Kapitel 1 (Prolog)
Zu Rauch und Asche
Sagt nicht, ihr hättet nichts gewusst
und nichts geahnt und nichts gespürt
schon lang gestellt war'n nun die Weichen
zu hör'n die Rufe, zu seh'n die Zeichen
des Dunklen Lords, der über Leichen
das Land unter den Schatten führt
Es ist eine Illusion, dass das Gute am Ende gewinnen kann, ohne seinen Preis zu zahlen. Es ist eine Illusion, dass das Gute am Ende überhaupt zwangsläufig gewinnen muss, dass die Opfer nicht vergebens waren und dass, wenn wir es schon aus eigener Kraft nicht schaffen können, zumindest eine unbekannte Macht dafür sorgen wird, dass alles wieder in Ordnung kommt. Was gibt uns die Gewissheit, dass am nächsten Morgen die Sonne wie gewohnt über dem Horizont aufgeht und die Nacht unserer Verzweiflung nicht endlos währen wird?
Vielleicht ist dies ein schlechter Vergleich, der Welt der Muggel entrissen, einer Welt, die von festen Regeln, Naturgesetzen, Sicherheiten bestimmt ist und in der ein ausbleibender Sonnenaufgang keinen Platz hat... aber dieser Bericht beschreibt unsere Welt, die magische Welt, in der das Element des Chaos schon immer deutlicher zu spüren war. Und schließlich gibt es auch eine Welt im Inneren der Menschen, für die derartige Gewissheiten noch nie eine Grundlage hatten. In diesem Fall gibt es nur noch die Hoffnung, so schwach oder klein sie angesichts der ausbreitenden Finsternis auch sein mag. Ob diese Hoffnung überhaupt einen Wert hat, und falls ja, wie groß der Preis dafür sein mag, um sie zur Realität werden zu lassen ... man wird sehen.
Illusionen. Wir sind die Illusionen, Schatten einer vergangenen Welt, die vor zwanzig Jahren untergegangen ist. Immer wieder zieht es uns an die alten Orte, um nach Erinnerungen zu suchen, die Bilder jener Zeit, als noch gekämpft wurde, um den Untergang abzuwehren.
So überwinden wir die Grenzen von Zeit und Raum, und landen am Eingang zur Großen Halle, in den letzten Wochen der Sommerferien zwischen Harry Potters sechstem und siebtem Schuljahr. Viel zu viele Schüler bevölkern die Fluren, Treppen und Räume der alten Zaubererschule von Hogwarts, denn in der Welt außerhalb der Mauern ist es zu unsicher geworden. Aber es fällt auf, dass nur noch wenige Slytherins hiergeblieben sind, um Dumbledore und der freien Zaubererwelt die Treue zu halten.
In einer Nische des zweiten Stocks, zwischen alten Rüstungen, stoßen wir auf Hermine Granger, die wutentbrannt auf einen hilflosen Harry Potter losgeht.
„Es ist genug, weißt du? Du kannst dich nicht ewig in deinem Selbstmitleid verkriechen!"
„Lass mich in Ruhe, Hermine. Lass mich endlich in Frieden."
„Es wird keinen Frieden geben, Harry. Das weißt du. Da draußen ist Krieg!" Hermine schüttelt entschieden den Kopf. „Verdammt, wir sind deine Freunde!"
„Ach ja? Ron spricht kaum noch. Und er hat guten Grund. Die Todesser haben seinen Vater ermordet … wie so viele andere auch. Das Ministerium ist seit einem Jahr völlig durchgedreht und kümmert sich mehr darum, Unschuldige als Todesser zu verhaften, als sich um die wirkliche Gefahr zu kümmern. Und du weißt, wer jetzt Chef der Inquisitionsbehörde ist … Percy. Es … es geht alles den Bach runter. Bei Merlin, Hermine, es lohnt sich fast nicht mehr zu kämpfen. Und ich weiß immer noch nicht, was ich tun muss … oder besser: ‚kann'."
Hermines Gesicht verzerrt sich. „Nein, Harry. Das haben wir jetzt oft genug gehabt. Ich mache es nicht mehr mit. Ich bin deine Freundin, weißt du. Und manchmal … manchmal habe ich mir gewünscht, noch mehr als das zu sein."
„Wie? Was … meinst du?"
„Das ich was für dich empfinde, du Idiot!" Jetzt beginnen die Tränen Hermines Gesicht herabzurollen. „So etwas wie Zuneigung … ach, Liebe … verdammt! Aber du nimmst nichts mehr war, grübelst die ganze Zeit über deine Last, deine Aufgabe, deine Pflichten, und entfernst dich stattdessen immer weiter von ihnen."
„Das ist … absurd." Harry schaut Hermine mit großen Augen an. „Ich meine, dass wir jetzt Liebeleien anfangen. Nicht, dass ich es überhaupt nicht gemerkt hätte, wie du mich anschaust. Aber ehrlich! Ich muss … ich muss Voldemort bekämpfen und ihn besiegen. Ich bin so oft an ihm gescheitert. Und er wird immer stärker. Nein. Lass mich …"
Harrys Kopf wird zurückgeschleudert, als Hermine ihm eine Ohrfeige verpasst. „Ja, Ich lasse dich. Ich und Ron, Harry, denk dran, wir werden weiterkämpfen. Wir sind auch für dich da, wenn du meinst, Hilfe und Freundschaft zu brauchen. Aber ich werde mich dir nicht mehr aufdrängen." Dann läuft sie davon.
