Lost in Shadows
von Michelle Mercy
Eine weitere Valjean/Javert-Afterlife-Story, vielleicht die düstere Seite von „Even the darkest night will end",
Slash, inspiriert von „His Call" von drawingblinds
Die Jungs gehören Hugo, wem ihre Seelen gehören, bleibt abzuwarten.
Die Advokatin des Teufels und ihre natürliche Umgebung stammen aus dem „Wahrhaft teuflisch!"-Universum und gehören mir.
1. Kapitel
Javert erwachte. Er hatte nicht erwartet, jemals wieder zu erwachen, als er sich von der Brüstung der Brücke abgestoßen hatte und gefallen war. Er erinnerte sich noch an die Kälte des Wassers, erst um seinen Körper herum, und dann in seinen Lungen. Er erinnerte sich ebenfalls daran, wie er einmal, dann ein zweites Mal von der Strömung gegen den Pfeiler der Brücke geworden worden war und das Bewußtsein verloren hatte, so daß er später nicht hätte sagen können, wie er letztendlich gestorben war, durch Ertrinken oder Zerschmettert werden.
Womit er nicht gerechnet hatte, war wieder zu sich zu kommen. Doch er spürte, wie das Leben in seinen Körper zurückzukehren schien. Nach der Kälte der Seine umfing ihn eine angenehme Wärme. Er zwang sich, die Augen aufzuschlagen, und stellte fest, daß er auf einem sehr weichen, tiefen Teppich lag, der ebenso wie die Wände eine tiefrote Farbe hatte.
‚Oh, Gott', war der erste Gedanke, der durch seinen Kopf schoß, ‚wieso muß ich ausgerechnet in einem Bordell wieder zu mir kommen?' Nicht daß er ein solches Bordell jemals privat betreten hätte, aber sein Beruf hatte ihn zu seinem Leidwesen dazu gezwungen, einige Male dort eine Verhaftung vorzunehmen.
Der zweite Gedanke, den er hatte, ließ ihn erkennen, daß irgend etwas nicht richtig war. Er spürte keinerlei Schmerzen, obwohl bei seinen Zusammenstößen mit dem Brückenpfeiler zahllose Knochen gebrochen sein mußten. Er versuchte vorsichtig, sich zu bewegen; noch immer kein Schmerz.
Javert setzte sich auf und sah sich um. Direkt neben der Tür stand ein Schreibtisch, an dem eine schmale Gestalt mit Hörnern saß. Diese Gestalt sagte kein Wort und ließ auch ansonsten nicht erkennen, daß sie ihn zur Kenntnis nahm. Javert kam auf die Füße. Er stellte fest, daß er noch immer die Kleidung trug, mit der er sich ins Wasser gestürzt hatte. Überraschenderweise saß sein Zopf perfekt an seinem Platz, er hätte wetten können, daß er eine oder mehrere Strähnen herausgezogen hatte, bevor er sprang.
Das gehörnte Wesen griff zu einer Art Schlauch, an dessen Ende etwas hing, das wie ein dämonischer Wasserspeier aussah, und sprach in dieses Ende hinein. „Hier ist Aufwachraum 171… Er ist jetzt wach… Ich würde ihn jetzt bei Ihnen vorbeibringen… Ja, dann machen wir uns auf den Weg." Das Wesen legte den Schlauch beiseite und erhob sich. „Kommen Sie", forderte es Javert auf.
„Wohin?" fragte Javert. „Wo bin ich überhaupt? Und wer sind Sie?"
„Fragen, immer diese Fragen", seufzte das Wesen. „Könnt ihr Menschen euch nicht einfach mal in Geduld üben?"
„Wir Menschen? Was sind Sie?"
„Alle Ihre Fragen werden beantwortet werden, wenn Sie mich begleiten", erwiderte das Wesen gelangweilt, als habe es diese Frage schon zu häufig beantworten müssen.
