Kapitel 1

Coming of Age

Die Julisonne brannte fahl durch einen dünnen Wolkenschleier, der für den Abend ein Gewitter verhieß. Im Ligusterweg herrschte Mittagsstille, die Stimmen der spielenden Kinder, ohnehin meist schnell von besorgten Müttern zur Ruhe gerufen, waren verstummt, gedämpft hörte man von hier und da durch die hoffnungsvoll geöffneten Fenster das Klirren von Besteck und Geschirr.

Auch in Nummer vier, einem gepflegten Häuschen, das sich von denen der Nachbarn höchstens durch einen grüneren Rasen und die in Reih und Glied angeordneten Blumen in den Blumenbeeten unterschied, rief Petunia Dursley zum Lunch.

Schweres Getrampel auf der Treppe kündigte an, dass zumindest einer der Bewohner dem Ruf sofortige Folge leistete. Keuchend und rotgesichtig ließ sich Dudley Dursley nur wenige Sekunden später auf seinen Stuhl im Esszimmer fallen.

"Schon wieder Selleriestangen mit Dip?", murrte er.

Petunia, die so hager war wie ihr siebzehnjähriger Sohn fett, verzog das Gesicht.

"Liebes, du musst Diät halten! Colin Fortescue hat mich geradezu dazu verpflichtet. Er meint, er kann dich sonst nicht weiter trainieren."

Grunzend nahm Dudley einen Sellerieschnitz in seine fleischigen Hände und würdigte seine Mutter keiner weiteren Antwort.

Petunia, die in diesem Sommer blass und gehetzt aussah, stand unschlüssig im Kücheneingang und schien mit sich in irgendeiner Sache zu kämpfen. Dann ging sie hinaus in den Flur und rief noch einmal: "Das Essen ist fertig!"

Keine Reaktion.

"Dann beklag dich aber später nicht, Harry!"

Als sie sich dann an den Esstisch setzte, starrte Dudley sie verwundert an. Er hatte sogar einen Moment im Kauen innegehalten.

"Sei doch froh, wenn er oben bleibt!"

Petunia nahm sich mit zimperlichen Bewegungen ein wenig Rohkost und stocherte darin herum, ohne wirklich zu essen. Das Schweigen im oberen Stock lastete allmählich auf ihren Nerven. Sie verstand sich selbst nicht: Nun, da der Tag endlich näher rückte, auf den sie alle seit Jahren gewartet hatten, der Tag, an dem ihr Neffe Harry endlich ausziehen und die Dursleys auch in den Ferien wieder ein normales Leben würden führen können – nun wurde sie von Tag zu Tag unruhiger.

Oben, in Dudleys altem Zimmer, umgeben von Dudleys ausrangierten Besitztümern, lag auf einem durchgelegenen Bett ein Junge, der so blass und mager war, dass zum ersten Mal in seinem Leben eine gewisse Ähnlichkeit mit seiner Tante Petunia erkennbar wurde. Er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und starrte an die Decke.

So hatte Harry Potter den überwiegenden Teil seiner ersten Ferienwochen verbracht. Der große Koffer, der seinen ganzen Besitz enthielt, stand achtlos mitten im Zimmer, schmutzige Socken klemmten nachlässig unter dem nur aufgelegten Deckel. Er hatte gar nicht erst ausgepackt. Die beiden Regalborde, in denen er in den vergangenen Jahren einige Bücher untergebracht hatte, waren jetzt leer und staubig.

Harry nahm das Zimmer ohnehin kaum wahr. Die Szenen, die sich wieder und wieder in seinem Kopf abspulten, waren so grell und wild, dass sie ganz bestimmt keine Langeweile aufkommen ließen.

