Nachdem Sansa die Gemächer der Königin verlassen hatte, fühlte sie sich fast schlechter als zuvor, als sie niemanden zum Reden gehabt hatte. Cersei war fast so zynisch wie Sandor Clegane, wenn auch auf eine andere, hinterhältigere Weise. Sansa würde sogar so weit gehen zu sagen, dass die Seitenhiebe der Königinregentin mehr schmerzten als die des Bluthundes. Lag es daran, dass sie auch eine Frau war? Weil Cersei eigentlich ihre Verbündete sein sollte? Dass ein Mann wie Sandor Clegane nichts mit einer hochgeborenen Jungfrau wie ihr gemein hatte und sie deshalb verlachen und verhöhnen konnte wie es ihm beliebte, lag auf der Hand. Aber Cersei Lennister … Auch sie verabscheut andere Frauen, sieht auf sie herab. Ganz besonders auf mich. Aus ihr hätte besser ein Mann werden sollen. Dann wäre sie vielleicht heute wie Jaime. Aber die Natur war grausam und hat es ihr vorenthalten und nun ist sie verbittert und lässt es an jedem aus, der ihr über den Weg läuft.
Sansa war über ihre eigenen Gedanken erstaunt. Bis vor kurzem hätte sie nie darüber nachgedacht, was die Ursache für Cerseis Verhalten sein mochte. Sie hatte ganz selbstverständlich angenommen, dass ihre, Sansas, Dummheit die demütigende Behandlung durch die Königin rechtfertigte. Doch jetzt und hier, auf dem Rückweg zu ihrem Schlafgemach, war es ihr, als hätte ihr gerade jemand einen Schleier vom Gesicht gezogen. Einen Schleier so fein, als dass sie die ganze Zeit durch ihn hatte sehen können und dadurch seine Existenz gar nicht wahrgenommen hatte. Und doch hatte er ihre Sicht seltsam verzerrt, ihre Sicht auf das Verhalten der Menschen, auf deren Tun und sogar auf Sansas eigene Gedanken. Und erst jetzt, da er fort war, fiel es ihr auf. Sansa beschleunigte ihre Schritte.
Plötzlich verspürte sie unbändige Lust, ein Gedicht zu schreiben, mehr noch, es war eher ein starkes Bedürfnis, ein innerer Drang. Lange hatte sie schon nichts mehr zu Papier gebracht, wenn sie es recht bedachte, hatte sie damit aufgehört, kurz nachdem sie hier in Königsmund angekommen war. Im Norden hatte sie fast jeden Tag geschrieben, und zwar in ihr Tagebuch, was sie sich hier schon lange nicht mehr traute. Auch das Gedicht, das gerade in ihrem Kopf entstand, würde sie nach dem Aufschreiben wieder verbrennen müssen, doch sie würde es auswendig lernen, bevor sie es schweren Herzens dem Kaminfeuer überantwortete. Auf Pergament wurden Worte wahr, blieben sie jedoch nur lose in ihrem Kopf, würde sie sie vergessen, so wie man Kleinmädchenträume irgendwann vergaß, unwichtig, nichtssagend, ohne Substanz. Tinte wäre Substanz genug, um diese neuartigen Gedanken in ihrem Kopf zu festigen, entschied Sansa. „Der unsichtbare Schleier". Ja, genauso würde sie ihr Gedicht nennen …
Ein stechender Geruch nach Rauch lag noch immer in der Luft, als sie ihr Schlafgemach betrat und ihr wurde sofort wieder übel, teils, weil die Bauchkrämpfe, die ihr Erblühen begleitet hatten, noch immer nicht vorüber waren, teils, weil sie elende Scham verspürte. Waren wirklich drei Dienstmädchen nötig gewesen, um sie davon abzuhalten, ihre blutbesudelte Matratze im Kamin zu verbrennen? Was bei allen Sieben Höllen hatte sie sich dabei gedacht? Beinahe hätte sie ihr gesamtes Schlafgemach in Brand gesteckt, mit sich selbst darin. Jagte der König ihr solche Angst ein? Ja. Genau das tat er. Joffrey war ein goldgelockter Jüngling von dreizehn Jahren und sie fürchtete ihn mehr als irgendjemanden, den sie je kennen gelernt hatte. Mehr als Cersei, deren beißenden Spott sie fürchtete, mehr als Ilyn Payne, des Königs Henker, der sie schon auf dem Königsweg so sehr erschreckt hatte. Sogar mehr als den Bluthund, dessen entstellte Züge sie noch immer nicht anschauen konnte und dessen kalte, wütende Augen sie noch mehr ängstigten als der Rest seines verunstalteten Gesichts.
