Jeder Schritt den du tust…
1. Schnee
Fröstelnd zog Shaila die Jacke enger um sich, während sie sich durch den Schneesturm kämpfte. Es war Mitte März und so langsam zweifelte sie daran, dass dieser Winter jemals aufhören würde. Schon seit Wochen sah sie jedes Mal, wenn sie aus dem Fenster blickte, weiße Flocken vom Himmel fallen und die Schneeschicht auf dem Boden nur noch um weitere Zentimeter erhöhen. Die Stadt oder besser das „Dorf" war so zugeschneit, dass sogar einige Dächer unter der Schneelast zusammenbrachen. Glücklicherweise wurden wenigstens die Hauptstraßen täglich geräumt, sonst würde es kein Durchkommen geben.
Fluchend warf Shaila einen Blick nach oben in den weißen Himmel, bevor sie sich wieder in ihre Jacke mummelte und den erstbesten Laden in Hoffnung auf etwas Wärme ansteuerte. Erleichtert zog sie die Tür auf und stolperte keuchend hinein. Auch wenn die Schneedecke nicht sehr hoch war, die orkanartigen Böen die ihr jedes Mal eine Ladung Schnee ins Gesicht wehten hatten ihre ganze Kraft gekostet. Als sie sich schließlich in dem Geschäft umsah, erkannte sie dass es ein kleiner AsiaShop war. Alles war voll gestellt mit Regalen, in denen sich alle Möglichen Lebensmittel stapelten, von Reis über getrocknete Aprikosen zu eingelegten Wassermolchen. ‚Nun', dachte sie bei sich, ‚wenn ich schon mal hier bin kann ich mir auch gleich was für die Busfahrt mitnehmen.'
So kam es, dass sie erst einmal an den Regalen vorbei schritt und die angebotenen Waren misstrauisch musterte. Weiter hinten stieß Shaila schließlich auf ein Regal, in dem viele weiße Kisten lagen, und sie stutzen ließ. Es war um keine Verkaufsgegenstände zu beinhalten zu frei zugänglich, dennoch gab es keine Preisschilder. Suchend sah sie sich im Raum nach der Verkäuferin um, doch niemand war da. Merkwürdig.
Noch bevor Shaila sich auf ihre guten Manieren besinnen konnte, siegte auch schon ihre Neugierde und sie öffnete probehalber eine der Schachteln, indem sie vorsichtig den Deckel herunterzog. Darin lag, in ein rotes Seidentuch eingebettet, ein silberner, reich verzierter Dolch. Stirnrunzelnd öffnete sie noch eine weitere Schachtel. Auch in dieser befand sich eine, wenn auch stumpfe Waffe, diesmal jedoch ein Messer.
„Wow!", entfuhr es ihr, als sie über den Griff strich. Er war ganz aus einem Bronzefarbenen Metall, in das filigrane Figuren eingearbeitet waren, die sich nach genauerem Hinsehen als Monster erwiesen. Schnell zog sie ihre Hand zurück. Ob die anderen Schachteln wohl auch mit Waffen gefüllt waren? Und warum lagen diese wertvoll aussehenden Dinge in einem doch recht schäbigen AsiaShop?
„Es wartet auf dich." Erschrocken fuhr Shaila herum. Vor ihr stand auf einmal eine ältere Frau und sah lächelnd auf sie herab. Peinlich berührt bemerkte Shala, dass sie die ganze zeit vor dem Regal gekniet hatte, und stand nun hastig auf um ein „Entschuldigung" zu stammeln. „Es hat all die Jahre gewartet…" „Entschuldigen sie", meinte sie verwirrt, „ich verstehe nicht… was soll auf mich gewartet haben?" „Amaruin… die Flamme Illuvatars…so lange…" Ein verträumtes Glitzern trat in die seltsam klaren Augen der Frau. „Entschuldigen sie", sagte Shala noch einmal nachdrücklich. „Wovon reden sie?" Ganz unterschwellig kam ihr der Begriff bzw. der Name ‚Illuvatar' bekannt vor, doch sie konnte sich nicht erinnern, woher sie ihn kannte.