Seit er vor drei Wochen in dem üblichen Knäuel lärmender Mitschüler aus dem Hogwarts-Express gestiegen und an der Seite von Tante Petunia, die ihn als Einzige am Bahnhof erwartet hatte, zurück in die Muggelwelt gegangen war, erschien ihm alles um ihn herum seltsam unwirklich. Es war, als sehe er die Welt durch eine dicke, gefrostete Glasscheibe: die Stimmen der Menschen, der Verkehrslärm in den Straßen – all das war gedämpft und weit weg. Selbst das Sonnenlicht und der Boden unter seinen Füßen schienen nicht viel mit ihm zu tun zu haben. Ein paar Mal hatte er sogar das erschreckende Gefühl gehabt, seine Füße und den Boden darunter gar nicht mehr spüren zu können, und als er dann erschreckt nach Luft schnappen wollte, schien keine da zu sein.

Es war leichter, einfach auf seinem alten Bett mit der zerschlissenen Decke zu liegen und sich den Szenen zu überlassen, die offenbar ohne sein Zutun und ohne Unterlass in seinem Gehirn abliefen.

Mum, Dad, Sirius, Dumbledore, dachte er wieder und wieder.

Und wenn er dann von unten die Stimmen von Tante Petunia, Dudley und Onkel Vernon hörte – "Ich sag dir, der Kerl nimmt Drogen, Petunia!", hatte Letzterer gestern durch das Haus gedröhnt – dann kamen sie ihm so harmlos vor. Hatte er wirklich mit diesen Leuten all die Jahre im Dauerstreit gelegen, sich von ihnen verfolgt und schikaniert gefühlt? Hatte er ihre Engstirnigkeit, ihre Angst, bei den Nachbarn aufzufallen, weil ihr Neffe ein Zauberer war, wirklich ernst genommen? Vernons Wutanfälle, Dudleys Gezänk, Petunias Keifen – was war das schon? Sie waren dumm, manchmal gemein. Aber sie deshalb hassen? Zumindest brachten sie niemanden um.

Und dann fing es wieder an: Mum, Dad, Sirius, Dumbledore ...

Draußen grollte ein erster Donner über die Dächer. Durch das Fenster kam ein plötzlicher Windstoß und wirbelte etwas herein, das Harry zuerst für ein Blatt hielt. Als es aber wie wild durchs Zimmer zu schwirren begann, setzte er sich ruckartig auf.

"Pigwidgeon!"

Mit einem Satz war er auf, und die winzige graue Eule landete auf seinem Kopf. Es dauerte einige schmerzhafte Sekunden, bis sie sich aus seinem Haar befreien konnte, ein würdeloses Schauspiel, von dem sich Harrys Schneeeule Hedwig, die im Käfig am Fenster saß, demonstrativ abwandte. Aber Harrys Herz schlug rascher vor Freude über den kleinen Postboten seines Freundes Ron. Es war ihm beinahe egal, was in dem Brief stand, der an Pigs Bein befestigt war.

Hastig entrollte er das Pergament und las:

"Hi Harry,

wir laden Dich zu einer Überraschungsparty diesen Donnerstag ein. Wir holen Dich morgens um halb neun ab. Lass Dich nicht von den Dursleys ärgern!"

Und unter diese Zeilen hatte Hermione noch geschrieben:

"Uns ist klar, dass Dir nicht nach Party zumute ist. Uns geht's auch so. Aber lass Dich trotzdem überraschen!"

Harry drehte das Pergament um in der wilden Hoffnung, doch noch irgendwas von Ginny zu finden, aber da war nichts, und während er sich wieder auf sein Bett sinken ließ, wurde ihm klar, dass sie sich nur an das hielt, worum er sie gebeten hatte.

Überraschungsparty! Klar, man wird nur einmal volljährig. Und am Donnerstag war sein siebzehnter Geburtstag – wirklich schon am Donnerstag?

Er fuhr wieder auf. Pigwidgeon, der sich auf seinem Bein niedergelassen hatte und mit wildem Picken Harrys Aufmerksamkeit auf die Tatsache zu lenken versuchte, dass er doch wohl zumindest Wasser und ein paar Eulenkekse verdient hatte, flog kreischend auf. Hedwig schloss angewidert die Augen.

Aber Harry war wie aus einem langen Alptraum erwacht. Draußen wühlte der Wind nun in den Baumkronen, und die ersten Regentropfen klatschten auf die Fensterbank.

