Kapitel 1 - Abschied

Die Klingel lässt mich aufsehen. Das Geräusch mochte ich noch nie, doch jetzt hasse ich es. Unmotiviert stehe ich auf und lege das Lesezeichen in mein Buch. 'Der Kuss des Dämons'. Ich mag das Buch jetzt schon. Wieder ertönt die Klingel. „Macht ihr mal auf?!" Mia klingt genervt. Und ich bin es. Besuch ätzt. Trotzdem gehe ich aus meinem Zimmer und lehne mich an das obere Treppengeländer. Ich sehe, wie Lura die Tür öffnet und Dawn reinkommt. Enttäuscht seufze ich. Niedergeschlagen gehe ich Stufe für Stufe runter. Unten lehne ich mich gegen das Geländer. „Hallo Mia" Dawn lächelt und winkt in Richtung Küche, wo Mia raus schaut und zurück lächelt. Dann wendet sich Dawn mir zu. „Hey..." Sie lächelt, doch es ist ein falsches Lächeln. „Mhmm." „Ich lass euch mal allein", meldet sich Lura zu Wort und flüchtet in die Küche. „Ich kann auch gehen." „Besser so" Dawn schenkt mir ihr zuckersüßes Lächeln. „Mhmm." Genervt drehe ich um und laufe die Treppen hoch. Bis heute verstehe ich nicht, warum Lura und Dawn ein Paar sind. Ja, sie ist hübsch, aber das war es dann auch. Ihr Charakter ist mir so sympathisch wie eine Nacktschnecke. Na gut, das gleiche kann man auch von mir sagen. Kaum bin ich in meinem Zimmer höre ich Gelächter von unten. Klar. Mia mag jeden, der mich auch nur ansatzweise verabscheut. Das beruht allerdings auf Gegenseitigkeit. Gereizt kralle ich mir mein Buch und schlage die Seite auf, bei der ich stehen geblieben bin. Warum musste ich nur hier bleiben? Ich verstehe es nicht. In diesem Haus bin ich noch weniger erwünscht als ein Massen-Mörder! Kopfschüttelnd lese ich weiter.

Am Abend klopft es an der Tür. Zum ersten Mal, seit Dawn aufgetaucht ist, sehe ich auf. Lura kommt rein. Plötzlich fühle ich mich unwohl. Ein seltsames Gefühl liegt mir in der Brust. Als ob ich unter Wasser versuche zu atmen. Es geht nicht. /Ist es soweit?/ Die Frage steht mir vermutlich im Gesicht. Und er nickt. Das schlucken fällt mir schwer. Genauso wie das atmen. Lura greift stumm nach meiner Hand und drückt sie. Dann geht er raus, in das Badezimmer. Die nächsten fünf Minuten kämpfe ich gegen die Tränen an. Weinen hilft jetzt einfach mal gar nicht. Als Lura drüben leise meckert gehe ich nachsehen, was los ist. Erfolgslos versucht er eine Krawatte zu binden. Bei diesem Anblick muss ich schmunzeln. Anscheinend habe ich ein Laut gemacht, denn er sieht zu mir. „Ich kann so etwas nicht...!" Seine entschuldigende Miene bringt mich zum kichern. Kichern... Das kann ich nur bei ihm. Nur bei meinem Bruder. Ohne mich anzustrengen binde ich seine Krawatte. In der Zeit stylt er seine Haare. Als ich fertig bin trete ich einen Schritt zurück und mustere mein Werk. Wenn er nicht mein Bruder wäre, würde ich ihn wahrscheinlich heiß finden. Zufrieden lächle ich. Doch mir ist nicht zum lächeln zu Mute. Zögernd legt er seine Hände auf meine Schultern. Auch das darf nur er. „Meinst du, du schaffst das hier allein? Du kannst auch noch mit..." Behutsam schiebe ich seine Hände runter und sehe ihm in die Augen. „Klar. Ich meine Mom hasst mich ja nur und Dad noch mehr, wenn das überhaupt geht." Spöttisch lächle ich. Seine Miene wird ernst. „Gut. Und jetzt ernsthaft. Meinst du, es geht?" Ich bin dazu geneigt ihn zu bitten mich mitzunehmen, doch ich bin ihm schon zu oft zur Last gefallen. Früher war er es, der mich aus den Prügeleien gerettet hat und dabei schweren Schaden auf sich genommen hat. Jetzt soll er dafür belohnt werden. „Ich bin reifer geworden. Das müssen die zwei auch sehen. Es wird alles okay." Wir stehen noch einige Zeit einander gegenüber, doch dann hupt ein Auto. Ich sehe zum Fenster. Dann schaue ich Lura wieder an. Auch ihm fällt es schwer. Gemeinsam, Hand in Hand, gehen wir runter und vor die Tür. Erst, als er sich löst fällt mir auf, wie fest mein Druck gewesen sein muss. Mein Herz fühlt sich an, als wenn es zerrissen wird. Ist das Liebe? Wenn ja, ist sie grauenvoll. Wieder steigen mir Tränen in die Auen. Und wieder kämpfe ich dagegen an. Zuerst umarmt Lura Mia und Damien. „Bye Mom, bye Dad." „Pass gut auf dich auf!" Mias Stimme zittert doch Lura lächelt ihr aufmunternd zu. „Klar." Dann dreht er sich zu mir. Worte waren nie meine Stärke gewesen, aber erst jetzt finde ich genau das schlimm. „Nicht weinen. Denk daran, du bist die starke von uns..." „Mhmm..." Dann falle ich ihm, zu seiner und meiner Überraschung, um den Hals. „Nein. Du..!" Luras sanftes lachen dringt in mein Ohr. „Ich liebe dich, Schwesterchen." Ich zögere. Und dann flüstere ich die Worte, die noch niemand aus meinem Mund gehört hat. „Ich liebe dich auch, Lura." Ehe er etwas sagen kann löse ich mich und wische die Tränen, die mir doch über die Wange gelaufen sind, weg. Widerwillig steigt er in das Auto. Zum letzten Mal winkt er mir und zum letzten Mal lächle ich meinem Bruder direkt in das Gesicht.