Javert zuckte mit den Achseln und folgte dem Wesen aus dem Raum. Die letzten zwei Tage waren so irrsinnig gewesen, daß er durchaus noch ein bißchen auf eine Erklärung warten konnte.
Es war ein bizarrer Weg, durch den Javert geführt wurde. Von überall her schimmerten Rottöne in jeder nur vorstellbaren Schattierung, bis diese nach einigen Metern etwas verblaßten. Der Gang wurde eng und schmucklos. Vor einer Tür mit der Nummer 47 hielt das gehörnte Wesen an und klopfte, um dann ohne auf Antwort zu warten, die Tür zu öffnen, beiseite zu treten und Javert zum Eintreten aufzufordern.
In dem Zimmer war wenig mehr Platz als für einen Schreibtisch, hinter dem eine in Rot und Schwarz gekleidete Frau saß. Die Tür schloß sich. Javert war mit der Frau allein.
„M. l'Inspecteur, herzlich willkommen in der Hölle", sagte die Frau.
„Die Hölle?" Wenigstens erklärte es, daß das Wesen Hörner gehabt hatte. Und es war beruhigend, daß er sich offensichtlich nicht in einem Bordell befand.
„Falls Sie es noch nicht bemerkt haben sollten, Sie sind tot."
Javert atmete erleichtert aus. Immerhin hatte er nicht versagt dabei, sich umzubringen.
„Ich muß gestehen", fuhr die Frau fort, „ich weiß gar nicht so ganz genau, was ich mit Ihnen anfangen soll."
„Und Sie sind…?"
„Oh, natürlich. Die Advokatin des Teufels. Na, ja, eine Advokatin des Teufels, Nummer 47, um es genau zu sagen."
„Aha", machte Javert.
„Und ich versuche gerade, eine Position zu finden, die für Ihre Fähigkeiten passend ist."
Irgendwie hatte Javert sich das Todsein anders vorgestellt. Er war sich nicht bewußt, ob und was er sich unter Leben nach dem Tode vorgestellt hatte, eine geschäftsmäßige Frau, die eine „passende Aufgabe" für ihn suchte, war es jedenfalls nicht gewesen. Überhaupt, seit wann erhielt er seine Aufgaben von Frauen?
„Ihre Akte ist die dünnste, die ich jemals auf dem Tisch hatte", erklärte die Advokatin. „Eigentlich besteht sie nur aus einem Wort: ‚Selbstmörder'. Warum haben Sie das eigentlich getan?"
„Das ist meine Angelegenheit." Javert war alles andere als bereit, dieser völlig fremden Frau seine Gründe für den Sprung in die Seine zu erklären. Oder besser gesagt über die Person, die ihn dazu gebracht hatte, zu reden. Schon den Namen nur zu denken, bereitete ihm Unbehagen, daher unmöglich, ihn auszusprechen.
„Wie Sie wünschen. Wir sind hier große Anhänger des Respekts vor Privatsphäre."
Javert sah sich nicht in der Lage festzustellen, ob die Advokatin die Bemerkung nun ironisch meinte.
„Wie gesagt, Ihre Akte ist unglaublich dünn, und wenn Sie nicht diesen ausgesprochen dämlichen Schritt über dieses Brückengeländer gemacht hätten, würden wir beide dieses Gespräch nicht führen." Sie vertiefte sich erneut in die Akte. „Tja, wie Sie sich vorstellen können, haben wir hier nicht allzu viele Posten für Polizisten, insbesondere, wenn sie so hingebungsvolle und unbestechliche Polizisten sind, wie Sie es waren."
„Das ist vorbei." Javert stand so steif und aufrecht da, daß auch der strengste Vorgesetzte keine Einwände gegen seine Haltung hätte erheben konnte.
