Kapitel 1: Sania

Es war kalt geworden in den letzten paar Tagen und der Nebel hing in den Feldern, als Sania Besassys die Fahrt in Richtung Le Dauphin antrat. Sania blickte zu den Umrissen der schweren Wolken am Himmel hoch und hoffte, sie käme noch vor dem Einsetzen des Schneefalls im Dauphin an. Da das Geld in letzte Zeit mehr als knapp gewesen war, konnte sie sich keine Winterreifen leisten. Trotz der vielen Aufträge die sie als Journalistin bekam und der Tätigkeit als Hundesitter reichte das Geld am Ende des Monats immer noch nicht. So war sie, da Weihnachten auch noch unmittelbar vor der Tür stand gezwungen gewesen eine weitere Finanzquelle aufzutun und in ihren Studienjob als Kellnerin zurückzukehren.

Sania hatte die Erfahrung gemacht, dass hielt man die Gäste bei Laune, etwas was ihr leicht viel, da sie gut mit Menschen umgehen konnte, es sich durchaus lohnen konnte diesen Knochenjob zu machen. An Hochzeiten oder aber Weihnachtsfeiern waren die meisten der Gäste sowohl betrunken als auch rührselig eingestellt. Alles in allem eine verheerende Mischung für ihr Portemonnaie.

All das sagte sich Sania wieder mal tapfer vor, als sie ihre zweite zehn Stunden Schicht an diesem Wochenende antrat. Sie sah bereits von weitem, dass ihr Chef mehr als angespannt war. Kein Wunder, mit gleich zwei Weihnachtsfeiern war sein Lokal fast vollständig ausgebucht und sein Personal mehr als beschäftigt.

Doch als sie an den Tresen trat überfiel ihr Chef sie mit einer noch viel größeren Hiobsbotschaft. Neben den langwierigen Feiern würde es am Abend noch einen weiteren, speziellen Gast geben. Dieser drohte mit seiner glänzenden Anwesenheit dem Dauphin die endgültige Ehre anzutun. Da das Restaurant beinahe direkt neben einem der größten und teuersten Hotels der Stadt lag war es sicher nicht das erste Mal, dass ein Superstar oder einer der Mächtigen aus Politik oder Wirtschaft dort einkehrte. Sanias Chef versuchte das drohende Unheil von seinem Laden abzuwenden. Er bot an Essen für den Star nebst seinem Entourage in das Hotel zu bringen. Der Vorschlag wurde in höflichem, wie auch in sehr schlechtem Französisch abgelehnt. Sania begann sich zu fragen, was wohl mehr zur Wut ihres Chefs beitrug. Die Tatsache für eine Berühmtheit jede Menge Unpässlichkeiten auf sich nehmen und einen Raum seines Lokals sperren zu müssen oder die Tatsache dass dieser. „Engländer", wie ihr Chef zwischen den Zähnen vorstieß, es wagte Sebastians schöne Muttersprache zu verstümmeln. Der Fakt das bereits jetzt schon kreischende Mädchen und Frauen das Restaurant umlagerten half sicherlich auch mit ihn noch wütender werden zu lassen. Sania wunderte sich, wie schnell sich die Nachricht, wer kommen würde, herumsprechen konnte. Und sie musste leicht grinsen, als sie die Predigt ihres Chefs hörte, die Belegschaft habe sich strikt an die Professionalität zu halten. Er, Sebastian, wünsche keine Grenzübertretungen zwischen dem Personal und den Gästen. Bitten um Autogramme oder andere Anbändelungsversuche wolle er hier nicht sehen. Sein Lokal müsse einen Ruf wahren.

Plötzlich klingelte Sanias Handy. Auf dem Display des Geräts leuchtete die Nummer ihres zweiten Chefs auf und ließ Übles erahnen. Der Redakteur der Lokalzeitung, des K.-Kuriers, für den Sania von Zeit zu Zeit schrieb, war am Telefon. Er hatte, ähnlich den vor dem Restaurant wartenden Damen, Wind von der brisanten Neuigkeit bekommen und wollte sich seinen Teil an der Beute sichern. Da am Wochenende im konservativ gesinnten Raum von K. nur noch Sania als einziges Zeitungsmitglied ohne unmittelbare Familie da stand und sie bisher ohnehin immer für den Kulturteil zuständig gewesen war, gebührte ihr jetzt die Ehre des ersten Schusses.

