Disclaimer: Ich habe weder Rechte an den Figuren dieser Geschichte noch am Plot oder irgend etwas anderem. Einzig die Übersetzung stammt von mir, was mir aber leider auch keinen Profit einbringt.

Anmerkung: Dies ist die schon angekündigte Übersetzung von Excillians „The Soul Keeper". Es ist mal wieder eine Ginny/Draco-Geschiche. Veröffentlicht wurde sie 2002, beendet 2003, ihr könnt euch also ausrechnen, welche Bücher berücksichtigt werden.
Insgesamt gibt es 21 Kapitel.

Die Geschichte gehört zu den allerersten, die ich gelesen habe, daher zählt sie zumindest für mich zu den Klassikern. Ich hoffe, euch gefällt sie auch.

Viel Spaß und frohe Ostern!


Kapitel 1
Flüge, Ärger und Nachsitzen

Der Regen strömte in feinen Strippen und durchweichte alles, was unglücklich genug war, draußen festzusitzen. Auch Draco selbst. Es hatte als leichter Nieselregen begonnen, war aber langsam zu einem Platzregen geworden, der einem die Sicht raubte. Innerlich fluchend hob Draco die Hand und gab dem Rest der Mannschaft das Zeichen zum Landen. Bei diesem Sauwetter konnten sie unmöglich Quidditch spielen. Dann bemerkte er seine Dummheit und erhob die Stimme, um die Anweisung zu brüllen. Als er landete, erkannte er, daß der Aufwand sowieso sinnlos gewesen war. Der Rest des Teams war bereits am Boden und wartete auf ihn.

„Ich werde ein neues Training ansetzen und euch später den Termin wissen lassen!" rief er, wobei er versuchte, sich über den inzwischen heulenden Wind hinweg Gehör zu verschaffen.

Als die anderen Slytherins nur die Köpfe schüttelten, wußte er, daß auch das nicht funktionieren würde. Mit Gesten befahl er ihnen, zu den Umkleideräumen zu gehen. Als sie alle drinnen waren, überblickte Draco sein nasses und elend aussehendes Team. Einzig die Tatsache, daß sie Slytherins waren und daher keine Schwäche zeigten, hielt die Beschwerden zurück.

„Ich setze ein neues Training an und sag euch später den Termin", wiederholte er. „Im Moment könnt ihr erstmal gehen."

Er begann zu gehen, zögerte aber, als er sah, daß sie immer noch alle dastanden und ihn anstarrten.

„Was?" fragte er gereizt, als er sich wieder zu ihnen umdrehte.

Er war bis auf die Knochen durchnäßt und halb erfroren, alles, was er wollte, war zu gehen und sich trockene Sachen anzuziehen.

Warum halten sie mich auf?

„Also? Wollt ihr da nur alle sprachlos rumstehen?" Sein Gesicht hatte definitiv einen Jetzt-bin-ich-sauer-Ausdruck angenommen.

„Ähm... Draco?" Pansy Parkinson hatte gesprochen.

Als sie sich unsicher unterbrach, konnte Draco seine Ungeduld kaum mehr im Zaum halten.

„Ja, Pansy?" stieß er hervor. Großer Gott, meine Hauskameraden können so was von nervig sein. Warum hab ich so lange gebraucht, um das festzustellen?

„Niemand hat die Bälle mit reingebracht."

Die gesamte Mannschaft wartete still auf die Explosion, von der sie sicher waren, daß sie dieser Nachricht folgen würde. Sie kam nicht. Statt dessen - sehr zur Überraschung der anderen - seufzte Draco schicksalsergeben.

„Warum bin ich nicht überrascht?" murmelte er zu sich. Zum Rest des Teams sagte er nur: „In Ordnung, da ich Kapitän der Mannschaft bin, könnt ihr zurückgehen. Ich kümmere mich um die Bälle."

Außerdem wäre ohnehin keiner von denen in der Lage, diese Aufgabe zu bewältigen. Draco hatte auf die harte Tour gelernt, daß es am besten war, es selbst zu tun, wenn man wollte, daß etwas erledigt wurde.

