Gemeinschaftsarbeit von Karin, Shakti, Kalwen, Arilynna, Miriel und Vilyana.
1. Kapitel (von Karin)
Die Wolken verhingen den Himmel so tief als wollten sie nach den Lebewesen der Welt greifen, sie verschlucken. Die Gestalt, in einen dunklen Umhang gehüllt, verschwand beinahe in der Düsternis ihrer Umgebung. Dem edlen Stoff ihres Mantels sah man die lange Reise kaum an. Die vielen Orte an denen sie schon gewesen war, waren nackte Erinnerungen in ihrem Kopf und doch wusste sie, dass viele von ihnen wohl noch zu etwas gut sein würden.
Mit der Eleganz einer Katze zog Neldor einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn auf die Sehne. Mit langjähriger Routine spannte er diese und schoss den Pfeil in die Zielscheibe, wo er den Mittelpunkt nur knapp verfehlte. Ein schadenfrohes Lachen ließ Neldor mit einer hochgezogenen Augenbraue aufsehen. "Nicht getroffen", sagte Thônion und verbarg seine Freude nicht vor dem nur Minuten jüngeren Bruder. Neldor atmete geräuschvoll aus und blies ein paar seiner dunklen Haare in die Luft, die sich keck um sein schmales Gesicht gelegt hatten. Er erwiderte nichts, sondern wandte sich einfach um, nur um erneut zu schießen und nicht zu treffen. Wieder konnte sich sein Bruder auf dem nächstgelegenen Baum kaum halten. "Dann mach es doch besser!" rief Neldor, dessen Geduld während der letzten 20 Schüssen, die er schon nicht getroffen hatte, nicht gewachsen war. Elegant sprang Thônion vom Baum und nahm Pfeil und Bogen zur Hand.
Es verlangte ihm kaum Konzentration ab, den Pfeil genau in die Mitte zu befördern. Neldor fuhr sich durch das lange schwarze Haar und versuchte seinen Fehler zu finden, doch wie er es drehte und wendete, sein Bruder war einfach besser. Genauso war es in den anderen Dingen die sie taten - Thônion war der bessere Schwertkämpfer, der bessere Sänger und keine Elbin die Neldor bis jetzt gefallen hatte, hatte sich nicht auf seltsame Weise in Thônion verliebt. Nicht, dass er seinen Bruder nicht mochte, oder ihm sein Glück nicht vergönnte, doch Neldor konnte nicht abstreiten, dass er neidisch war.
Neidisch auf jeden Elben im Düsterwald der irgendetwas besser konnte als er und davon gab es nicht wenige. Was die Sache noch schlimmer machte war, dass Thônion und er Zwillinge waren, sie sahen sich zum Verwechseln ähnlich für jemanden der sie nicht kannte.
Doch Leuten die sie schon länger kannten, konnten die Brüder nichts vormachen, Thônion trug stets ein freundliches, offenes und gewinnendes Lächeln, während sein Bruder einen Blick besaß, der einem Schauer über den Rücken laufen lassen konnte. Die Augen der Brüder waren, als Kontrast zu den ungewöhnlich schwarzen Haaren, grasgrün, was Thônions Augen betonte und Neldors Blick regelrecht stechend wirken ließ. Eben diese Augen senkten sich nun und steckten die Pfeile in den Köcher zurück.
"Was machst du jetzt?" Mit einem Satz war Thônion neben dem Bruder angelangt. "Wonach sieht es aus?" Neldor warf Thônion einen finsteren Blick zu und ging zurück zu ihrem Wohnsitz, dicht gefolgt von Thônion und seiner ständiger Begleiterin, einer schwarzen Stute die nicht umsonst den Namen Ninim - Schneeblume trug, denn wir ihr Name zu ihrem Äußerem war sie von Gegensätzen beherrscht. Ninim schien sich, im Gegensatz zu vielen Elben nicht an der manchmal etwas schroffen Art Neldors zu stören, im Gegenteil, egal was der Elb tat, die Stute hing immer mehr an ihm, auch wenn sie nicht immer tat, was Neldor gerade von ihr wollte.
An manchen Tagen konnte man die zarte schwarze Stute durch den Wald fegen sehen, auf ihrem Rücken einen schimpfenden Elben der mit Drohungen und wilden Flüchen versuchte, Tempo und Richtung zu ändern. An anderen Tagen wiederum, saß Neldor auf Ninims Rücken als wären die beiden zusammengewachsen. Auf jeden Fall traf man sie selten alleine an.
