Reise ins Teletubbieland
„Achtung Josie!" „Aus dem Weg, da kommt ein Ball!" „AU!"
„Au, mein Kopf! Ronny, warum kannst du nicht einmal einen ganz normalen Weg nach Hause gehen wie andere Leute auch? Warum musst du immer am Fußballplatz vorbeimarschieren und uns somit in Lebensgefahr bringen?", stöhnte Nova und rieb sich ihre Stirn, auf der sich in kürzester Zeit eine wunderbare Beule breit machen würde. „Also wirklich Ronny! Pass doch auf! Du bist immer so aggressiv und übermotiviert. Ich möchte lebend nach Hause kommen! Nur weil du einen Fußball siehst, heißt das noch lange nicht, dass du uns über den Haufen rennen musst!", beschwerte sich auch Josie und sah die Beschuldigte anklagend an. Diese rieb sich zwar ebenfalls ihren Kopf, doch im Gegensatz zu ihren zwei Freundinnen schien dieser Zusammenstoß ihre Laune nicht getrübt zu haben. „Was heißt hier aggressiv und übermotiviert? Was kann ich denn bitteschön dafür, wenn du im Weg stehst? Außerdem kann man doch nicht einfach tatenlos zusehen, wenn sich ein Ball selbständig macht. Da muss man doch einfach eingreifen!", ließ sie sich nicht beeindrucken und rappelte sich vom Boden auf. „Habt euch nicht so! Weiter geht's! Wir sind gleich zu H…" Verwirrt blickte Ronny um sich und griff sich dann wieder an den Kopf. „Der Zusammenstoß muss doch heftiger gewesen sein, als ich gedacht habe", murmelte sie vor sich hin. So wie es aussah sollte sie sich auf schnellstem Wege zu einem Arzt begeben, da sie um sich herum nicht wie erwartet den Fußballplatz in der Nähe ihres Hauses, sondern einen Wald sah. Sie hatte zwar noch nie eine Gehirnerschütterung gehabt und wusste daher auch nicht, ob man davon Wahrnehmungsstörungen oder Halluzinationen bekommen konnte, doch irgend so etwas in der Art musste es wohl sein. „He Nova, bring mich doch bitte zu einer Bank, ich muss mich dringend hinsetzen", bat sie ihre Freundin um Hilfe, doch diese reagierte nicht. „Nova? Josie?", versuchte Ronny es noch einmal. Doch die zwei Gestalten, mit denen sie vergeblich versuchte Kontakt aufzunehmen, saßen nur mit offenen Mündern da. „Was ist denn los?", wunderte sich die Fußballfanatische und stupste Nova vorsichtig an. „Was?", fragte diese abwesend, um nach einer kurzen Pause weiterzureden, „Ronny, siehst du, was ich sehe?" „Nova Schatz, ich habe keine Ahnung was du siehst, darum kann ich dir auch nicht sagen, ob ich dasselbe sehe oder nicht", antwortete das Mädchen trocken. „Ich glaube, du hast meinen Kopf kaputt gemacht! Ich sehe Wald! Aber ich sollte hier keinen Wald sehen…", redete Nova monoton und wie in Trance weiter. „Tja, dann geht's dir so wie mir", kam die Stimme von Ronny zurück, die sich inzwischen zu Josie gesetzt hatte, die es noch nicht einmal geschafft hatte ihre Stimme wieder zu finden, sondern immer noch perplex dasaß. „Josie? Siehst du auch einen Wald um dich herum? Und sitzt du auch auf einem Weg?", versuchte Ronny ihr Glück bei der kleinen Dunkelhaarigen. Diese reagierte nur mit einem Kopfnicken. „Was zum Teufel ist denn hier los? Wo sind wir? Warum sind wir hier? Und wie sind wir hierher gekommen?", wurde der Lockenkopf langsam aber sicher ärgerlich. Sie hasste es, wenn Dinge geschahen, die sie nicht erklären konnte und diese Situation war definitiv unerklärlich. Wie konnten sie von einer Sekunde auf die andere nicht mehr am Fußballplatz neben all den Fußballern sein, sondern mitten in einem unbekannten Wald? Na ja, vielleicht war sie ja bewusstlos und hatte jetzt so was wie einen Traum. Konnten Bewusstlose überhaupt träumen? Fragen über Fragen…
Plötzlich kam Leben in Josie. Sie stand auf und begann in einem Wahnsinnstempo den Weg ein Stück vor und dann wieder zurück zu laufen. „Wo sind wir? Was ist passiert? Wie kommen wir hier wieder weg? Was machen wir jetzt? Wir sind im Auenland! Wir sind verloren! Wir werden sterben! Wir…", begann sie hysterisch zu kreischen. „Jetzt beruhige dich erstmal wieder. So schlimm wird's schon nicht sein!", versuchte Ronny ihre Kollegin zu beruhigen. „Was hast du gesagt?", wollte Nova plötzlich wissen. „Was genau meinst du? Dass wir verloren sind oder dass wir sterben werden?", wollte Josie immer noch hysterisch wissen. „Nichts von beidem, was hast du davor gesagt? Wir sind im Auenland?!", wiederholte die immer noch am Boden Sitzende einen Satz, der in der Panik ihrer Freundin fast untergegangen wäre. „Was? Auenland? Hab ich das gesagt? Das kann nicht sein! Obwohl…", verwirrt brach Josie ab und wurde langsamer. Ein bisschen ängstlich, aber doch neugierig sah sie sich um. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen und holte tief Luft. Dann legte sie los: „He! Seht euch doch mal um! Erinnert euch diese Landschaft nicht an irgendwas?" Nova und Ronny sahen sich noch einmal um, diesmal aber etwas genauer als zuvor. Nach eingehender Betrachtung kam ihnen die Gegend wirklich bekannt vor. Nachdenklich blickten sie die Bäume und Sträucher an und warteten auf eine Erklärung.