Einen Augenblick lang stand die Mannschaft still da, dann sagte Pansy verärgert: „Was meinst du damit, du wirst es machen? Laß einen dieser Idioten die Bälle holen." Sie schob die Unterlippe vor, um ihre Version dessen zu erreichen, was sie für einen hübschen Schmollmund hielt. „Ich hatte gehofft, daß wir... etwas Zeit miteinander verbringen könnten." Ihr Tonfall war auf unschuldig getrimmt, und sie sah ihn bezwingend an.

Man stelle sich vor, dachte er, letztes Jahr wäre ich zweifellos auf diesen mitleiderregenden Gesichtsausdruck reingefallen. Er seufzte erneut. „Heute nicht, Pansy. Ich bin dafür verantwortlich, daß all die Ausrüstung weggeräumt wird."

Ihr Schmollen verwandelte sich in ein Hohnlächeln. „Seit wann interessierst du dich für Verantwortung?" schnappte sie.

Draco war sich der Tatsache bewußt, daß der Rest des Teams interessiert zusah, und zog Pansy nicht gerade sanft außer Hörweite.

„Seit jetzt", sagte er nachdrücklich.

Da sie im Begriff war, wieder den Mund aufzumachen, zog er sie an sich und brachte sie mit seinen Lippen zum Schweigen. Er löste sich fast augenblicklich wieder von ihr und blickte sie inständig an.

„Jetzt geh mit dem dem Rest der Mannschaft vor. Ich kann nicht zulassen, daß all meine Spieler krank werden."

Er begann zu gehen, als sie wieder seinen Arm ergriff.

„Später?" fragte sie schüchtern und sah ihn von unter ihren Wimpern heraus an.

Er stöhnte innerlich. „Später", versprach er müde.

Nachdem er sichergegangen war, daß sie mit dem Rest des Teams gegangen war, machte er sich auf den Weg zurück zum Quidditchfeld. Er zog seine tropfende, schwere Robe aus und ließ sie zu Boden fallen; sie würde ihn nur behindern und seine Bewegungen verlangsamen. Dann sprang er graziös auf seinen neuen Exillander-Escape-Besen, der erstklassiges, zielgenaues Fliegen ermöglichte, und erhob sich gen Himmel. Er bemerkte schnell, daß das hier kein Spaß werden würde. Der Himmel wurde mit jeder Minute finsterer, und die Sturzbäche, die von dort fielen, schienen auch nicht enden zu wollen. Nachdem er zehn Minuten gesucht hatte, ohne irgendein Zeichen von den Klatschern oder dem goldenen Schnatz zu erblicken, dachte er ernsthaft daran aufzugeben.
Dann stellte er fest, daß es ihm tatsächlich gefiel, durch den Sturm zu fliegen. Es vermittelte ihm ein Gefühl von Freiheit und Wildheit, das er noch nie zuvor empfunden hatte. Es war ein unglaubliches Gefühl, den Wind durch die Haare fahren zu spüren und den Regen, der auf ihn hinab prasselte. Einige der Tropfen trafen ihn schmerzhaft, aber das konnte er in seiner Freude leicht ignorieren. Ein Blitz flackerte auf, und Donner schüttelte die Erde und grummelte, wurde lauter mit jedem neuen Ausbruch. Aber er war nicht auf der Erde.

Er flog weiter, ohne zu bemerken, wie die Zeit buchstäblich „verflog". Er bemerkte nicht einmal, wie kalt ihm wurde, oder daß seine Hände und Füße eisig wurden, zusammen mit seiner Nase und den Spitzen seiner Ohren...

ooOOoo

Ginny Weasley zuckte zusammen, als ein neuerlicher Blitz den Himmel scheinbar zerschnitt und Donner krachte. Sie konnte erkennen, daß der Sturm jede Minute näherkam, und daß es offenbar ein sehr heftiger war.
Sie versuchte sich auf ihre Hausaufgaben zu konzentrieren, aber sie wurde immer wieder von den kurzen Lichtblitzen gestört, die vom Fenster kamen. Sie gab auf, ließ ihre Hausaufgabe aufgeschlagen auf dem Tisch liegen und durchquerte den Raum hinüber zum Fenstersitz. Wenn sie wegen des Sturms keine Hausaufgaben machen konnte, dann konnte sie ihn auch genauso gut beobachten und genießen. Mit einem müden Seufzen sank sie in die weichen Kissen und sah sich kurz im Gemeinschaftsraum um.