Wir folgen ihr und verlieren ihre Spur, schweben Gänge hinab, durch Klassenzimmer und Abstellräume, während Tage und Nächte vergehen. Und werden aus dem traumähnlichen Dämmerzustand, in dem wir gefangen sind, brutal zurückgeholt, als ein arkanes Beben die Mauern des Schlosses erschüttert. Schreie, Panik. Es ist nicht leicht, einen Überblick zu gewinnen und so warten wir ab, bis die Schüler zwei Stunden später in der Großen Halle versammelt sind.
„Was ist passiert?"
„Ruhe! Ich bitte um Ruhe!" Aber Professor McGonagalls Worte klingen nicht wirklich ruhig. „Es ist etwas mit dem Astronomieturm geschehen. Es ist …" McGonagalls Stimme ist kurz davor, zu brechen. „Wir wissen nicht, was passiert ist. Ein fehlgeschlagener Zauber, eine magische Entladung. Oder vielleicht … ein Anschlag. Auf jeden Fall … er ist wie leergefegt. Alle Möbel sind fort. Wir haben nach Professor Trelawney gesucht; sie ist verschwunden. Aber …"
„Was?"
„Ich fürchte, Ihnen mitteilen zu müssen, dass ich ab jetzt die neue Schulleiterin bin. Mit größter Wahrscheinlichkeit wurde auch Direktor Albus Dumbledore Opfer des Unglücks!"
Wir wollen noch mehr erfahren, aber etwas zieht uns voran, vorbei an sich bewegenden Treppen und durch das Bild der Fetten Dame hindurch zu den Mädchenschlafräumen des Gryffindor-Turms. Tiefe Nacht ist es, und Luna Lovegood balanciert auf dem Fenstersims, die Hände zum Sternenhimmel gereckt. Dann dreht sie sich um und weckt die schlafenden Mitschülerinnen mit einem leisen Schrei auf.
„Da! Seht ihr es nicht? Merkt ihr es nicht? Es ist alles falsch! Die Luft. Dein Bett da. Ja, und auch dein Kuschelgreif, Melissa. Aber … es ist aber auch alles richtig. Ich verstehe es nicht. Nein, ich verstehe es nicht. Dumbledore ist fort. Dumbledore ist da. Dieser … Der-Dessen-Name-Nicht-Genannt-Wird. Er wird sterben. Er wird leben. Harry wird ihn besiegen. Harry wird besiegt werden. Ja. Nein. Die Schnarchkackler haben es mir gesagt."
„Halt die Klappe, Luna."
„Verdammt, du machst mir Angst."
„Hast du wieder so einen seltsamen Trank gebraut?"
„Komm, geh schlafen."
Müde. Die Augen fallen zu. Leises Murmeln, das langsam lauter wird. Wir öffnen die Augen und finden uns in McGonagalls Büro wieder. Die neu ernannte Direktorin geht hinter ihrem Schreibtisch auf und ab, während vor ihr Remus Lupin Bericht erstattet.
„Die Lage ist ernst. Da draußen wartet jetzt das Ministerium und belagert uns." McGonagalls Blick fällt durch das Fenster auf das große Zeltlager am schwarzen See. „Wir können nicht mehr hinaus, Minerva; nur noch unsere Schutzzauber halten sie fern. Bei Merlin, das Ministerium hätte es niemals tun dürfen … die Inquisition zu reaktivieren und sie in Percy Weasleys Hände zu legen."
„Ja. Aber es war richtig, unseren Weg zu gehen. Wie haben sie es genannt? ‚… ein Hort des Bösen, der Kollaboration mit den Todessern.' Die, die da jetzt das Sagen haben; ich glaube, wir werden keine Gnade zu erwarten haben. Vielleicht werden sie auch direkt von Dem-dess…nein, ich werde ihn Voldemort nennen … gelenkt. Ich weiß es nicht."
„Trotzdem müssen wir durchhalten. Ich hoffe, Moody und Shacklebolt werden mit dem Orden in London Erfolg haben. Wenn sie das Ministerium unter Kontrolle bringen können, wäre das hier eine Entlastung.
Nun denn. Ab morgen werden die Angriffe beginnen. Ich nehme nicht an, dass wir das Kapitulationsangebot annehmen?"
„Nein. Jetzt nicht mehr."
Hinauf, hinauf durch die leeren Fluchten und Räume des Astronomieturms, bis zur Spitze. Hermine und Ron blicken hinunter auf das grell leuchtende Feuerwerk der Zaubersprüche, die an der magischen Barriere um das Schloss herum abprallen.
„Eigentlich dürfen wir nicht hier sein", sagt Hermine. „Sie haben immer noch nicht herausgefunden, was genau passiert ist."