Als Zauberer wurde er mit siebzehn volljährig. Sein Geburtstag würde ihn frei machen. Frei von den Dursleys. Frei von dem Zwang, Zeit in der Welt der Muggel zu verbringen. Frei, in der magischen Welt zu leben und zu zaubern, wann immer er wollte. Er würde endlich frei sein zu gehen, wohin er wollte.

Wie hatte er darauf gewartet! Welche Pläne hatte er noch vor wenigen Monaten für diese Zeit geschmiedet! Und jetzt –

Er hatte auf einmal das Bild einer Sanduhr vor Augen, durch die die letzten Körner immer schneller rieselten.

Unten schlug die Haustür, Sekunden später heulte ein Automotor auf. Dudley fuhr zum Training. Als er Schritte auf der Treppe hörte, fiel ihm Pigwidgeon wieder ein, der schimpfend auf Harrys Koffer saß. Hoffentlich hatte Tante Petunia ihn nicht durchs Fenster fliegen sehen!

"Komm schon, Pig!" rief er leise und öffnete Hedwigs Käfigtür. "Hier rein! Und schön leise sein."

Er schob noch eine Handvoll Eulenkekse in den Käfig, und der kleine graue Kauz hüpfte hinterher. Hedwig rückte indigniert ans Ende ihrer Stange, und als Harry auch noch nach einem alten Pullover griff und ihn über den Käfig warf, sah sie eindeutig beleidigt aus.

Er hatte den Besucher keinen Augenblick zu früh versteckt. Die Zimmertür wurde geöffnet, und Harry fuhr herum. Da stand Tante Petunia.

"Ich – ich muss mit dir reden –", begann sie.

Harry war so perplex, dass er nichts sagen konnte. In den beinahe sechzehn Jahren, die er nun bei den Dursleys wohnte, war es noch nie vorgekommen, dass seine Tante ein Gespräch mit ihm suchte. Aber jetzt kam sie herein, schloss sorgfältig die Tür und blieb unbehaglich davor stehen; die Situation war ihr sichtlich ebenso unvertraut wie Harry.

"Du hast Vernon und mich letztes Jahr sehr gekränkt mit dieser schrecklichen Szene mit deinem Lehrer", begann Petunia, darauf anspielend, wie Dumbledore ihn im vergangenen Sommer bei den Dursleys abgeholt und ihnen bei dieser Gelegenheit gewissermaßen eine Strafpredigt gehalten hatte, weil sie sich um Harry nicht so gekümmert hatten, wie sie es hätten tun sollen. "Und trotzdem haben wir dich noch einmal aufgenommen. Aber am Donnerstag ist dein Geburtstag, und wenn wir deinen Lehrer richtig verstanden haben, bist du dann in – in deiner Welt volljährig."

Offensichtlich wurde hier eine Antwort erwartet, also nickte Harry.

"Er sagte etwas von einem – äh – Schutz, den wir dir hier geben könnten, und dass der mit deiner Volljährigkeit endet."

Harry nickte noch einmal.

"Das heißt vermutlich, dass auch wir von da an in Gefahr sind, wenn wir uns länger mit dir abgeben. Irgendeine Gefahr, die du dir in dieser – dieser Schule da zugezogen hast – in die wir dich nie schicken wollten, das hast du hoffentlich nicht vergessen."

"Mmh", sagte Harry.

"Du kannst dann nicht länger hier wohnen. Vernon erwartet, dass du ausgezogen bist, wenn wir in zwei Wochen aus dem Urlaub zurück sind."

Petunia sah ihn streng an.

"Ich werde am Donnerstagmorgen von meinen Freunden abgeholt", sagte Harry leise. "Ich nehme meine Sachen mit und – äh, komme nicht wieder."

Petunia nickte erleichtert.

"Ich hoffe sehr, sie benehmen sich unauffällig! Das hier ist eine anständige Wohngegend, und ich möchte nicht, dass wir zu guter Letzt doch noch ins Gerede kommen deinetwegen."

Aber sie war noch nicht fertig, der wirklich schwierige Teil schien noch zu kommen.

