Verrat im Zauberministerium

St. Mungo´s Hospital

Es war fünf Uhr morgens, als es an Gilderoy Lockharts Tür klingelte. Der
Störenfried musste dreimal auf den Klingelknopf drücken, bevor Gilderoy
sich endlich aus seinem Bett quälte und verstimmt die Tür öffnete.
"Wer stört?", bellte er unhöflich.
"Äh...Gilderoy Lockhart?", fragte der nächtliche Besucher nervös.
Gilderoy gab ein grunzendes Geräusch von sich, dass sein Gegenüber als "Ja"
deutete.
"Ich komme vom St. Mungo´s Hospital. Mein Chef schickt mich..." Der
Unbekannte brach ab.
"Und?", fragte Gilderoy desinteressiert.
"Bei uns wurde vor einer halben Stunde eine Patientin eingeliefert. Bisher
konnten wir leider noch nicht feststellen, wer sie ist. Ihr Zustand ist
sehr kritisch, besonders weil unser Chefheiler Barron nicht feststellen
kann, was sie genau hat. Sie hat hohes Fieber und sagt im Koma immer nur
Ihren Namen, Mr. Lockhart. Mein Chef hofft, dass Sie uns weiter helfen
könnten. Er würde Sie natürlich auch entschädigen...." erklärte der Mann
mit flehenden Unterton.
Es wäre sicherlich gut für mein Image, überlegte sich Gilderoy, ich sehe
schon die Schlagzeile: "Gilderoy Lockhart hat für seine Fans immer Zeit"
und der Untertitel wäre: "Mitten in der Nacht besuchte Gilderoy Lockhart
einen erkrankten Fan im St. Mungo´s Hospital... Gilderoy lächelte.
"Kommen Sie....kommen Sie mit?" wurde sein gedanklicher Triumphzug
unterbrochen.
Er nickte.
Kurze Zeit später befand sich Gilderoy in einem der scheinbar endlosen
weißen Gängen des Krankenhauses.
"Mein Chef erwartet Sie in Zimmer 211." Sein Begleiter, David Whitmire,
zeigte auf eine Tür am Ende des Ganges.
"Ich muss jetzt leider gehen. Vielleicht sehen wir uns noch." Mit diesen
Worten verschwand David in einem der drei Fahrstühle. Gilderoy schaute auf
die Anzeigetafel und sah, wie sich der Lift nach oben bewegte.
Na dann mal los, Gilderoy. Diese Tat wird wieder einmal Millionen von
Frauenherzen schmelzen lassen... Er setzte sein berühmtes Lächeln auf und
steuerte geradewegs auf das genannte Zimmer zu.
Als er den Türgriff nach unten drücken wollte, ging die Tür von alleine auf
und ein 1,80 großer Mann erschien dahinter. Auf seinem Namensschild stand
in fetten Buchstaben: Chefheiler Samuel Barron.
"Hallo! Gilderoy Lockhart." Gilderoy streckte ihm die Hand entgegen, welche
Barron mit kaltem Blick musterte.
"Ich weiß", schnauzte er den irritierten Gilderoy an. "Sie kommen spät,"
fuhr er im selben unhöflichen Ton fort.
"Seien Sie froh, dass ich überhaupt komme. Ich habe besseres zu tun, als
Ihre Arbeit zu machen." In Gilderoy´s Augen blitzte es böse auf.
"Seien Sie unbesorgt: Sie machen nicht meine Arbeit. Sie erfüllen lediglich
einer sterbenden Frau ihren letzten Wunsch.", antwortete Barron noch
eisiger.
"Sterbend?", murmelte Gilderoy. "Man hat mir nicht gesagt, dass sie..."
"Natürlich nicht! Dann wären Sie nämlich nicht mitgekommen oder liege ich
da falsch?" unterbrach ihn der Chefheiler.
Bevor Gilderoy seine Verteidigung starten konnte, drang aus dem Zimmer ein
Schmerzenslaut.
"Beeilen Sie sich lieber. Ihr bleibt nicht mehr viel Zeit." Barron schubste
ihn in das Zimmer und schloss hinter ihm die Tür.
Zögernd setzte sich Gilderoy in Bewegung. Es brannte kein Licht. Lediglich
der Vollmond erhellte den Raum ein wenig. Unter dem Fenster stand das Bett.
Die Gestalt, die darin lag, atmete stoßweise. Ihr Brustkorb hob und senkte
sich unregelmäßig. Ihr Nachthemd war mit Blutflecken übersät.
Gilderoy stellte sich vor, wie Barron vergeblich versuchte, die Blutungen
zu stillen. Doch schnell schüttelte er diese Vision ab und tat einen
weiteren Schritt auf das Bett zu.
Ihre Hände klammerten sich krampfhaft am Bettlaken fest.
Sie muss fürchterliche Schmerzen haben, dachte Gilderoy erschüttert.
Ihr Gesicht konnte er nicht erkennen. Es war in dem großen, weichen Kissen
versunken.