Ist so spät noch irgend jemand anders wach?

Da sie niemanden in der Nähe sah, schloß sie, daß alle anderen wahrscheinlich schon vor einiger Zeit ins Bett gegangen waren. Es war immerhin halb zwölf. Zufrieden, daß niemand sonst hier war, begann sie, vor sich hin zu singen, während sie das blitzende Lichtschauspiel verfolgte.

„I see dark clouds out my window. I know a storm is coming any minute. The thunder just confirms my fears. And I know that you are out there in it-”

Plötzlich wurde sie von einem erschrockenen Keuchen unterbrochen. Ihrem eigenen. Sie starrte still aus dem Fenster und suchte beharrlich nach der dunklen Gestalt, die sie ganz sicher vorbeifliegen gesehen zu haben glaubte. Aber die Gestalt war weg, verschwunden im Nebel und dem strömenden Regen. Sie war im Begriff weiterzusingen; ihre Augen mußten ihr einen Streich gespielt haben. Aber dann fiel ihr etwas ein. Von dem Fenster, an dem sie saß, konnte man das Quidditchfeld sehen. War es möglich, daß ein dummer, törichter Schüler draußen war und bei diesem Wetter flog? Obwohl sie ziemlich sicher war, daß niemand so idiotisch sein konnte, konnte sie den Gedanken nicht abschütteln.

Da sie wußte, daß sie keine Ruhe finden würde, jetzt wo ihr dieser Gedanke in den Sinn gekommen war, stand sie auf, um ihren Umhang zu holen. Sie seufzte leicht. Jetzt würde sie sich dem durchnässenden, eiskalten Regen stellen müssen, nur um ihr Pflichtgefühl zu beruhigen, und - wie zugeben mußte - auch ihre Neugier.

Sie trottete leise zum Schlafsaal der Sechstkläßlerinnen und schnappte sich ihren Besen, einen älteren Nimbus 2000, den sie letztes Jahr zu Weihnachten bekommen hatte. Nicht das fortgeschrittenste Modell, aber sicherlich flugtauglich. Sie schlich vorsichtig die Treppe wieder hinunter und in den Gryffindor-Gemeinschaftsraum. Sie schob den Riegel zurück, stieß das Fenster auf und wurde augenblicklich von wütendem Wind und spritzendem Regen empfangen.

„Dieser verdammte Wind muß in diese Richtung wehen, oder?" grummelte sie. Ach, na ja, ich schätze, es könnte schlimmer sein. Ich werde sowieso klatschnaß.

Sie würde nur daran denken müssen, die Wasserpfütze auf dem Boden aufzuwischen, die ständig größer wurde.

Mir bleibt wohl nichts anderes übrig, dachte sie, als sie sich aus dem Fenster schwang und in den stürmischen Himmel.

Nach nur wenigen Minuten in der Luft - den Weg zum Quidditchfeld hatte sie in verrücktem Zickzack zurückgelegt - wurde sie wütend auf sich selbst.

Du mußtest ja unbedingt deine Neugier befriedigen, nicht, Ginny? Jetzt sieh dir an, in was für einen Schlamassel du dich gebracht hast.

Sie überlegte, ob sie zurückfliegen sollte, entschied sich aber, daß sie, wo sie jetzt schon mal hier draußen war, genauso gut eine sorgfältige Suche durchführen konnte. Wenigstens für ein paar Minuten. Sie kämpfte gegen den tobenden Wind an und suchte weiter. Gerade als sie dachte, daß die dunkle Gestalt nur eine Täuschung gewesen sein mußte, sah sie sie wieder. Nur daß sie diesmal dichter war. Sie flog darauf zu, wobei sie sich auf die Lippe biß, um nicht ihr langsames Fortkommen zu verfluchen. Was noch schlimmer war, war, daß die dunkle Gestalt einen schnelleren Besen zu haben schien und sich von ihr entfernte.