"Wir werden keine weitere Gelegenheit mehr haben –", begann sie und schien nicht recht zu wissen, wie sie fortfahren sollte.

Harry verstand. Übermorgen brachen die drei in den Urlaub nach Mallorca auf, und es war unwahrscheinlich, dass Dudley und Onkel Vernon noch einmal beide gleichzeitig aus dem Haus sein würden. Tante Petunia wollte offenbar keine Zeugen dieses seltsamen Gesprächs haben, und der Grund wurde Harry bei ihren nächsten Worten klar.

"Ich habe hier noch etwas für dich, das mir Dumbledore – so hieß er doch? – damals nach Lilys Tod gegeben hat. Es ist wohl so etwas wie ein Erbstück, das ich dir erst zu deinem siebzehnten Geburtstag geben sollte."

Sie zog aus der Schürzentasche ein kleines Päckchen und gab es ihm nach einem Moment des Zögerns.

"Ich habe lange überlegt, ob ich es dir wirklich geben soll. Aber es gehört ja wohl dir."

Harry nahm das Päckchen, und während er darauf in Dumbledores Schrift "Für Harry, zu seinem siebzehnten Geburtstag, nicht früher und nicht später!" las, redete Petunia weiter.

"Ich vermute, dass du wirklich in Gefahr bist. Was mit meiner Schwester passiert ist, war schrecklich. Und es lag alles an dieser unsinnigen Zauberersache. Unsere Eltern hätten nie zulassen dürfen, dass sie da hineingerät."

Sie machte eine Pause und sah ihn dann an.

"Du solltest versuchen, da herauszukommen. Such dir eine Arbeit, irgendwas wirst du ja können, auch wenn du deine Schulzeit mit diesem Unsinn vergeudet hast."

Harry begriff das Unglaubliche. Sie machte sich tatsächlich Sorgen um ihn!

Und er begriff schlagartig noch etwas anderes: Wenn es je eine Möglichkeit gegeben hatte, von ihr etwas über die Familie seiner Mutter zu erfahren, dann war sie jetzt da. Vorsichtig, um sie nur nicht durch zu großen Eifer zu verschrecken, fragte er: "Wie waren sie so, meine Großeltern? Und wann – wann sind sie gestorben?"

Petunia wand sich immer noch unbehaglich, ihre knochigen Hände kneteten den Saum ihrer Schürze.

"Sie sind – wir haben nie Genaueres erfahren. Sie waren Archäologen und sind bei einer Grabung im Irak verschollen. Das ist jetzt zwanzig Jahre her."

Harry zwang sich zur Ruhe. Nur kein falsches Wort jetzt, dann würde sie vielleicht weiterreden.

"Sie hatten kein Gramm gesunden Menschenverstand, gaben sich mit den verrücktesten Sachen ab und kümmerten sich kein bisschen um die normalen Dinge des Alltags!", platzte es aus Petunia heraus. "Brüteten ständig über irgendwelchen alten Scherben und Schriften, waren monatelang auf Ausgrabungen in obskuren Ländern verschwunden – kein Wunder, dass Lily so aus der Reihe getanzt ist. Sie hätte Eltern gebraucht, die ihre komischen Vorstellungen gebremst hätten. Aber nein, nicht Persephone und Edward Evans!"

Sie schnaubte. Bei ihr selbst war eine solche Bremsung offenbar nie nötig gewesen. Harry aber war zu entzückt über den unerwarteten Ausbruch von Gesprächigkeit, als dass er sich über Petunias Missbilligung aufgeregt hätte.

"Wo habt ihr denn gewohnt?"

"Sie hatten ein Haus in London, zu ihrem Glück ganz in der Nähe des Britischen Museums. Wenn sie mal in England waren, konnten sie doch immer in fünf Minuten im Museum sein. Das Haus wurde nach ihrem Tod verkauft. Ich war damals schon verheiratet und wohnte hier, und Lily heiratete im selben Jahr diesen unangenehmen jungen Mann, den sie an ihrer Schule kennen gelernt hatte."

Petunia musterte Harry missmutig.