Als ob die Frau sich erst jetzt wieder ihrer Anwesenheit bewusst wurde, schenkte sie ihr ein entschuldigendes Lächeln und zog eine größere Kiste aus dem Regal. Beinahe zärtlich strich sie über deren Deckel, bevor sie sie Shaila reichte. Diese nahm sie, reichlich verblüfft, entgegen. Nun blickte die seltsame Verkäuferin das erste Mal in die Augen. „Nimm es", sprach sie mit einer auf einmal glockenhellen Stimme, „es wird dich auf deinem Weg schützen." „Weg? Sind sie sicher dass es ihnen gut geht?" Mit schief gelegtem Kopf betrachtete Shaila die Frau, als ob sie jeden Moment damit rechnen würde, dass sie ihr die Kiste wieder abnähme. Nichts dergleichen geschah. Nach einigen unangenehmen Minuten des Schweigens ergriff die Verkäuferin erneut das Wort. „Nimm es und geh, empfange das Schicksal das dir bestimmt ist. Amaruin wird dir eine ein Licht sein dass dich leitet."
Unter Anwendung leichter Gewalt schob sie dass immer noch sprachlose Mädchen in Richtung Tür. „Aber", wollte Shala einwenden, aber sie schnitt ihr das Wort ab. „Geh." Auffordernd öffnete sie die Tür und schubste sie leicht nach draußen. Völlig perplex starrte Shala auf die Tür, die sich hinter ihr knarrend schloss. Erst eine scharfe Windböe machte sie darauf aufmerksam, dass hier draußen immer noch beinahe arktische Verhältnisse herrschten, und sie schloss rasch ihre Jacke, wobei sie die Kiste fest an sich gedrückt hielt. Was für eine verrückte Ladenbesitzerin. Nun hatte sie zwar eine Kiste, aber nichts zu Essen!
Als sie später mit der Kiste im Bus saß und aus dem Fenster schaute, grübelte sie über die Worte der Frau nach. Ihr nach zu Folge hieß das, was auch immer sich in ihrer Kiste befand, Amaruin. Nur was war noch mal Illuvatar. Systematisch ging sie alle Bücher und Filme, die sie je gelesen oder gesehen hatte durch, bis sie schließlich bei der Lieblingslektüre ihres Bruders hängen blieb. ‚Der Herr der Ringe?' Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Diese Frau musste wohl eine fanatische Herr der Ringe- Anhängerin sein, wenn sie schon an von Tolkien erfundene Götter erfundener Völker glaubte.
Zwei Stunden später saß sie in ihrem Zimmer auf dem Bett. Draußen wütete immer noch ein derartiges Unwetter, dass weder Internet noch Fernseher funktionierten. Zu allem Überfluss hatte sich auch noch der DVD- Player partout geweigert, ihre „The Lord of the Rings, The Two Towers" DVD abzuspielen. Deshalb saß sie jetzt hier auf ihrem Bett und versuchte die Kiste mit hypnotischen Blicken(sprich: Anstarren) dazu zu bringen, sich zu öffnen. Gerade als sie es dann doch auf die altbewährte Methode, also mit ihren Händen, tun wollte, machte ihr ihr Bruder einen Strich durch die Rechnung, indem er just in diesem Moment seine Anlage voll aufdrehte und „Into the West" unbarmherzig durch das ganze Haus und somit auch in ihr Trommelfell schallte.
Genervt brüllte sie: „CHRIS!!! MACH DAS AUS!!!" Zwei Sekunden später stand ihr Bruder im Türrahmen und sah das Mädchen frech grinsend an. „Du weißt, ich mag es nicht wenn du den Mist so laut aufdrehst. Schön und gut dass Mama und Papa endlich zugestimmt haben, dir diese Herr der Ringe- Special- Extra- und- was- weiß- ich- noch- alles- Edition zu kaufen, aber das heißt nicht dass ich das den ganzen Tag hören will!" „Hey, was hast du gegen Kultur? Tolkien ist der größte Autor unserer Zeit und was Jackson aus seinem Buch gemacht hat ist unbeschreiblich. Dieser Song spiegelt sämtliche Gefühle und Emotionen-" „Chris!"
Ja, das war ihr Bruder wie er leibt und lebt. 1.85m, 19 Jahre, kurze, dunkelbraune Haare, grüne Augen, immer ein Grinsen auf den Lippen, Intelligenzbestie und nebenbei der Größte Herr der Ringe Fan den es auf diesem Planeten gab. Und da nannten ihre Freundinnen sie verrückt!