Sie versuchte zu schreien, aber damit erreichte sie nichts. Sie wurde zunehmend frustriert, bis ihr eine neue Idee kam. Sie zog ihren Zauberstab aus ihrer Tasche und flüsterte einen Erstarrungszauber, und durch einen glücklichen Zufall gelang es ihr, die davonfliegende Gestalt zu treffen. Sie steckte ihren Zauberstab weg und trieb ihren Besen vorwärts. Sie grinste albern, als sie den anderen Flieger tatsächlich einholte.

Sie packte das Ende des anderen Besens, um sicherzugehen, daß wer immer es war nicht wegkommen konnte, und löste den Zauberspruch. Der Besen versuchte sofort wieder davonzuschießen, aber diesmal wurde sie immerhin mitgezogen.

„Hey! Was zum-!"

Ginny erkannte die empörte Stimme, sogar über den Lärm des Regens hinweg. Was immer der Junge hatte sagen wollen, erstarb jedoch auf seinen Lippen, als er sich umdrehte und sah, wer seinen Besen festhielt. Plötzlich - wenngleich nicht völlig unerwartet - fand Ginny sich Draco Malfoy gegenüber.

Draco erstarrte, und nur für eine Sekunde schien etwas wie Erstaunen über sein Gesicht zu huschen. Aber es war nur ein Aufblitzen einer Gefühlsregung, und es verschwand schnell hinter der ausdruckslosen Maske, die er gewöhnlich trug. Er war jetzt wieder viel ruhiger, und als er sprach, war seine Stimme so kalt wie der eisige Regen.

„Was glaubst du, was du da tust, Weasley?" fragte er spöttisch.

Ginny starrte ihn eine Minute ausdruckslos an und ließ dann hastig seinen Besen los. Er schwebte jedoch weiterhin neben ihr her, offensichtlich in Erwartung einer Erklärung. Plötzlich war das schreckliche höhnische Lächeln auf seinem Gesicht zu viel für Ginny. Und die Art und Weise, wie er das Wort „Weasley" ausgespuckt hatte. Als wäre es eine Art Fluch!

„Nun", sagte sie schnippisch, als ihre Wut die Oberhand gewann „ich bin hergekommen, um nachzusehen, was für ein Idiot bei diesem Wetter draußen ist, und ihn zu warnen, er solle lieber reingehen, bevor er krank wird, aber da du es bist, denk ich, ich werde dich einfach hier lassen."

Sie funkelte ihn zornig an. Ihr Gesicht war rot, allerdings nicht weil es ihr peinlich gewesen wäre, sondern weil sie schreien mußte, um sich über den heulenden Wind hinweg verständlich zu machen.

Für eine Sekunde starrte Draco sie nur sprachlos an, aber es dauerte nicht lange, bis er wieder zu sich kam.

„Tja, wenn ich ein Idiot bin, weil ich hier draußen bin, was bist du dann?"

Er grinste jetzt selbstgefällig, einen Ausdruck vollkommener Selbstsicherheit auf dem Gesicht. Er wußte, daß er sie damit erwischt hatte. Und sein selbstgefälliges Lächeln wurde nur noch breiter, als er sah, wie ihr Gesicht einen noch leuchtenderen Rotton annahm, und dieses Mal wußten sie beide, daß das nicht vom Schreien kam.

Ginny stotterte einen Moment lang, ihr fehlten jegliche Worte.

„Denk bloß nicht, ich würde noch mal versuchen, irgendwas Nettes für dich zu tun, Draco Malfoy", spie sie schließlich aus, bevor sie ihren Besen drehte und ihn in Richtung Gemeinschaftsraum lenkte.

Aber Draco war nicht bereit, sie so einfach gehen zu lassen. Um ehrlich zu sein, er genoß das kleine verbale Match, das sie ausfochten, ziemlich.