"Leider bist du sehr nach ihm geraten."

"Hast du ihn kennen gelernt – meinen Vater, meine ich?"

"Er war bei der Trauerfeier dabei, die das Museum veranstaltete, als klar wurde, dass unsere Eltern wohl nicht wieder auftauchen würden. Ein eingebildeter, spöttischer Kerl. Aber Lily hatte sich da ja völlig verrannt. Vernon und ich haben versucht, mit ihr zu sprechen, und ihr dringend davon abgeraten, diesen Mann zu heiraten, zumal er kaum älter war als sie. Aber sie hat uns nur ausgelacht. Und was dabei rausgekommen ist, weißt du ja."

"Ja, ich", konnte Harry sich nicht verkneifen.

Aber Petunia hörte ihm gar nicht zu. Offenbar hatte das alles lange in ihr gebrodelt, und da bei den Dursleys nicht über ihre Familie gesprochen wurde, platzte es jetzt nur so aus ihr heraus.

"Wenn Lily sich nur nie mit diesem Zauberkram eingelassen hätte, dann würde sie jetzt noch leben."

"Waren eure Eltern denn damit einverstanden? Ich meine, sie waren doch Mug-, äh, nicht magische Leute!"

"Einverstanden? Sie waren total begeistert, als Lily mit ihren Faxen anfing! Da war sie noch ein Kind. Sie glaubten tatsächlich, sie könnte – zaubern. Und als sie dann in diese Schule aufgenommen wurde, hatten sie schon alles Mögliche darüber rausgekriegt und waren fasziniert, wie von allem, was nicht mit dem normalen Alltag normaler Engländer zu tun hat. Und ich musste jahrelang mit ihnen auf diesem Bahnhof herumstehen und warten, dass sie ankam."

Dieses Detail berührte Harry seltsam. Dass sie da schon auf seine Mutter gewartet hatte – und später dann auf ihn.

"Hast du vielleicht noch – Fotos von ihr? Und von deinen Eltern?"

Petunia dachte nach. Wieder dieses Zögern, das Harry von ihr gar nicht kannte, dann ein angespannter Blick hinaus ins Treppenhaus.

"Bleib hier. Ich komme gleich wieder."

Sie verließ das Zimmer, und Harry hörte sie in ihrem Schlafzimmer am Ende des Flurs herumkramen. Bald kam sie zurück, und Harry wagte kaum zu atmen, als er das dunkelgrüne Fotoalbum sah, das sie in den Händen hielt.

"Eigentlich wollte ich es schon lange loswerden. Ich möchte nichts mehr von diesem Teil der Familie hier haben. Also nimm es mit."

Harry schlug das alte Album sogleich auf. Fotos, die auf Seiten aus schwarzem Karton geklebt waren, säuberlich in weißer Schrift datiert und kommentiert. Hin und wieder ein Zeitungsausschnitt. Einen Moment lang wunderte er sich, dass die Personen alle so erstarrt schienen, dann wurde ihm klar, dass dies ja Muggel-Fotos waren. Im Einband stand in enger, steiler Kinderschrift "Dieses Album gehört Petunia Evans. 14. Januar 1968."

"Ich bekam es zum zehnten Geburtstag", sagte sie steif. "Von Nanna Dora, meiner Urgroßmutter. Deshalb ist das auch so ein altmodisches Ding mit schwarzen Seiten. Ich brauche es nicht mehr."

Harry schlug eine Seite auf und starrte völlig fasziniert auf die ersten Fotos seiner Familie, die er je zu Gesicht bekommen hatte. Das Fotoalbum, das ihm Hagrid vor Jahren geschenkt hatte, enthielt – kostbar genug – nur Fotos von seinen Eltern, die deren Schulfreunde gemacht hatten.

"Ich muss jetzt hinunter, das Abendessen vorbereiten. Vernon wird bald kommen. Ich hoffe, du überlegst dir gut, was du nun machen willst, Harry. Mach nicht den Fehler, den meine Schwester gemacht hat. Und lass um Himmels Willen Vernon nicht dieses alte Album sehen!"