Jeder Schritt folgte automatisch auf den anderen und Neldor starrte auf den Boden als er durch den Wald schritt, Thônions unbeschwerter Gesang hob seine Laune nicht wesentlich. Erst Ninims weiches Maul an seinen Fingern ließ ihn aufsehen. Er lächelte leicht und fuhr der Stute durch die wirre schwarze Mähne. Der Weg führte die Brüder zielstrebig durch den Wald, zum Fluss und über eine Brücke in das Höhlenkönigreich Thranduils. Hier tummelten sich, nur sichtbar für jemanden unter der Erde, Elben aller Ränge. Mägde und Diener, aber auch hoch gestellte Elben wie Thônion und Neldor, die einzigen Söhne des zweiten Beraters des Königs unter Buchen und Eichen.
Als solche lebten sie vom großen Tor aus gesehen im linken Bereich der Höhlen, die Diener und anderen, deren Anwesenheit in den Hallen Notwendigkeit war, lebten im rechten Teil. Der Rest der Bevölkerung lebte außerhalb der Höhlen in gut versteckten Behausungen, meist auf Bäumen. An diesem Abend jedoch fand sich jeder, der momentan in Düsterwald weilte und die Gunst des Königs besaß, in den Festhallen ein. Neldor hatte sich auf einem Platz an der Tafel nieder gelassen und hörte dem nervösen Geplapper seines Bruders nur mit einem Ohr zu.
Thônion nämlich musste heute vor all den anwesenden Elben singen. An manchen Tagen war Neldor tatsächlich froh, der untalentiertere der beiden Brüder zu sein. Die königliche Familie betrat den Raum zuletzt und der König ließ sich mit seiner Gefährtin am Kopf der Tafel, nicht weit von den Brüdern entfernt nieder, während seine Söhne und Töchter sich seitlich an der Tafel verteilten. Thônion war nicht der erste der sang und auch nicht der letzte, aber er machte seine Sache ausgezeichnet und der ganze Saal war voller Entzücken was Thônion betraf. Nach dem Essen, relativ spät, trat eine Bardin vor. Die Blicke der Elben folgten ihr nach vorne zu einer großen Harfe und jeder fragte sich, wer sie wohl war, denn niemandem in Düsterwald war sie bis jetzt aufgefallen.
Ihr rostrotes Haar war kunstvoll frisiert und passend zu ihrem dunkelgrünen Kleid mit Smaragden geschmückt. Der Blick aus ihren grünen Augen verzauberte die Elben bereits, doch als sie zu spielen begann war es, als würden sie alle in eine andere Welt eintreten. Sie sang mit einer Stimme, die ihr von Eru selbst geschenkt worden sein musste und deren Bann sich keiner entziehen konnte.
Es war ein langes Lied und begann mit dem Schmieden der Silmarilli, mit dem Fluch, dem Untergang der Steine und schließlich besang sie ein Kapitel der Geschichte, das noch keiner kannte: Das Wiederauftauchen eines Silmarils. Die letzte Strophe des eigentlich bekannten Liedes, besagte nun, dass jemand den Silmaril, den Maglor ins Meer geworfen hatte, gefunden hatte und dass dieser besondere Stein nun irgendwo im Lande weilte.
Abrupt endete ihr Lied und mit dem Lächeln einer Katze näherte sie sich der Tafel noch ein wenig. Aus ihren grünen Augen blickte sie in die Runde und stellte erfreut fest, dass ihr immer noch deren gesamte Aufmerksamkeit zuteil wurde. Mit den Händen stützte sie sich genau zwischen Thônion und Neldor auf der Tischplatte auf. "Nur die mutigsten wagen sich auf die gefährliche Reise, den Silmaril zu finden!" sagte sie und Neldor schauderte als sich ihre Blicke ganz kurz trafen.
"Ich bin viel gereist, Düsterwald ist nicht der erste Ort an dem ich die Kunde des Silmarils verbreite und schon andere haben sich aufgemacht, ihn zu suchen und sie alle", hier erhob sie ihre Stimme und machte eine kunstvolle Pause ehe sie weitersprach, "werden sich am dritten Tage des Monats Norui in der Stadt Tharbad einfinden und ihre Suche beginnen. Sie sollten sich zusammenschließen, denn keiner weiß was sie erwarten wird!"