„In Ordnung", erwiderte die Advokatin und überlegte im Stillen, ob es wohl interessant wäre, die Ursache der Verwirrung ihres neuesten Mandanten kennenzulernen; die Chancen dafür standen allerdings nicht besonders gut. Bekanntermaßen war diese Ursache ein Heiliger. „Können Sie denn ansonsten noch etwas besonders gut?"
Javert gab keine Antwort, denn er kannte sie nicht.
XXX
Es waren beinahe sechs Monate vergangen, seit Javert gestorben und in der Hölle zu sich gekommen war. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, und die Mühlen der höllischen Justiz sind da absolut keine Ausnahme. Seine Verhandlung, in welcher entschieden werden sollte, welche Qualen seinen Sünden angemessen waren, hatte noch nicht einmal einen Termin.
Die Advokatin hatte ihm, damit es nicht zu langweilig wurde, eine Stelle in der höllischen Registratur besorgt, wo er den lieben langen Tag Akten von einer Ecke in die andere räumte, was alles andere als aufregend war. Es war dennoch eine Aufgabe, und wie alle Aufgaben in seinem Leben übte Javert sie gewissenhaft aus, doch ihr Sinn erschloß sich ihm nicht.
Außerdem fand er den Alltag in der Hölle ausgesprochen schwierig. Natürlich war er sein Leben lang allein gewesen, ein Einzelgänger, aber außerhalb seines Dienstes hatte er sich unter anständigen Menschen bewegt, wenn er etwas zu essen kaufte oder sonstige Dinge des täglichen Bedarfes. In der Hölle einen anständigen Menschen zu finden, war unmöglich, und mit all den unanständigen Menschen wollte er auch jetzt keinen Kontakt haben.
So hatte er seit sechs Monaten mit niemandem mehr ein Wort gewechselt, eigentlich seit dem Gespräch mit der Advokatin. Javert war so langweilig, daß er mit dem begann, was er am besten konnte, nämlich Beobachtungen zu machen. In seiner viel zu großen Freizeit – die Arbeitszeiten in der Hölle waren kurz, damit ausreichend Zeit verblieb, der Sünde der Faulheit nachzugehen – begann er, Notizen zu machen über Mißstände. Es überraschte ihn ganz und gar nicht, daß diese Mißstände vorhanden waren, es handelte sich schließlich um die Hölle, in welcher er sich aufhielt, doch die Art der Mißstände empfand er als erstaunlich. Es handelte sich um mangelhafte Organisation in höllischen Abläufen, also Dingen, deren ordnungsgemäße Erledigungen im ureigensten Interesse der Hölle liegen mußten.
Es war an einem Tag kurz um das irdische Weihnachten herum, als Javert sich entschloß, die tödliche Langeweile dadurch zu unterbrechen, daß er begann, eine Mitteilung an die Advokatin zu schreiben; einen anderen Adressaten kannte er mangels sozialer Kontakte nicht.
„Einige Beobachtungen im Interesse des Dienstes:
Erstens: Ich bitte Mme l'Advocate, einen Blick hierauf zu werfen…"
XXX
Die Advokatin hob die Augenbrauen, als sie die erste Zeile dieses Schreibens überflog, das ihr einer ihrer Mandanten hatte zukommen lassen. Sie hatte schon länger nicht mehr an den merkwürdigen Polizisten gedacht, dessen Verhandlung noch immer nicht terminiert war. Mit einem Gefühl der Beunruhigung las sie weiter.
„Zweitens: Die Besenpiloten auf der Besenschnellstraße halten sich an keine Regeln darüber, welchem Besen die Vorfahrt gebührt. Dadurch kommt es zu Zusammenstößen, durch die erhebliche Kosten entstehen, die vermieden werden können.
Drittens: Das Beobachtungssystem der Wärter über die Verdammten ist mangelhaft. Den Verdammten wird zuviel Möglichkeit gegeben, sich der Überwachung zu entziehen, weil die Wärter immer nur einzeln eingesetzt werden und sich daher nicht gegenüber überwachsen, ob sie ihrer Tätigkeit auch ordentlich nachgehen.