Sansa war fast glücklich darüber, dass sie sich im Krieg befanden. Ihr Erblühen würde für Joffrey jetzt nicht höchste Priorität haben. Erst musste Stannis geschlagen werden, vorher konnte man über eine Hochzeit noch nicht einmal nachdenken. Und wenn die Stadt fiel … Wenn die Stadt fiel, dann würde sie sich über dieses Thema nie wieder Gedanken machen müssen. Dann würde sie sich über nichts anderes je mehr Gedanken machen müssen. Erstaunt stellte Sansa fest, dass dieser Gedanke auf sie in ihrer wilden Verzweiflung fast tröstlich wirkte.
So weit ist es mit mir also schon gekommen. Noch vor wenigen Monaten habe ich es kaum erwarten können. Ich habe mein erstes Mondblut herbeigesehnt, weil ich mir nichts Schöneres vorstellen konnte, als meinen Prinzen zu heiraten und ihm seinen ersten Sohn zu schenken, oder, wenn es nach mir gegangen wäre, eine Tochter. Und jetzt werde ich fast verrückt bei dem Gedanken, er könnte mich auch nur anfassen. So verrückt, dass ich alle Beweise für mein Erblühen im Feuer vernichten möchte, auch wenn ich mich selbst dabei fast umbringe.
Sansa spürte, wie das Mondblut aus ihr herausrann und in die Stoffstreifen sickerte, die sie sich zum Schutz ihrer Kleidung um den Unterleib gewickelt hatte. Sie fühlte sich so schmutzig. Als sie die Schritte einer ihrer Zofen auf dem Gang hörte, verließ sie das Zimmer und trug dem Mädchen auf, heißes Wasser für ein Bad herbeizuschaffen – das zweite an diesem Morgen, aber das war ihr egal. Solange die Zofe und zwei andere Dienstmädchen Wasser schleppten, saß Sansa an dem kleinen Schminktisch und schrieb das Gedicht, soweit sie es noch im Kopf hatte, auf.
Eines der beiden Dienstmädchen war auch früher am Morgen Zeugin dessen geworden, was sie mit der Matratze hatte anstellen wollen. Sicher ist sie eine Spionin der Königin, dachte Sansa. Der Königinregentin, verbesserte sie sich in Gedanken. Doch Cersei würde für sie immer die Königin bleiben. Goldblond, schön und strahlend und in ihrem Herzen schwarz wie die Nacht. Auf gar keinen Fall durfte sie vergessen, ihr Gedicht noch heute zu verbrennen, niemand durfte es je zu Gesicht bekommen, sonst würde es ihr schlecht ergehen. Dann würden Prügel von Ser Boros nicht mehr ausreichen, das hatte Sansa im Gefühl.
Es dauerte seine Zeit, bis das Bad bereitet war. Sansas Zofe Raneah wollte ihr beim Entkleiden behilflich sein wie immer, doch sie schickte sie weg. Als sie die mit dunklem Blut verklebten Stoffstreifen entfernte, gewahrte sie, dass schon wieder ein Teil des Blutes in ihre Leibwäsche gesickert war. Seufzend warf sie alles auf einen Haufen. Am liebsten hätte sie die schmutzige Wäsche gleich wieder ins Feuer geworfen, aber den Fehler durfte sie auf keinen Fall ein zweites Mal machen.
Langsam stieg sie in den Waschzuber aus Zink, das Wasser war heiß und die Bediensteten hatten sie davor gewarnt, zu früh hineinzugehen, doch es machte Sansa nichts aus. Früher hatte sie sich immer vor Schmerzen gefürchtet, aber heute waren sie ihr gleichgültig. Sie biss die Zähne zusammen und ballte ihre Hand um das Stück Pergament mit dem Gedicht, als die Hitze des Wassers in ihre Haut biss, hielt den Atem an und einen Augenblick später nur war der Schmerz vorüber. Langsam ließ sie sich tiefer sinken und das schmerzhafte Prickeln kroch ihren Körper hinauf. Sie schloss die Augen und ließ die Bilder kommen.
Sansa hockte in ihrem Bad und zog die Beine dicht an ihren Körper. So war der Schmerz in ihrem Unterbauch einigermaßen erträglich. Alle werden es wissen, dachte sie und obwohl sie allein in ihrem Gemach war, stieg ihr die Röte ins Gesicht. Die drei werden nicht schweigen. Meine Zofe Raneah vielleicht, aber die beiden anderen kenne ich kaum. Wahrscheinlich weiß schon der halbe Hof über meinen Zustand und was ich Dummes getan habe Bescheid. Sie schluchzte trocken auf.