Sie lächelte noch einmal, verbeugte sich dann leicht und brach damit den Zauber, der sie umgab. Die Elben im Saal konnten nicht mehr ruhig sitzen und berieten, wer und ob überhaupt jemand gehen sollte. Thranduil selbst hegte eine große Leidenschaft für Edelsteine jeglicher Art und um einen der Silmarilli zu besitzen, wäre er wohl durchs Feuer gegangen, nicht jedoch aus seinem Königreich hinaus und so dröhnte seine tiefe Stimme durch den Saal als er sprach. "Wer mir den Silmaril bringt, wird reichlich belohnt. Wer wagt es zu gehen und die Gefahren auf sich zu nehmen?"
Alle sahen sich um, jeder wollte den Stein gerne besitzen oder auch die Belohnung erhalten, ganz abgesehen von Ruhm und Ehre, doch die Gefahren waren groß. Der Schatten legte sich über den Wald und die Kunde von herumstreunenden Orks verbreitete sich im ganzen Land, drang sogar in die Tiefen des Düsterwaldes ein. "Es ist eine sehr gefährliche Reise für einen Stein, findest du nicht, Vater?" fragte Thranduils jüngste Tochter Eryniel, ihre Stimme war leise, doch von melodischem Klang. Thônion verehrte sie schon seit langem, daher stand er auf und sagte: "Ich möchte mich auf die Reise begeben und allen Gefahren trotzen... nur für Euch, Eryniel!"
Sie blickte ihn aus ihren blauen Augen an und strich sich eine goldene Haarsträhne aus dem Gesicht. "Es ist zu gefährlich, wer weiß was wahr ist an den Geschichten. Ich möchte nicht, dass Euch etwas passiert, nur weil Ihr wegen mir nach dem Stein gesucht habt!" sagte sie und schüttelte sanft den Kopf. Doch Thranduil hatte sich schon erhoben, lächelte und ging auf Thônion zu. Er ergriff Thônions Schulter, zog ihn beinahe väterlich an sich heran. Die Gier nach dem Stein stand ihm für einen kurzen Moment alles umfassend in den Augen und Neldor wandte den Blick ab. Er hörte nur noch wie beschlossen wurde, dass Thônion in drei Tagen aufbrechen sollte.
Die Morgensonne streichelte sanft über eine Lichtung, die nahe der Elbensiedlung lag. Ihr Schein legte sich beinahe theatralisch auf den Beginn des Weges, welchen Thônion beschreiten oder besser bereiten sollte, denn zu diesem Zwecke hatte man ihm eines der königlichen Pferde zur Verfügung gestellt. Der große weiße Hengst lechzte scheinbar danach, endlich laufen zu dürfen, doch Thônion lächelte und beruhigte ihn mit leisen elbischen Worten.
Der König hob noch einmal die Hand, nickte mit ernster Miene und Thônion verbeugte sich, so gut es auf dem Pferdrücken ging und ritt aus dem Licht den Schatten des Waldes entgegen. Alle Anwesenden sahen ihm nach, ehe sie sich auflösten und Neldor keine Beachtung schenkten. Die Nervosität ließ seine Hände zittern, die Angst schnürte ihm die Kehle zu, doch er war fest entschlossen, schon seit dem Abend des Festes.
Er schwang sich auf Ninims Rücken, schmiegte sich eng an ihren Hals und ließ die kleine Stute ihren Weg ganz alleine durch das Labyrinth der Bäume finden. Schnell kamen sie voran, trotz des Gepäcks, das die Stute zusätzlich zu Neldors Gewicht noch trug. Nach einer Weile bat Neldor das Pferd anzuhalten und horchte in die unheimliche Stille des Waldes. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht als er absprang und auf einen der Bäume kletterte.
Von Baum zu Baum glitt er dahin, verschmolz ganz mit dem Gewächs aus Holz und Blättern, bis er sah worauf er wartete und stehen blieb. Er wagte kaum zu atmen, aus Angst, dass Thônion, der eben mit seinem Pferd den Weg entlang ritt, ihn hören würde. Er bewegte keinen Muskel und nur das leichte Heben und Senken seines Brustkorbes verriet, dass er lebendig war und kein Gewächs, das Yavanna in einer Laune erschaffen hatte.