„Machs wenigstens leiser", versuchte Shaila einen Kompromiss zu finden. Immer noch Grinsend salutierte er und verschwand mit den Worten „Glamog dess" in seinem Zimmer. Was das auch immer heißen sollte. Seufzend wand sie sich wieder der Kiste zu und öffnete sie langsam. Ein silber- schimmerndes Schwert kann zum Vorschein, dessen Klinge zusätzlich noch mit einem goldenen Muster verziert war, dessen form irgendwie an eine lodernde Flamme erinnerte. Staunend schloss Shala die Finger um den Griff und hob die Waffe aus der Verpackung. Zuerst fielen ihr die unendlich vielen kleinen Figuren auf, die, wie bei dem Messer im Laden, in den Griff hinein gearbeitet wurden, nur dass es in diesem Fall keine Monster, sondern grazile Gestalten mit langen Haaren, Bögen oder Schwerter waren.
Shaila staunte nicht schlecht. Das Schwert war zwar unglaublich leicht, schien aber aus massiven Eisen zu sein und nahm auch dann keinen Schaden, als Shala probeweise dagegen schlug. Bewundernd zog sie mit dem Finger die goldene Gravur nach und ließ es fast fallen, als sie auf einmal zu glühen begann. „Was…" Eben so schnell wie es begonnen hatte, hörte das Glühen aber auch schon wieder auf und einige Minuten später war sich Shaila nicht einmal mehr sicher, ob sie das wirklich gesehen oder sich nur eingebildet hatte.
Kopfschüttelnd legte sie ‚ihr' Schwert zurück in die Kiste, verschloss sie und stellte sie ins Regal. Wie konnte eine wildfremde Frau ihr nur so etwas Wertvolles schenken? ‚Wahrscheinlich war sie ohnehin etwas wirr im Kopf', dachte Shaila bei sich, während sie sich für die Nacht umzog. Obwohl es erst 21:00Uhr war hatte sie ein seltsames Müdigkeitsgefühl überfallen. Bereits im Halbschlaf murmelte sie noch: „Ich werde Chris mal zu Illuvatar fragen…", bis sie ganz einschlief.
Am nächsten Morgen weckte sie- wie immer- ihr Radiowecker mit einem ohrenbetäubenden Gewummer. Zu spät erkannte Shala, dass es Tokio Hotels „Schrei" war, der gerade lief, und so war ihr Zimmer im Nächsten Moment von einem dermaßen lauten Gebrüll von Bills Seite erfüllt, dass die Wände wackelten. Und das so früh am Morgen! Stöhnend rappelte sie sich auf um den Wecker auszuschalten und schlurfte anschließend ins Bad. Es war Montag, der Tag ihrer geplanten dreitägigen Klassen- Fahrt. Ursprünglich sollte es zum Wandern in die Heide gehen, doch wegen des Wetters wurde das ganze kurzerhand in einen Ski- Trip für Fortgeschrittene in die Berge umgewandelt. Als wenn es noch nicht schlimm genug wäre, bei der ersten Ski- Reise für Anfänger nicht dabei gewesen zu sein, war sie auch noch die einzige, die nicht Skilaufen konnte. Und genau deshalb, nur deshalb, wurde sie dazu verdammt mit einigen betreuenden Lehrern die ebenfalls nicht Skilaufen konnten eine Exkursion in die nahegelegenen Museen zu machen, während sich die anderen im Schnee vergnügen durften. Toll.
Entsprechend gelaunt duschte sie sich und packte ihren Rucksack fertig. Nachdem sie schließlich noch in der Küche gefrühstückt hatte, ging sie noch einmal in ihr Zimmer um zu überprüfen, ob sie auch an alles gedacht hatte. Gerade als sie das Zimmer verlassen wollte, stach ihr die Kiste ins Auge. Mh, vielleicht, wenn sie ein paar Handtücher wieder auspackte…
Kaum war sie vor die Haustür getreten, fegte ihr auch schon eine eisige Windböe entgegen. „So ein Mistwetter!!" Fluchend lief Shaila die kaum als solche erkennbare Straße hinunter zu dem Punkt, wo sie sich mit ihrer Freundin Matti, die eigentlich Martina hieß, verabredet hatte. Ihre Mutter würde sie beide zum Bahnhof fahren.