Damit rauschte sie hinaus. Harry saß da mit dem Fotoalbum und dem kleinen Päckchen und konnte nicht fassen, dass er seine wichtigsten Geburtstagsgeschenke ausgerechnet von Tante Petunia bekommen hatte.

Begierig blätterte er in dem Album und musterte die Gesichter.

Natürlich war da oft Petunia zu sehen, bei der Abschlussfeier ihrer Schule, auf einem Abschlussball mit schrecklich unnatürlicher Dauerwelle und Rüschenkleid, schließlich auch bei ihrer Hochzeit, dem Datum nach am 27. Mai 1976. Und da, das mussten sie sein: Harrys Großeltern, neben der angespannt dreinschauenden Braut in Weiß und Schleier und dem plumpen Bräutigam, der grimmig in die Kamera sah. Persephone und Edward Evans, die noch recht jung aussahen, waren braun gebrannt und eher nachlässig gekleidet. Die Kamera hatte sie in einem Moment erwischt, als er sich zu ihr beugte und ihr offenbar etwas zuflüstern wollte. Oder wollte er sie küssen?

Und da war auch seine Mutter, die er sofort erkannte, obwohl sie damals gerade mal sechzehn Jahre alt sein konnte. Sie trug ein silbergraues Kleid, das gut mit dem aufgesteckten roten Haar harmonierte und Harry sehr schön vorkam. Dazu trug sie keinen Schmuck außer filigranen silbernen Ohrgehängen. Sie grinste ziemlich frech, wie sie da neben Vernon stand, und es fiel Harry schwer, sie sich als seine Mutter vorzustellen. Immerhin war sie damals jünger gewesen als er jetzt.

Auf einer der ersten Seiten entdeckte er ein Foto, das beide Schwestern zusammen zeigte – das einzige, wie er feststellte. Zwei kleine Mädchen, offenbar in ihren Sonntagskleidern, die neben einer kleinen, sehr energisch aussehenden älteren Frau standen. Selbst aus dem verblassten Foto heraus blickten ihre grünen Augen Harry herausfordernd an. Ihr Haar war weiß, aber Harry hätte gewettet, dass es einmal ebenso rot wie das seiner Mutter gewesen war. Unter das Foto hatte Petunia geschrieben: "Juni 1968, zwei Wochen vor Nannas Tod".

Harry blätterte die wenigen Seiten bis zum Anfang zurück in der Hoffnung, noch weitere Bilder dieser Frau zu finden, deren Ähnlichkeit mit seiner Mutter so auffällig war. Aber da war keins mehr.

Das letzte Foto war vom Januar 1978 und ziemlich unscharf. Es war bei der Trauerfeier für seine Großeltern gemacht worden, wie die Beischrift sagte. Harry erkannte seine Mutter darauf nur, weil der große, magere Mann, neben dem sie stand, sich umgedreht hatte und Harry anzusehen schien. Es war James Potter, in einem schwarzen Muggelanzug, den Arm fest um das Mädchen neben sich gelegt.

Harry schluckte und schloss das Album langsam. Er musste an den Spiegel Nerhegeb denken, in den er vor Jahren gesehen hatte, während seines ersten Jahres in der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei.

Ihm fiel das Problem ein, mit dem er sich lange beschäftigt hatte: Er hatte in dem Spiegel seine Eltern und seine Vorfahren gesehen, darunter viele mit grünen Augen, die eindeutig aus der Familie seiner Mutter stammten. Seiner Muggel-Mutter. Wie hatte der Spiegel ihm Muggel zeigen können? Darüber hatte er viel nachgedacht, aber immer wieder vergessen, Dumbledore danach zu fragen. Hatte der Spiegel ihm die Familie gezeigt, die er sich so sehr wünschte, oder hatte er ihn tatsächlich seine wirklichen Vorfahren sehen lassen?

