration, der Ärger und die Wut, die sich seit dem Beginn des Schuljahres in ihr angestaut hatten, fanden endlich ein Ventil. Die Anspannung war vergessen und ihre Sorgen konnte sie herausschreien.

Keiner der beiden dachte an den nächsten Morgen und die Konsequenzen, die ihr Handeln für sie haben würde.