Während Shaila so durch den Schnee stapfte und versuchte, nicht auszurutschen, bekam sie Zweifel daran, ob es überhaupt möglich war mit dem Auto auch nur zehn Meter zu fahren. Die Schneeschicht war zwar nicht sehr hoch, doch darunter war die Straße aber so glatt, dass selbst Winterreifen keinen Halt mehr darauf finden würden. Shailas Laune war auf dem Nullpunkt und sie bereute es mittlerweile auch, die unhandliche Kiste mitgenommen zu haben. Bei jedem Windstoß drohte sie ihr aus dem Arm zu fallen. Schließlich war sie so genervt, dass sie das Schwert einfach herausnahm und die Pappkiste zusammen gedrückt in ihren Rucksack stopfte.
„Es ist schon toll.", dachte sie laut. „Obwohl es ganz schön merkwürdig ist, einem Schwert einen Namen zu geben… welcher Verrückte macht das bitteschön?" Nachdenklich fuchtelte sie ein bisschen mit ihm in der Luft herum. ‚Ich gebe doch meinem Schreibtisch auch keinen Namen… weshalb es wohl so leicht ist?'
„Shaila!" Ein großer Schneeball traf sie an der Schläfe und veranlasste Shaila den Kopf zu drehen. Trotzdem nicht schnell genug, denn Matti hatte schon einen zweiten Schneeball geformt und ihn auf sie zufliegen lassen. „Ih, lass das!" Lachend hob sie die Hände. „Ich ergebe mich!" „Na dann", meinte Matti kichernd. „Was ist dass da für ein Teil in deiner Hand? Willst du jemanden erdolchen?" „Ne ne, das habe ich gestern von so einer komischen Frau bekommen." „Uh, na dann… komm jetzt meine Mutter wartet." „Sie will fahren? Bei dem Wetter? Das ist doch viel zu glatt!" „Logisch, wird schon gehen."
„Na wenn du meinst…" Seufzend folgte sie ihrer Freundin zum Auto, das in der Nebenstraße parkte.
Überraschender Weise ging alles gut und sie kamen als einige der Ersten dort an. Zu dieser frühen Zeit hing noch leichter Nebel über dem Bahnhof. Die wenigen Schülerinnen, die schon gekommen waren, saßen auf einer Bank und tauschten sich wie immer über die neusten Modetrends aus, während ein Mann etwas abseits stand. Seine Augen huschten immer wieder über die Mädchen und letztendlich zu Shaila, die Schwert und Rucksack immer noch nicht aus der Hand gelegt hatte. Seine Augen verengten sich. Das Schwert sah wertvoll aus, und wenn der Inhalt ihrer Tasche genauso aussah, würde er bald um ein paar Euros reicher sein. Ein grimmiges Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, während er sich ihr unauffällig näherte.
Shala selbst bekam von alldem nichts mit und sah erst auf, als es zu spät war. Der Mann hatte sich den Rucksack, den sie locker gegen ihr Bein gelehnt hatte, bereits geschnappt und suchte nun das Weite. „HEY!!!" Empört nahm sie die Verfolgung auf.
Mit Schrecken musste der Mann erkennen, dass das Mädchen, das er zuerst für harmlos gehalten hatte, jetzt mit einem Schwert in der hand hinter ihm her rannte. Selbst als er Auf die Gleise sprang folgte sie ihm ohne Nachzudenken. Entsprechend verwundert war sie auch, als sich der Mann erst gehetzt umblickte, ein Ausdruck des Entsetzens in seine Augen trat, er den Rucksack fallen ließ und schnell von den Gleisen kletterte. Schnell hechtete Shala zu dem Rucksack und nahm ihn an sich, so gut es mit dem Amaruin in ihrer Hand eben ging.
Gerade als sie nach hinten sehen wollte, fing sich plötzlich alles an um sie zu drehen und ihr wurde schwarz vor Augen. „SHAILAAA!!!" Die Schreie ihrer Freundin drangen nicht mehr zu ihr durch. Es war, als fiele sie durch bodenlose Schwärze. Das letzte was Matti und ihre Klassenkameradinnen sahen, war wie Shaila auf einmal auf die Gleise sank und die Bahn im nächsten Moment mit einem ohrenbetäubenden Lärm in den Bahnhof einfuhr.