Die dumpfen Hufschläge dröhnten in Neldors Kopf, ehe er vom Baum sprang und hinter Thônion auf dem Pferd landete. Der Hengst bäumte sich erschrocken auf, nur um gleich darauf wild davon zu sprengen. Thônion, der nicht darauf gefasst gewesen war, rutschte nach hinten vom Pferd und riss Neldor mit sich. Der weiße Hengst suchte das Weite und ließ die beiden Brüder auf dem Waldboden zurück. Es war kein langer Kampf. Schnell hatte Neldor Thônions Hände gefesselt.
Ein hasserfüllter Blick traf ihn aus des Bruders Augen. "Ich muss das tun, es tut mir Leid, Thônion!" sagte er und in seiner Stimme schwang tatsächlich so etwas wie Bedauern. "Du willst sie, du willst sie mir weg nehmen!" zischte der gefesselte Bruder und versuchte sich in wilder Gegenwehr zu befreien, doch Neldors fester Griff drückte ihn zu Boden während er den Kopf schüttelte. "Nein, das ist es nicht, mir liegt nichts an ihr!" Dann stand er auf und rief nach dem Pferd. Es dauerte eine lange Zeit bis der Hengst, immer noch verstört, wieder zu ihnen kam. Neldor nahm Thônions Waffen an sich und legte den Bruder quer über das Pferd ehe er dem stolzen Tier ins Ohr flüsterte, dass es langsam nach Hause gehen und auf den Bruder achten sollte.
Danach lief Neldor so schnell ihn seine Beine trugen zu Ninim zurück und ritt mit ihr quer durch den Wald bis zu dessen Ende. Sie waren kaum mehr als ein Schatten, die schwarze Stute und ihr Reiter, während sie durch den Wald fegten. Sie versuchten, die Dunkelheit, die sich in den letzen Jahren über die Bäume gelegt hatte, aus ihren Köpfen zu verdrängen. Die Stute setzte keinen falschen Schritt, stolperte nicht über Wurzeln und lief nicht unter tiefhängenden Ästen hindurch. Einen kurzen Moment schoss Neldor der Gedanke durch den Kopf, dass er den Wald vielleicht nicht verlassen sollte.
Doch sofort rief er sich seine letzten Taten in Erinnerung. Er hatte seinen Bruder überfallen, überwältigt und gedemütigt nach Hause zurückgeschickt. Doch das war nicht sein Ziel gewesen. So ganz wusste Neldor selbst nicht genau warum er es getan hatte. Nicht wegen Eryniel und auch nicht des Steines wegen. Vielleicht wegen der Anerkennung, doch würde er tatsächlich Anerkennung dafür bekommen, nachdem eigentlich Thônion für diesen Heldenritt vorgesehen gewesen war? Wem wollte er also etwas beweisen?
Der Ritt dauerte lange genug um Neldor die Möglichkeit in Betracht ziehen zu lassen, dass er sich vielleicht selbst beweisen wollte, dass er etwas konnte. Dazu reichte es nicht, den Bruder aus dem Hinterhalt vom Pferd zu werfen - nein er musste den Silmaril bekommen und ihn zurück nach Düsterwald bringen, oder irgendwo anders hin, denn er wusste nicht ob er je wieder in den Wald zurückkehren konnte. Neldor gönnte sich und Ninim kaum Rast, die Furcht verfolgt und gefangen zu werden, war zu groß.
Er war unendlich erleichtert als er die Grenzen des Waldes vor sich sah, doch gleichzeitig schienen ihm die Berge, die wie steinerne Riesen aus der Erde ragten, ein unüberwindbares Hindernis. Er ritt ein wenig nach Süden, bis er zu dem einzigen ihm bekannten Pass gelangte und er hatte Glück, denn zu dieser Zeit lebten noch keine Orks unter dem Berg. Neldor legte den Weg nach Tharbad schnell und glücklich zurück, auch wenn ihn seltsame Geräusche die ganze Nacht über wach hielten.
Vor ihm ragte schließlich die Stadtmauer Tharbads aus dem Boden, doch die Tore waren trotz der späten Stunde, zu der Neldor Tharbad erreichte, noch geöffnet. Der Elb wagte anfangs kaum zu glauben, dass er die Stadt tatsächlich erreicht hatte. Er legte den Kopf in den Nacken und atmete genießerisch die klare Luft ein, die der Wind von den Bergen herabtrieb. Neldor tat wie ihm, oder eigentlich Thônion, verheißen, er begab sich in die Taverne "Zum Grauen Fluss". Hier würde er die anderen treffen, auch wenn er nicht wusste wie er sie erkennen sollte. Doch er hatte noch Zeit, denn es war erst der zweite Tag im Monat.