„Ist egal", meint Ron. „So wie auch Harry es … egal ist. Ich habe Angst."
„Ich auch. Es tut mir Leid um Harry. Es ist zuviel passiert in den letzten Jahren. Ich komme einfach nicht mehr an in heran. Und seine Narbe ist schwächer geworden. Es … es könnte sein, dass sie ihn nicht mehr beschützt."
„Dennoch, Hermine. Wenn die Schutzwälle brechen, müssen wir für ihn da sein."
„Ich weiß. Gehen wir." Hermine drückt Ron einmal kurz an sich, dann gehen sie die Treppe hinab.
Während wir ihnen folgen wollen, kommt ein Wind auf und drängt uns vom Turm weg, hinunter in Richtung des Verbotenen Waldes. Als wir uns umdrehen, blicken wir in die brennende Silhouette von Hogwarts vor dem umwölkten Nachthimmel. Vier oder fünf weiter Tage sind vergangen und die Verteidigung des Schlosses ist zusammengebrochen. Das Brausen und Prasseln der Flammen, die hoch emporgreifen und die Dunkelheit auf die Erde hinunterzuziehen scheinen, dringt bis zu uns hinüber. Riesen werfen große Felsbrocken gegen die Mauern, und ab und zu sieht man aus den Wolken eine große, geschuppte Gestalt auf die zusammenstürzenden Gebäude herabstoßen.
Voldemorts Plan ist aufgegangen: ihm unterstand zwar eine große Anzahl von bösartigen magischen Geschöpfen, aber die Anzahl seiner Todesser, die er an dieser Stelle entbehren konnte, war nicht groß genug, um mit Hilfe ihrer Magie die Mauern von Hogwarts zu durchbrechen. Er hat abgewartet, bis das Ministerium die Drecksarbeit getan hatte und dann aus dem Hinterhalt angegriffen; so gelang es ihm, nicht nur Hogwarts ohne nennenswerten Widerstand zu erobern, sondern gleichzeitig einen Großteil der Elitetruppen des Ministeriums auszuschalten.
Ein Rascheln, Hasten, Keuchen. Hinter uns liegt eine Lichtung im Wald. Es ist Harry Potter. Er spürt die Stimme von Voldemort, wenn auch nur in Gedanken, ganz nah bei sich: Gib auf! Es ist alles zerstört! Du wirst genauso enden! , und rechnet damit, jeden Moment eine eiskalte Hand wie die Klaue eines Dämons auf seiner Schulter zu spüren. Ihm schießen die Bilder der letzten Stunden wie zur Bestätigung von Voldemorts Worten durch das Innere seines Kopfes: fliehende Schüler, die in einem Feuerstoß eines Drachen verbrennen, Professor McGonagall, die von einem Troll an den Füßen gepackt wird und mit dem Kopf gegen eine Steinmauer geschleudert wird, Ron, wahnsinnig vor Schmerzen, während er von zwei Todessern gefoltert wird. Es lassen sich zweifellos noch viel mehr solcher Bilder beschreiben; aber begnügen wir uns mit diesen paar, um die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit Harrys zu verstehen. Warum er sich am liebsten einfach hinlegen möchte, einschlafen, für immer, und all das hier hinter sich zu lassen, was letzten Endes mit jenem schicksalhaften Tag, als ein riesiger, zottiger Kerl auf einem fliegenden Motorrad ihm auf einer einsamen Insel sein Dasein als Zauberer erklärt hatte, seinen Anfang genommen hatte,
Harry weiß, dass es jetzt soweit ist. Er richtet sich auf und dreht sich um. Er bringt sogar den Mut auf, ein, zwei Schritte in die Richtung zurückzugehen, woher er gekommen ist. Aber es ist nur der Mut, sich seinem Schicksal zu stellen und es wenigstens einigermaßen aufrecht hinzunehmen; kämpfen kann er nicht mehr, das weiß er. Die Zeiten sind vorbei.
Voldemort tritt ihm entgegen. Seine kalten Schlangenaugen funkeln rötlich in seinem aschgrauen, verzerrten Gesicht. Schaut ihn euch an! Spürt seine Macht! Erzittert vor seiner Bosheit! All das strahlt er in einer unheilvollen Aura aus, die selbst die Pflanzen zurückweichen lässt. „So treffen wir uns wieder, nicht? Du hast mir lange genug Ärger bereitet, aber jetzt ist es vorbei."
„Ich ... ich ..."
Doch Voldemort weiß, dass man als Schurke selten Erfolg hat, wenn man sich in langwierige Diskussionen mit seinem Opfer verstrickt. Wir sehen mit Entsetzen, wie er langsam seinen Zauberstab zieht, ihn auf den zitternden Harry richtet, und eine Spruchformel murmelt. Aus der Spitze des Stabes schießt ein Lichtstrahl von scheußlich grünlicher Färbung nach vorn, umhüllt die Konturen von Harry, der lautlos aufschreit, und dann ist er verschwunden.
Unsere Hoffnung.
Unser Licht.
Und der Schatten legt sich über das Land und lässt es nicht mehr los.