Plötzlich juchzte Josie triumphierend. Wir sind wirklich im Auenland! Kennt ihr diese Gegend nicht? Na kommt schon, ich weiß, dass ihr sie kennt! „Josie, komm zur Sache!", zischte Ronny wütend. „OK, OK, ich hör ja schon auf! Also, hier ist des Rätsels Lösung! Und das ist wirklich eine tolle Lösung. Eine - " Ein warnender Blick von Ronny ließ sie schnell weiterreden. „Das sieht aus wie der Wald im Auenland! Ihr wisst schon, aus Der Herr der Ringe!" „Ja, wir wissen was Der Herr der Ringe ist, aber Josielein, das ist eine erfundene Geschichte, nicht die Wirklichkeit, wie gern du das auch hättest." Nova wollte Josie für total bescheuert und übergeschnappt erklären und ihr mitteilen, dass ihr Kopf doch etwas abbekommen hatte, doch dann klappte sie ihren Mund wieder zu. Es stimmte! Es sah hier genau so aus, wie die Stelle an der die vier Hobbits aus der Geschichte den Abhang heruntergepurzelt waren und Merry sich seine Karotte gebrochen hatte! Doch das konnte gar nicht sein. Es war UNMÖGLICH! Sie konnten nicht im Auenland sein! Der Herr der Ringe war doch eine Geschichte! Ein paar tausend Wörter auf ein paar tausend Blättern Papier! Ein paar Stunden Film!
„Ja, klar! Wir sind beim Fußball-Abfangen mit den Köpfen zusammengestoßen und durch die viele freigewordene Energie in einem unwirklichen Land gelandet. Vielleicht sind wir auch nur durch ein verstecktes Portal in eine andere Dimension geraten oder wir wurden von einem Licht entführt und hierher transportiert oder die Valar haben sich einen Scherz mit uns erlaubt und wir sollen Mittelerde ein bisschen aufmischen, nein, wir wurden alle durch den Zusammenstoß getötet und Mittelerde ist unser Himmel…oder unsere Hölle, je nach dem, oder noch besser, wir haben eine Sternschnuppe gesehen und uns das gewünscht, mmh, vielleicht waren wir auch im Wald joggen und haben uns verjoggt, oder wir haben auf dem Weg nach Hause Herr der Ringe gelesen und wurden vom Buch eingesaugt. Oder wir sind bei einem Spaziergang in eine Höhle hinein und in Mittelerde wieder heraus spaziert. Oder war des doch der böse, böse Fluss, in den wir gefallen sind und der uns hier wieder ausgespuckt bzw. angeschwemmt hat. Nein Mädels, ich muss es euch sagen, ich kann es euch nicht länger verheimlichen, wir haben alle drei zusammen Selbstmord begangen. Nein, wir waren ja gar nicht deprimiert. OK, dann war es einer dieser Tornados, die es bei uns eigentlich gar nicht geben dürfte, der uns aufgesaugt und hierher verfrachtet hat! Ha, jetzt hab ich's! Die ultimative Lösung: wir waren auf einer Party, einer so genannten „Convention" und als wir, gut verkleidet als Elbinnen, Hobbits oder was auch immer, wieder nach Hause gehen wollten, gab es unser gewohntes zu Hause nicht mehr, sondern nur DAS. Oder war es doch schlicht und ergreifend ein Blitz, der es auf uns abgesehen hatte? Sucht euch etwas aus", versuchte Ronny durch Sarkasmus ihre eigene Unsicherheit und Verwirrung zu überspielen. „Nein wartet! Ich mach für euch weiter: Durch irgendeinen oben genannten Zwischenfall landeten drei intelligente, witzige und absolut umwerfend aussehende Mädchen, jede bewaffnet mit ihrem eigenen Rucksack plus Inhalt, in einer schwierigen Zeit an einem seltsamen Ort - in Mittelerde um genau zu sein, zu der Zeit, als der dunkle Herrscher Sauron wieder an Macht gewann und alles in eine grooooße Dunkelheit stürzen wollte. Sie waren alle 17 Jahre alt und sehr verschieden. Eine der wenigen Gemeinsamkeiten war, dass sie alle den Film „ Der Herr der Ringe" mehrfach gesehen und auch die dazugehörigen Bücher verschlungen hatten.