Ihr Redakteur begann Sania mit den neusten Informationen zum Starlet zu versorgen, wer er war, woher er kam, wohin er ging, was er bisher an Karriere vorweisen konnte, warum er da war und vor allem wo er war, als Sania ihm zuvorkam. „Ich bin bereits vor Ort" war das was sie kurz angebunden vorbringen konnte. Nach dieser Information von ihrer Seite begann ihr Chef vor Freude zu hyperventilieren. Sania aber überlegte, ob sie die Sache nicht lieber bleiben lassen sollte.

Sebastian hatte klipp und klar umrissen, was er von Annäherungsversuchen jedweder Art halten würde. Und Sania vermutete, dass ein Interview, egal wie professionell, da keine Ausnahme machen würde. Außerdem war der Star Engländer und ihre Sprachkenntnisse mehr als dürftig. So oder so drohte ihr eine totale Katastrophe, eventuell sogar der Verlust eines ihrer Jobs. Das wäre ein nicht wieder gut zu machender Verlust, der ihre Miete ernstlich in Gefahr brächte. Zusätzlich stand Weihnachten vor der Tür und sie würde das Geld was so ein Sonderartikel brächte sicherlich gut anzulegen wissen. Also sah Sania sich nach dem letzten Strohhalm greifen, der ihr einfiel. Kurz nachdem ihr Redakteur aufgelegt hatte, wählte sie unmittelbar die Nummer einer Studienfreundin. Lotte sollte den Star für sie übernehmen und auf Herz und Nieren prüfen. Sie war sich sicher, Lotte würde sich eine derartige Gelegenheit nicht entgehen lassen. Denn Lotte war ziemlich schlagfertig und großmäulig, bis über beide Ohren durchgeknallt und, wie sie es zu sagen pflegte: „... für dieses Kaff viel zu hochkarätig". Lotte wäre die Richtige für diese Art von Auftrag und für dieses Schauspiel. Sania begann ihr hastig am Telefon zu erklären, dass ihr Schlachtplan vorsah sich ihre große Klappe und ihre Sprachkenntnisse zu nutze zu machen. Lotte sollte mit Sanias Papieren und Informationen ausgestattet versuchen sich dem Sternchen zu nähern um ein paar exklusive Momente und Auskünfte aus ihm herauszupressen.

Lotte lachte bereits am Telefon schallend vor Freude und Übermut.

Sie sprach perfekt Englisch und Französisch, war in der großen weiten Welt aufgewachsen und dürstete nach Abenteuer und Verrücktheiten. Durch einen Zufall und das Studium hatte es sie in diese „Wüstenei" verschlagen und ihrer Tochter zu liebe war sie seither geblieben.

„Endlich mal was los in diesem Dorf hier! Ist mir immer noch unerklärlich, warum der in eurem Kaff abgestiegen ist. München, ja vielleicht, Stuttgart, sicherlich... Aber das hier?!"

Sinnlos Charlotte zu erklären, wer schon alles im „Thronfolger" ab gestiegen war. Sania dachte sich, wenn man in der weiten Welt aufgewachsen war, dann war es unter Umständen vermutlich echt unglaublich, dass es so ein Hotel genau hier geben sollte. Immerhin sie konnte Lotte von ihrem Plan „Doppeltes Lottchen" zu spielen überzeugen.

Sania würde keine ihrer Einnahmequellen verlieren und beiden Chefs gerecht werden. Und Lotte würde bei dem Auflauf im Lokal hoffentlich gar nicht weiter auffallen und ihren Spaß haben in dem sie sich als jemand ausgab der sie nicht war und noch mal große weite Welt schnuppern könnte.