Ich will nie wieder aus diesem Zimmer hinaus. Was, wenn ich mich einfach weigere? Dann werden sie den Bluthund schicken, um mich herauszuzerren oder, noch schlimmer, Ser Meryn oder Ser Boros. Als jene sie auf dem Hof geschlagen und ihr die Kleider vom Leib gerissen hatten, war es Sandor Clegane gewesen, der vor allen anderen gesagt hatte, es sei jetzt genug. Sie erinnerte sich ganz deutlich an seine Worte. Dann war der Gnom gekommen. Was hätte der Bluthund getan, wenn Tyrion Lennister nicht dort aufgetaucht wäre? Hätte er den Männern schlussendlich Einhalt geboten? Er hatte sie zwar nie selbst geschlagen, doch er hatte andere auch nie aktiv daran gehindert, es zu tun. Was also wäre passiert? Schließlich hatte der König höchstselbst die Prügel angeordnet und die ganze Zeit danebengestanden.
Es ist müßig, darüber nachzudenken, schalt sie sich. Der Bluthund findet dich genauso dumm und naiv wie Cersei. Warum sollte er sich überhaupt für dich einsetzen? Doch er hatte sich schon einmal für sie eingesetzt. Mehr noch, an dem Tag, an dem Myrcella nach Dorne gesegelt war und der Mob über sie alle herfiel, war er sogar zurückgeritten, um sie aus den Klauen des Pöbels zu befreien, buchstäblich in letzter Sekunde. Ohne ihn wäre sie an dem Tag getötet worden, aber nicht, ohne vorher mindestens ein Dutzend Male vergewaltigt zu werden, so viel war sicher. Keiner der anderen wäre für sie zurückgekommen, sie alle waren nur bestrebt gewesen, ihre eigene Haut zu retten und sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Und sie hatte ihm noch nicht einmal für ihre Rettung gedankt, zumindest nicht bis gestern Abend. Wo waren ihre guten Manieren geblieben? Auch dafür schämte sie sich. Hatte der Bluthund deshalb nichts von ihren Dankesworten hören wollen? Nein, er war einfach so. Lob und Dank würde er von niemandem annehmen, misstrauischer, alter Hund, der er war. Aber ein Dutzend Männer, die ihn lieber tot sehen wollten, denen stellte er sich ohne zu zögern entgegen, versäumte er doch keine Gelegenheit, sein Schwert tanzen zu lassen.
Abwesend zwirbelte sie eine feuchte Haarsträhne zwischen ihren Fingern. Es tat gut, an etwas anderes zu denken, obwohl dieses andere noch schrecklicher gewesen war als das, was heute geschehen war. Aber die Scham, die sie seit dem heutigen Morgen fühlte, war für sie noch schwerer zu ertragen als die Angst, die sie seit dem Aufstand empfand. Sie hatte ein halbes Dutzend Male von dem Mann geträumt, der sie vom Pferd hatte zerren wollen, doch noch weniger konnte und wollte sie darüber nachdenken, was ihr Erblühen im Hinblick auf Joffrey bedeutete. Lieber wollte sie an den Bluthund denken und wie er sie gerettet hatte als daran, was dem König in ihrer Hochzeitsnacht alles einfallen würde, um sie zu demütigen oder zu verletzten. Bei dem Gedanken, ihre Unschuld an dieses Ungeheuer zu verlieren, wurde ihr eiskalt.
Er hat mich nicht verdient. Ich habe alles getan, um ihn gnädig zu stimmen, ich habe versucht ihn zu lieben. Doch ich kann keinen Unmenschen lieben. Jeder hat seine Fehler. Vielleicht könnte ich sogar Sandor Clegane lieben, mit seinen kalten Augen, seinen hässlichen Narben und seinem Herzen voller Wut. Immer, wenn er mich anfassen musste, war es irgendwie sanft.
Sein Griff war fest, auch gestern Abend auf dem Dach von Maegors Feste hatte er sie festgehalten. Was hatte er geglaubt, dass sie sich von den Zinnen hatte stürzen wollen? Sie hatte einfach nur irgendwo sein wollen, wo sie sich nicht gefangen fühlte, sie hatte gedacht, unter dem weitgespannten Himmelszelt und den hunderte von Meilen entfernten Sternen würde das Gefühl des Eingesperrtseins vergehen, doch das war nicht geschehen. Heute war ihr schon eher danach, sich vom Dach zu stürzen, bei der Scham, die sie bei dem Gedanken empfand, jeder am königlichen Hof könne über ihre Schande Bescheid wissen. Würde der Bluthund auch heute Abend da sein, falls sie noch einmal auf das Dach ging? Und was sollte sie dort tun?