„So wie ich das sehe, wußtest du nicht, daß ich es war, der hier draußen war, also hast du - technisch gesehen - gar nicht versucht, etwas Nettes für mich zu tun", stellte er fest.

Ginny hatte geglaubt, sie könnte nicht wütender werden. Sie hatte gewußt, es war unmöglich, daß Draco sie noch wütender machen könnte, als er es die vergangenen sechs Jahre ihres Lebens schon getan hatte. Sie hatte sich geirrt. Schrecklich geirrt. Vielleicht lag es am Sturm oder daran, daß sie von dem eiskalten Regen steifgefroren war. Oder vielleicht, nur vielleicht, war es die Art, wie er dieses arrogante Grinsen aufsetzte und sie verhöhnte. Wie auch immer, es spielte eigentlich keine Rolle. Worauf es ankam, war, daß sie in der einen Sekunde noch auf dem Weg zum Gemeinschaftsraum gewesen war und in der anderen umgedreht und ihm dieses süffisante Grinsen aus dem Gesicht gewischt hatte.

Wortwörtlich.

ooOOoo

Weasley-Temperament. Das sagte sie sich später, als sie im Krankenflügel saß. Sie hatte sich von ihrem Zorn hinreißen lassen, und da war sie nun. Im Krankenflügel, wo sie darauf wartete, daß Malfoy aufwachte, damit sie sich entschuldigen konnte. Ginny verfluchte im Stillen ihre roten Haare. Das hier war ganz sicher nicht ihr Ding. Aber sie fühlte sich irgendwie schlecht wegen der ganzen Sache mit dem Malfoy-vom-Besen-Schubsen. Zum Glück waren sie wirklich nicht sehr weit vom Boden entfernt gewesen, daher war er nicht zu schwer verletzt. Nur ein gebrochener Arm. Aber ehrlich, in der Zaubererwelt dauerte es nur ganze zwei Minuten, das wieder hinzukriegen.

Trotzdem hatte sie das Gefühl, daß sie sich entschuldigen sollte. Auch wenn er sie provoziert hatte, sie würde nicht auf sein Niveau sinken, indem sie sämtlichen Anstand vergaß. Sie würde ihm sagen, daß es ihr leid tat, und damit würde es erledigt sein.

Jetzt muß ich es nur noch schaffen, nicht an meiner eigenen Zunge zu ersticken, während ich das tue, dachte sie finster.

Aber das war nicht das größte ihrer Probleme. Oh nein. Nicht nur zwang ihr Gewissen sie, sich zu entschuldigen, der Direktor ließ sie und Malfoy nachsitzen. Zusammen. Ginny konnte wirklich nicht sehen, wie es noch schlimmer kommen könnte.

Was mal wieder beweist, daß ich gar nichts weiß.

Denn genau in diesem Moment entschloß sich Mr Malfoy aufzuwachen.

Oh, Scheiße, war das Erste, was ihr in den Sinn kam.

Draco blieb einen Moment mit geschlossenen Augen liegen und versuchte, sich zu erinnern, wo er war und was hier los war. Aus irgendeinem Grund fühlte sich sein rechter Arm wirklich seltsam, so als sollte er weh tun, er tat es aber nicht... Er hatte jedoch keine Zeit, darüber nachzugrübeln, denn in diesem Augenblick kehrte die Erinnerung wie eine Flutwelle zu ihm zurück. Er erinnerte sich, daß er im Sturm gewesen war und der Regen auf ihn niedergeprasselt war und ihn bis auf die Knochen durchnäßt hatte. Und dann erinnerte er sich, daß jemand seinen Besen gepackt und ihn aus der Trance gerissen hatte, in der er sich anscheinend befunden hatte. Zuerst konnte er sich nicht erinnern, wer diese Person war, das Bild in seinem Kopf war irgendwie verschwommen.

Draco öffnete die Augen und setzte sich im Bett auf, während er herauszufinden versuchte, wo er sich befand. Und auf einmal wurde das Bild vollkommen klar. Die Person saß direkt neben ihm. Ginny Weasley.

Die kleine Idiotin hat mich vom Besen geschubst!