Ronny, Abkürzung für Ronaldinha...Fußball...Ronaldo...ihr wisst schon...oder auch nicht…, die leidenschaftliche Fernsehsportlerin (sie hatte einfach keine Zeit sich selber sportlich zu betätigen, ehrlich!) hatte unzähmbares blond-braunes Haar. Doch allen Vorurteilen zum Trotz war sie intelligent...sehr intelligent - wenn auch ab und zu mal unlogisch. Sie hatte die wunderbare Gabe, könnte auch als schrecklicher Fluch bezeichnet werden, Grimassen aller Art zu schneiden, ob sie nun wollte oder nicht. Natürlich nützten ihre Freundinnen jede ihrer Grimassenattacken schamlos aus, um sie damit aufzuziehen (Nova beispielsweise verglich sie immer mit Gollum). Doch Ronny hatte es bis jetzt immer geschafft Rache zu üben, denn in ihrem kleinen Kopf rotierten tagein, tagaus die Rädchen, um den anderen zu zeigen, dass sie stärker und besser als sie war. Diese Eigenschaften hatten ihr die Spitznamen „The Face" und „Die Machtbesessene" eingebrockt, was sie aber gut ertragen konnte, da sie auf ihre Grimassen eigentlich richtig stolz war. Und die Beste war sie sowieso.
Josie war die Schreckhafte der drei, was vielleicht damit zu tun hatte, dass sie die Kleinste von ihnen war. Doch was ihr an Körpergröße fehlte, füllte sie mit ihrem Mundwerk wieder auf (Schlagfertigkeit fehlte ihr jedoch in Gegenwart von männlichen Personen). Sie konnte stundenlang vor sich hin schwafeln und wenn ihr Keiner zuhören wollte, führte sie eben Selbstgespräche. Josie wirkte mit ihren dunkelbraunen Haaren und braunen Augen ein wenig exotisch (und sie war MÄCHTIG stolz darauf). Und wenn man jemanden singen hörte, konnte man sich sicher sein, dass es die kleine Umweltschutzaktivistin war (jeder vermied Diskussionen mit ihr, denn sie hatte die Fähigkeit aus einer Mücke einen Elefanten zu machen).
Die absolute Optimistin war Nova. Mit ihren halb-halb Haaren (halb rot und halb braun – Josie lag ihr ständig damit in den Ohren, dass sie ihren Haaransatz endlich wieder mal neu färben sollte) zog sie schon einige Blicke auf sich, wenn auch nicht gerade bewundernde... Sie war das, was man eine Musikfanatikerin nannte und ein Tag ohne ein einziges Liedchen konnte sie zur schrecklichsten Bestie aller Zeiten machen (alle anderen waren zwar davon überzeugt, dass sie das sowieso war, doch das sagten sie lieber nicht laut). Die Ringertrainerin bildete sich schon leicht etwas auf ihre nicht vorhandene Kraft ein, doch Ronny schaffte es auf unglaublich unpädagogische Weise immer wieder, sie wieder auf den Boden der Tatsachen zurück zu holen. Auch Josie konnte Nova zum Gipfel des Nervenzusammenbruchs treiben. Doch dafür wischte die halbwegs Tapfere ihren beiden Freundinnen öfters mal mit ihren leeren Blicken und ihren wunderbaren „Ignorier – Sessions" eins aus (was Josie wiederum zum Wahnsinn trieb).
Reicht das, oder wollt ihr noch mehr hören?", beendete Ronny ihre Erzählung. „Nein danke, das reicht für den Anfang", gab Nova trocken zurück. Der Teil mit der „schrecklichsten Bestie aller Zeiten" hatte ihr gar nicht gefallen.