Viertens: Die Qualität des Essens läßt deutlich zu wünschen übrig, so daß kaum jemand die Todsünde der Völlerei begehen mag.
Fünftens: Die Zeit zwischen Eintritt in die Hölle und Verdammung ist zu lang. Durch die lange Zeit kann mit den Qualen nicht zeitnah begonnen werden.
Sechstens: Die Dämonen sind bestechlich und lügen aus nichtigem Gründen. Hierdurch wird das System der Heimsuchungen erheblich verlangsamt. Es bedarf einer besseren Überwachung, um Heimsuchungen zeitnah stattfinden zu lassen.
Siebtens: Die Qualen sollten in einer Weise vollstreckt werden, die Männer und Frauen voneinander trennt. Dies ist der Schicklichkeit geschuldet.
Achtens: Einige Qualen sind derartig unschicklich, daß sie nur von Wärtern des gleichen Geschlechtes beaufsichtigt werden sollte zur Wahrung von Sitte und Anstand.
Neuntens: Es sollte ein Auge darauf gehabt werden, daß in der Gaststätte ‚Zur ewigen Verdammnis' einige Höllenbewohner eine Verschwörung planen; es handelt sich um einen gewissen Enjolras und mehrere andere Studenten, die schon zu Lebzeiten mit einem Aufstand negativ aufgefallen sind.
Zehntens: Eine junge Frau namens Eponine belästigt mit ihrer Aufmerksamkeit junge adelige Herren. Hier sollte man Abhilfe schaffen.
Javert, Polizeiinspektor erster Klasse, a. D. in der höllischen Registratur, 30. Dezember 1832, gegen ein Uhr morgens"
Die Advokatin ließ das Papier sinken und verzog das Gesicht. Das sah übel aus, sogar ausgesprochen übel. Der Mann schien es darauf abgesehen zu haben, die teufelsgewollte Unordnung der Hölle in Frage zu stellen. Was sollte sie jetzt tun? Zu ihrem Vorgesetzten zu gehen, war keine Option, der war ein ausgemachter Idiot. Zögernd griff sie nach einem Papier und begann, ihrerseits zu schreiben.
„Memo
Von: RA47
An: 666
Betreff: problematischer Neuzugang
Erbitte Anweisung, wie mit Autoren des beigefügten Schreibens zu verfahren ist. Befürchte Gefährdung der höllischen Unordnung."
Die Advokatin heftete Javerts Schreiben an ihr Memo, atmete noch einmal tief durch und sandte dann beide mit dem höllischen Rohrpostsystem ab. Sie wußte nicht, ob sie richtig handelte; sich direkt an den Beherrscher der Hölle zu wenden unter Umgehung des Dienstweges, war mit Sicherheit riskant für ihre Karriere.
Sechs Wochen lang hörte die Advokatin nichts. Sie begann, sich zu fragen, ob man an höchster Stelle ihr Memo überhaupt zur Kenntnis genommen hatte. Als sie jedoch am 13. Februar ihr Büro betrat, sah sie, daß auf ihrem Schreibtisch eine Rohrpostmitteilung lag. Mit zitternden Händen öffnete sie das Rohr und entnahm das Papier.
„Memo
Von: 666, Sekretariat
An: RA47
Betreff: problematischer Neuzugang
Klingt nicht gut. Wir sollten etwas unternehmen. Prozedur 10642 einleiten."
Die Advokatin betrachtete das Papier. Sie hatte keine Ahnung, was Prozedur 10642 war. Sie griff nach dem Handbuch für höllische Advokaten, verfluchte zum wiederholten Male, daß das Werk so unsystematisch war, was eine gewisse Sympathie für Javerts Brief beinhaltete, und fand schließlich die richtige Seite.
Sie starrte auf den Text und schüttelte den Kopf. Was sie las, gefiel ihr ganz und gar nicht.