Für etwa fünf Sekunden wollte sein Gehirn diese Information nicht verarbeiten, es ging sie nur wieder und wieder durch. Als er schließlich begriff, was das alles bedeutete, verzog sich sein Gesicht vor Wut und er schleuderte ihr das Erstbeste entgegen, was ihm einfiel.

Du hast mich von meinem Besen geschubst."

Eine Sekunde lang starrte Ginny ihn nur an. Dann brach sie in Gelächter aus.

Draco war etwas überrascht. Er konnte sich nicht erinnern, daß in seinem Leben schon mal jemand so über ihn gelacht hatte. Er ließ rasch jeden Ausdruck von seinem Gesicht verschwinden und fragte verzweifelt um Ruhe bemüht:

Was ist so amüsant, Weasley?"

Er wußte, daß seine Stimme angespannt klang, aber sie tötete ihm wirklich den letzten Nerv. Draco war nie eine besonders geduldige Person gewesen, und er konnte es absolut nicht ertragen, wenn jemand über ihn lachte.

Es dauerte allerdings ein oder zwei Minuten, bis Ginny ihm antworten konnte. Sie war auf ihrem Stuhl vornübergebeugt und lachte so heftig, daß sie weinte. Als sie schließlich sprechen konnte, blickte sie auf und sah ihm, immer noch lächelnd, in die Augen.

„Es war nur dein Gesicht", versuchte sie zu erklären. „Als dir klar geworden ist, daß du von einem Mädchen von deinem Besen geschubst worden bist. Und - einer Weasley - noch dazu."

Ginny fing wieder an zu lachen. Sie konnte sich nicht helfen.

„Ich- konnte praktisch sehen- wie sich die Rädchen in deinem Kopf gedreht haben- während du versucht hast- darauf zu kommen."

Ginny mußte sich unterbrechen, sie löste sich wieder in Lachen auf.

Draco dagegen lachte nicht. „Ich für meinen Teil finde das nicht im geringsten witzig."

Sein üblicher, kontrollierter Tonfall war zurück, jeder Hinweis auf ein Gefühl aus seinen Augen verschwunden, und er sah sie mit einem gelangweilten Ausdruck an.

„Was machst du überhaupt hier? Es scheint äußerst unwahrscheinlich, da du da gesessen und deine Taten bedauert hast." Er hob eine Augenbraue. „Das hast du nicht, oder?"

„Selbstverständlich nicht", erwiderte Ginny spöttisch. „Ich bedaure kein bißchen, daß ich dich runtergestoßen hab."

Sie begegnete seinem Blick direkt und neigte den Kopf in einer trotzigen Geste. Sie war sich ziemlich sicher, daß er keine Ahnung hatte, wie nah er an der Wahrheit dran war. Jedenfalls hoffte sie das.

„Was machst du dann hier?" fragte er nochmals.

„Ich war- Ich wollte-"

Sich bei Draco persönlich zu entschuldigen, schien um einiges schwieriger zu sein, als es gerade vor ein paar Minuten gewesen war, als sie es sich im Kopf vorgesagt hatte.

„Ja?" Als sie daraufhin immer noch nicht weitersprach, wurde er langsam gereizt. „Herrgott noch mal, jetzt spuck's schon aus!"

Ginny versuchte es noch einmal. Dieses Mal konzentrierte sie sich intensiv auf ihre Schuhe, während sie sprach.

„Ich bin gekommen, um dir zu sagen, daß es mir leid tut, daß ich dich von deinem Besen geschubst hab." Sie wartete eine Sekunde, um seine Reaktion abzuwarten. Als er nichts tat, fuhr sie hastig fort. „Ich hatte nicht vor, das zu tun, weißt du."

Da sie noch immer keine Reaktion von ihm erhielt, hob sie kurz den Blick, nur um zu sehen, daß er sie auf eine merkwürdige und irgendwie verwirrende Weise anstarrte. Für einen Augenblick dachte sie tatsächlich, er würde so etwas sagen wie „Oh, ist schon okay, Ginny. Nichts passiert." oder etwas in der Art.