„Egal was passiert ist, was sollen wir jetzt machen?", war die leicht verzweifelt klingende Frage von Josie, die den Sarkasmus in Ronnys Stimme einfach ignorierte. „Keine Ahnung!", kam es von Nova zurück. „Wir könnten uns einfach ein bisschen umsehen!", schlug sie schließlich vor, „vielleicht finden wir ja doch eine ganz natürliche Erklärung dafür, wie wir hierher gekommen sind. Oder wir finden noch mehrere Anhaltspunkte dafür, dass wir wirklich in Mittelerde, im Auenland sind. Und dann können wir uns ja damit beschäftigen" „Ja, ja! Unser kleiner Elbenfreak kann sich wieder einmal nicht beherrschen!", stichelte Ronny. „Du hoffst wahrscheinlich, dass wir wirklich in Mittelerde gelandet sind und dass du vielleicht sogar Legolas, den Superelben, zu sehen bekommst!" Nova würdigte sie keines Blickes. Mit ihrem unzerstörbaren Optimismus hatte sie sich schon an den Gedanken gewöhnt wirklich in Mittelerde gelandet zu sein und freute sich, wie Ronny gesagt hatte, schon darauf Elben zu sehen. Und Legolas Grünblatt würde sie wirklich lieben gerne einmal zu Gesicht bekommen. Bevor sie noch weiter vor sich hin träumen konnte, wurde sie von Josie angestupst: „He, lasst und hier hinaufklettern. Ich will unbedingt wissen, ob da oben wirklich das Auenland ist!" Dabei zeigte sie auf den Abhang, der sich neben ihnen erhob. Sie war im Gegensatz zu ihren Freundinnen schon lange davon überzeugt, dass sie im Auenland waren und konnte es nur nicht mehr erwarten Frodo zu sehen. Ob er wirklich so schöne Augen hatte? Sofort begann sie hinauf zu krabbeln. Ronny hatte sich in der Zwischenzeit überlegt, dass sie das Ganze wahrscheinlich wirklich nur träumte oder sonstige Komavisionen hatte und hatte sich selber davon überzeugt, dass sie die Situation einfach so hinnehmen und annehmen würde. Im Moment sah es nämlich nicht so aus, als ob sich der Zustand (in welchem auch immer sie sich gerade befand) so schnell ändern würde.
Da sie die Sportlichste der drei war, überholte sie ihre Freundinnen mit links und so stand sie natürlich als Erste auf dem kleinen Hügel, von wo sie über ein großes Maisfeld sehen konnte. „Ach ja, das Teletubbieland", seufzte sie. „WAS!", kreischte Josie von weiter unten, „TELETUBBIELAND! Wage es nicht das Auenland TELETUBBIELAND zu nennen! Ahhhhh - !" Vor lauter Aufregung über Ronnys vernichtende Aussage war sie wieder ein Stück den Hang hinunter gerutscht und musste sich von neuem hinaufarbeiten.
Nova hatte es inzwischen auch geschafft und überblickte schnaufend die Gegend. Von unten hörten sie Josie leise vor sich hin fluchen und Ronny rief grinsend hinunter: „Komm schon Josielein! Dein angebeteter Frodo wartet schon auf dich!" „Was? Wirklich?!", kreischte die Kletterunbegabte. „Ja, klar!", stimmte Nova zu und konnte sich kaum das Lachen verkneifen. Den Winzling konnte man einfach immer wieder verarschen. Sie glaubte doch nicht im Ernst, dass Frodo hier stehen und auf sie warten würde! Endlich war auch Josie oben angekommen und blickte sich suchend um. „Wo ist er? Wo ist er?", rief sie ganz aus dem Häuschen. Dann dämmerte es ihr. „Frodo ist gar nicht da, hab ich recht?", fragte sie leise und verbittert. Ronny sah sie nur schräg an und Nova sah das Unheil schon kommen. Und es kam. Josies Augen nahmen einen glasigen Ausdruck an und ihre Lippen wurden zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Die Linie war schon so schmal, dass sie kaum noch zu sehen war, was ein bisschen komisch aussah. „Ach Josie, überleg doch mal. Warum sollte Frodo hier auf dich warten? Der hat doch keine Ahnung dass wir hier sind. Wir haben ja selber keine Ahnung wie wir hierher gekommen sind. Außer natürlich, wir befinden uns in deinem Lieblingstraum…" Ronny versuchte vergeblich sich zu beherrschen, doch dieses lippenlose Gesicht war einfach zu komisch. Sie prustete los. Ruckartig machte die Verspottete eine 180 Grad Wende und kehrte ihren Freundinnen stocksauer den Rücken zu. Nova seufzte. „100 Punkte für unsere Intelligenzbestie. Wieder einmal hat sie es geschafft unseren Gartenzwerg tödlich zu beleidigen! Das kann ja heiter werden!", murmelte sie. Die Musikfanatikerin bemerkte leider nicht, dass sich die besagte Intelligenzbestie nach diesem Kommentar raubtierartig auf sie zu bewegte...