Sie fürchtete sich vor ihnen allen, vor Stannis und seiner Armee, vor Joffrey, vor Cersei und vor Sandor Clegane. Sie betrauerte ihren Vater und vermisste ihre Mutter und Geschwister, doch sollte sie sich deswegen selbst etwas antun? Es bestand noch immer eine geringe Chance, dass sie zumindest einen Teil ihrer Familie wiedersehen würde, irgendwann. Und vorher durfte sie nichts in dieser Richtung unternehmen. Sie war stärker als sie geglaubt hatte, sie konnte noch mehr ertragen … Oben auf dem Dach hat der Bluthund sich über mich lustig gemacht und am Ende hat er mir gesagt, dass ich verschwinden soll, weil er die Nase voll hat von mir und meinen naiven Ansichten. Er ist auch der Meinung, dass ich schwach bin. Ein Schaf, das von Löwen umzingelt ist. Nichts wollte sie weniger sein.
Sie hatten auch über Ritterlichkeit gesprochen. Und über das Töten. Das eine verabscheute er, das andere liebte er. Ihr schauderte. Und dennoch … Hätte ich jetzt und hier die Wahl zwischen Joffrey und dem Bluthund, ich wüsste, wen von beiden ich wählen würde.
Ein Krampf in Sansas Eingeweiden ließ sie erzittern und wieder zerknüllte sie den Zettel mit ihrem Gedicht ein wenig mehr. Sie sehnte sich so sehr nach jemanden zum Reden, dass es ihr im Herzen wehtat. Das Gespräch mit Cersei hatte sie nur noch mehr in die Dunkelheit hinabgezogen. Was hätte sie darum gegeben, wenn Arya jetzt hier gewesen wäre. Sie beide waren während ihrer gesamten Kindheit wie Feuer und Wasser gewesen. Doch Sansa konnte den Gedanken nicht ertragen, dass Arya tatsächlich tot war.
Vielleicht hat sie es geschafft. Vielleicht ist sie noch am Leben. Sie wäre viel besser als ich dazu fähig, sich da draußen zu behaupten. Obwohl wir zwei uns nie verstanden haben, jetzt könnten wir miteinander reden. Sie hasst Joffrey genauso wie ich ihn hasse. Und seine Mutter. Und seinen Onkel. Die ganzen verdammten Lennisters. Arya hat nur schon viel früher als ich gewusst, was sie waren. Löwen nennen sie sich, doch sie sind eine ganz andere Art von Ungeheuer.
Sie erschrak über ihre eigenen Gedanken. Dies waren nicht die Gedanken einer Lady, nein, ganz und gar nicht. Und sie ertappte sich bei einem neuen Gedanken, höchst fremd und unwillkommen, und dennoch wahr: dass sie keine Lady mehr sein wollte … So lange sie ein Kind gewesen war, hatte sie es nicht erwarten können, endlich eine Frau zu sein, um deren Gunst sich alle Ritter der Sieben Königslande reißen würden. Und nun war sie nach den Gesetzen des Reiches erwachsen und alles, wonach sie sich sehnte, war, wieder das unschuldige, naive Mädchen zu sein, dass im Götterhain von Winterfell mit seiner Schattenwölfin herumtobte.
Die Eisenfaust, die ihren Unterbauch in festem Griff gehabt hatte, öffnete sich langsam und Sansa ließ sich in ihrer Zinkwanne so weit nach hinten sinken, dass das Wasser ihr bis unters Kinn reichte. In diesem Augenblick klopfte es und eine Sekunde später steckte eine ihrer Zofen den Kopf durch den Türspalt. „Der König möchte Euch sehen, Lady Sansa. Sofort."
Sansa zuckte zusammen. Nein, bei den Göttern, nicht jetzt. Sie stemmte sich hoch und stieg tropfnass aus der Wanne. In Windeseile suchte sie nach neuem Stoff, um ihr Mondblut aufzuhalten, dann griff sie wahllos nach Leibwäsche und das erste Kleid, das sie im Schrank finden konnte, holte sie hervor und zog es an.
Oh nein, er wird über mein Erblühen mit mir reden wollen! Nein, nein, nein, nein, nein. Ihre nassen Haare band sie zu einem Zopf und steckte ihn mit Hilfe ihrer Zofe fest. Dann erst setzte das Zittern ein. Im Laufschritt verließ sie ihr Gemach.