Aber als er sprach, war es in seinem gewöhnlichen, ausdruckslosen Tonfall.

„Ich muß mich getäuscht haben. Ich hätte schwören können, ich hätte dich gerade eben noch so was sagen hören wie ‚Ich bedaure nicht im mindesten, daß ich dich vom Besen gestoßen hab'."

Versuchte sich Draco an trockenem Humor? Ginny war nicht sicher.

„Ich bedaure es nicht", sagte sie vollkommen aufrichtig.

Draco wandte den Blick ab. Er schien fast... enttäuscht?

„Aber das heißt nicht, daß mich mein Gewissen so einfach davonkommen läßt", fügte sie hinzu.

Draco blickte ruckartig auf. Bedeutete das, daß es ihr leid tat? Er war sich nicht sicher, aber er würde sie bestimmt nicht fragen. Was interessierte ihn das überhaupt?

Das sollte wirklich keinen Unterschied machen.

Er schüttelte den Kopf und verdrängte den Gedanken.

„Okay", sagte er tonlos. „Du hast dein Gewissen beruhigt, also warum bist du immer noch hier?"

„Weil ich noch andere, weniger aufregende Neuigkeiten habe", sagte sie schlicht.

„Wirklich?" fragte Draco trocken. „Ich hatte gar nicht bemerkt, daß deine andere Mitteilung in irgendeiner Weise aufregend war." Sein selbstgefälliges Grinsen war wieder da.

Ginny wurde rot, und das Lächeln verging ihr. Sie hatte vorgehabt, die Nachricht schonend zu überbringen, aber nun da seine vorherige Stimmung zurück war, konnte sie ebensogut einfach direkt sein.

„Du mußt nächste Woche nachsitzen. Mit mir."

Dracos Augen weiteten sich vor Überraschung. „Zusammen?"

Ginny verdreht die Augen. „Das habe ich gesagt."

„Aber weshalb muß ich nachsitzen? Du bist diejenige, die mich geschubst hat."

Er funkelte sie wütend an, und seine Augen verengten sich.

„Falls du dich erinnerst", sagte sie, „wir waren beide nachts draußen und sind geflogen, was gegen die Schulregeln verstößt." Jetzt war sie dran, selbstgefällig zu grinsen.

„Du meinst, du kriegst überhaupt keinen Ärger, weil du mich geschubst hast?" Er war entrüstet. Dafür hätte sie zumindest zusätzlich nachsitzen sollen.

Ginnys Lächeln wurde breiter. „Weißt du, es ist so, Malfoy..." Ihr Tonfall war widerlich süßlich. „Sie wissen nicht, daß ich dich geschubst habe. Ich hab ihnen erzähl, daß dich ein heftiger Windstoß vom Besen geweht hat."

„Du hast was?"

Er konnte das nicht gerade gehört haben. Auf keinen Fall konnte Weasley gesagt haben, daß jetzt jeder glaubte, ein Windstoß hätte ihn vom Besen geweht. Das war unfaßbar! Er würde dieses Mädchen erwürgen.

Jedenfalls würde ich das, wenn ich wüßte, das ich damit davonkomme.

Er öffnete den Mund, um noch etwas zu sagen, aber Ginny war schon auf dem Weg zur Tür.

„Nacht, Malfoy", rief sie über ihre Schulter. „Süße Träume."

Er hatte keine Zeit, ein einziges Wort herauszubringen, bevor die Tür hinter ihr ins Schloß fiel. Was meinte sie damit, gute Nacht? Er warf einen Blick aus dem Fenster und sah, daß es noch immer dunkel war. Die Uhr an der Wand sagte ihm, daß es erst halb vier war.
Mit einem tiefen Seufzen warf er sich zurück aufs Bett. Er konnte genauso gut etwas schlafen, solange er konnte. Morgen würde er den Ruf abwenden müssen, der ihm vorauseilen würde, wenn alle erfahren würden, daß er angeblich durch einen Windstoß vom Besen gefallen war.

Und als wäre das noch nicht genug, muß ich auch noch nachsitzen mit dieser... dieser... Plage der Menschheit.