Harry kam das Problem jetzt ein wenig konstruiert vor. Er griff nach dem Päckchen von Dumbledore und musste wieder schlucken, als er die vertrauten Schriftzüge sah. Nicht früher und nicht später – ob das hieß, dass er noch zwei Tage warten sollte, bevor er es öffnete? Er wog es nachdenklich in der Hand. Es war sehr leicht. Schließlich stand er auf und packte es zusammen mit dem Album in seinen Koffer. In dem herrschte das übliche Chaos, aber er beschloss, das zu übersehen.

Ein schrilles Kreischen von Pigwidgeon, dem offenbar die Kekse ausgegangen waren oder der es einfach satt hatte, unter Harrys Pullover begraben zu sein, rief ihn in die Gegenwart zurück. Er nahm den Pullover vom Käfig und warf noch ein paar Kekse hinein. Und dann mussten Ron und Hermione eine Antwort kriegen.

Als er vor dem leeren Pergament saß, kam er ins Grübeln. Natürlich würde er zu seiner Überraschungsparty kommen, und wenn es nur war, um seinen Freunden den Spaß zu lassen. Quatsch. Er vermisste sie schrecklich, wurde ihm klar. Wie hatte er nur die letzten Wochen verbracht? Es mussten doch so viele Entscheidungen getroffen werden!

Und da war sie wieder, die Last, die ihm die Luft abschnüren wollte.

Er nagte an der Spitze seiner Schreibfeder und sah hinaus in die dunklen Gewitterwolken. Wie Tante Petunia es so treffend ausgedrückt hatte, war er eine Gefahr für die, die sich mit ihm abgaben. Und er hatte sich vorgenommen, diejenigen, die ihm nahe standen, dieser Gefahr nicht mehr auszusetzen. Ron, Hermione. Und Ginny, Ginny –

Er konnte es in jeder Faser seines Körpers fühlen, dass sich der Zeitpunkt näherte, da er Voldemort, dem Dunklen Lord, entgegentreten musste. Es hatte eine Zeit gegeben, da war es ihm absurd erschienen, hier im Ligusterweg an Voldemort zu denken. Aber seit ihn vor zwei Jahren nur einige Straßen weiter ein Dementor angegriffen hatte, hatte er begriffen, dass Voldemort auch in der Muggelwelt eine Realität war.

Wie auch immer, er würde den Ligusterweg ohnehin übermorgen verlassen, das hatte er nie anders vorgehabt. Warum also nicht zusammen mit Ron und Hermione, seinen besten Freunden, zu einer Geburtstagsparty? Danach konnte er immer noch entscheiden, wie es weitergehen sollte.

Er schrieb also:

"Hi Ron, Hermione,

danke für die Einladung. Ich komme gerne, übrigens mit allem Gepäck! Ich hoffe, Ihr habt eine Lösung für das Problem. Ich darf nämlich noch nicht apparieren, falls Ihr das vergessen haben solltet.

Seh' Euch Donnerstag!

Harry"

Vage hatte er die Idee gehabt, seine Sachen in dem Haus in London unterzubringen, das er von seinem Paten Sirius Black geerbt hatte und in dem sich das Hauptquartier des Phönix-Ordens befand. Er konnte vom Fuchsbau, Rons Zuhause, wo die Party zweifellos stattfinden würde, nach London aufbrechen. Und dann – dann wollte er nach Godric's Hollow, wo seine Eltern und er gelebt hatten, bis Voldemort sie vor nun bald sechzehn Jahren ermordet hatte.

Harry stand auf und ging zum Eulenkäfig hinüber.

"Hedwig, ich hab einen Auftrag für dich! Nun komm schon, dann bist du auch Pig los! Der muss wohl erst mal verschnaufen, bevor er nachkommt", sagte er mit einem Blick auf den kleinen Kauz, der schläfrig auf der Stange hockte.

Schließlich hüpfte die große weiße Eule aus dem Käfig heraus und ließ sich die Pergamentrolle ans Bein binden.

"Du musst zu Ron und Hermione fliegen. Ich vermute, sie sind im Fuchsbau. Aber ganz sicher bin ich nicht. Du wirst sie sicher finden."

Hedwig breitete stolz die Schwingen aus und segelte durch das Fenster in das noch immer grollende Gewitter hinein.