Als Ginny den Raum verließ, konnte sie anders, als triumphierend zu lächeln. Ein einziges Mal in ihrem Leben hatte sie Draco Malfoy übers Ohr gehauen. Er fühlte sich großartig an. Natürlich war sie nicht annähernd so gemein, wie sie ihm vorgemacht hatte. In diesem Augenblick war Draco wahrscheinlich gerade dabei, sich zu überlegen, was genau er zu all den Leuten sagen würde, die wußten - oder zu wissen glaubten - daß er von seinem Besen gefallen war.

Aber Ginny hatte noch ein As im Ärmel. Außer den Lehrern wußte niemand, was in dieser Nacht geschehen war. Die übrigen Schüler würden es nie erfahren. Sie grinste, als sie an den Schock dachte, den Draco erleiden würde, wenn er das erkannte. Es würde allerdings ein erleichterter Schock sein.

Als sie den Flur entlang ging, entschied sie, daß letztlich alles doch noch gut ausgegangen war. Als sie zuerst dort hineingegangen war, um sich zu entschuldigen, war sie überzeugt gewesen, daß es furchtbar laufen würde. Dann, in einem Anfall von Genie, war sie auf den Plan verfallen, ihn so viel wie möglich zu ärgern. Natürlich hatte sie nicht genau gewußt, was das beinhalten würde, bis die Unterhaltung begonnen hatte. Irgendwie hatte sich von da an alles einfach so entwickelt.

Was Draco noch nicht wußte, war, daß sie tatsächlich zusätzlich nachsitzen mußte, weil sie ihn geschubst hatte. Über diesen Teil hatte sie gelogen. Neben dem Nachsitzen hatte Dumbledore ihr eine ernsthafte Predigt darüber gehalten, wie gefährlich es war, jemanden von seinem Besen zu stoßen, auch wenn es sich dabei um einen Malfoy handelte. Natürlich hatte der Direktor die Nüchternheit der ganzen Diskussion beinahe ruiniert, als er sich auf die Lippe beißen und abwenden mußte, um nicht zu lachen. Soviel zu Ernsthaftigkeit.

Jetzt da sie allein war, fiel Ginny auf, wie müde sie war. Im Gegensatz zu Draco, der bereits mehrere Stunden gehabt hatte, hatte sie in dieser Nacht überhaupt keinen Schlaf bekommen. Wenn sie es sich recht überlegte, am nächsten Morgen würde noch eine Überraschung auf Draco warten.

Ich muß im Auf-die-Nerven-gehen so gut sein, daß ich es unterbewußt kann.

Der einzige Grund, weshalb er jetzt nicht in seinem eigenen Bett war, war, daß er von einer Erkältung kuriert werden mußte, von der Madame Pomfrey sicher war, daß er sie sich beim stundenlangen Fliegen im Regen zugezogen hatte. Es würde ihm am Morgen aber wieder gut gehen, und er würde in seinen Schlafsaal zurückkehren können. Nachdem er gezwungen wurde, eine weitere Dosis von Madame Pomfreys gefürchtetem Heiltrank zu schlucken. Draco würde das lieben.

Ginny riß sich aus ihren Gedanken, als sie bemerkte, daß sie das Porträt der Fetten Dame erreicht hatte, das den Eingang zum Gryffindor-Gemeinschaftsraum kennzeichnete. Sie murmelte das Paßwort - Geleebohnen - und stolperte in den Raum. Ihre Füße waren so schwer, daß sie kaum den Weg die Treppe hinauf bewältigte. Sie schlief fast im Gehen.

Irgendwie fand sie sich ein paar Minuten später im Bett liegend wieder, nur Sekunden vor dem Einschlafen. Der letzte Gedanke, der ihr durch den Kopf ging, war einer, den sie erst nach einer ganzen Weile richtig erfaßt hatte.

Oh mein Gott, ich muß eine Woche lang mit Draco Malfoy nachsitzen!


Anmerkung: Das Lied, das Ginny zu dem Gewitter singt, gibt es übrigens wirklich: Ace of Base, „Everytime it rains".