Gilderoy holte tief Luft und trat nun direkt ans Bett. Er senkte den Blick
und sah in ein von Schweiß überzogenes Gesicht. Eine kastanienbraune
Haarsträhne klebte an ihrer rechten Wange und ihre Züge waren von dem
Todeskampf gezeichnet.
"Vivien!", stieß Gilderoy entsetzt hervor.
"Gilderoy?" Mühsam öffnete Vivien ihre Augen einen Spalt. "Gilderoy!" Sie
versuchte zu lächeln. "Schön, dich wieder zusehen. Ich muss ... " Ein
Hustenanfall ließ sie Blut spucken.
"Sprich nicht!" Gilderoy nahm Viviens Hand. Sie war kalt. Eiskalt.
Vivien schloss wieder die Augen und rang nach Luft.
Nein. Das kann nicht sein, darf nicht sein. Es war vor acht Jahren, als
Vivien ihn bei Nacht und Nebel verließ. Sie war einfach gegangen. Nur einen
Zettel hatte sie hinterlassen. "Ich liebe dich!", hatte darauf gestanden.
Seitdem hatte Gilderoy nichts mehr von ihr gesehen oder gehört. Bis jetzt.
Jetzt lag seine erste und einzige wirkliche Liebe vor ihm und kämpfte um
jeden Funken Lebenskraft.
Gilderoy unterdrückte die Tränen.
"Gilderoy?" Vivien hatte die Augen wieder geöffnet. Er drückte ihre Hand
fester und legte seinen Zeigefinger auf ihren Mund.
"Es ist wichtig," flüsterte sie und schüttelte seinen Finger wieder ab.
Er beugte sich, soweit es ging, zu ihr runter.
"Du hast eine Tochter," hauchte sie ihm ins Ohr.
"Was?" Gilderoy sah sie mit aufgerissenen Augen an.
"Stella ist sieben. Bitte kümmere dich um sie. Versprich es!" Vivien
versuchte, sich aufzurichten, aber erst mit der vorsichtigen Hilfe von
Gilderoy gelang es ihr.
"Ja," versprach er mit tränenden Augen.
"Ich liebe dich!", raunte sie ihm zu und schloss die Augen. Diesmal für
immer. Ihr Körper hob sich bebend in einem letzten Atemzug und erschlaffte
in Gilderoys Armen.
Wie lange er mit der toten Vivien in seinen Armen dasaß, wusste Gilderoy
später nicht mehr. Am Anfang liefen ihm noch lautlose Tränen über die
Wangen, doch irgendwann kamen keine mehr.
Das Zimmer war nun endgültig dunkel, weil der Mond sich hinter einer
schwarzen Wolke versteckt hatte. Es hatte den Anschein, dass er Gilderoy in
seiner Trauer allein lassen wollte.
Erst als sich eine Hand auf seine Schulter legte, erwachte Gilderoy aus
seiner betäubten Ohnmacht.
Er hatte nicht gehört, wie Barron ins Zimmer gekommen war. Er hatte nicht
gehört, wie sich ihm Schritte genähert hatten. Er hatte nicht gehört, wie
der Chefheiler seinen Namen gerufen hatte. Er hatte nur dessen Hand
gespürt.
"Alles in Ordnung mit Ihnen?", erkundigte sich Barron mit sanfter Stimme.
Gilderoy nickte stumm. "Sie hatten Recht. Ich wäre nicht gekommen. Ich bin
wirklich ein Feigling," murmelte er leise.
"Nein. Das sind Sie nicht. Sie sind nicht davon gelaufen. Es gibt viele
Menschen, die vor dem Tod davonlaufen bis er sie selbst holt, aber Sie sind
bei ihr geblieben," tröstete Barron ihn.
"Ich habe sie gekannt," schluchzte Gilderoy.
"Sie wissen, wer sie war?", fragte Barron überrascht.
"Vivien Casson ... Ich habe sie geliebt!", flüsterte er. Seine Augen
begannen wieder zu brennen.
"Das tut mir Leid...", murmelte Barron. " ...Kommen Sie! Wir gehen besser
in mein Büro. Dort bekommen Sie erstmal einen starken Kaffe und etwas zu
Essen." Der Chefheiler nahm Vivien vorsichtig aus Gilderoys Armen und legte
sie behutsam wieder aufs Bett. Dann zog er ein weißes Laken über ihren
toten Körper. Er wartete noch ein paar Sekunden, fasste Gilderoy
schließlich am Handgelenk und zog ihn mit sanfter Gewalt vom Bett.
Gilderoy stolperte und wäre fast gestürzt. Aber Barron hatte so etwas schon
geahnt und hielt ihn rechtzeitig fest. Er wollte ihn stützten, doch
Gilderoy wehrte ab.
"Geht schon," beteuerte er.
Kurz darauf saßen beide in Barrons Büro und tranken Kaffee. Also - Barron
trank, doch Gilderoy starrte die Tasse, die vor ihm stand, nur mit stumpfem
Blick an.
"Es tut mir Leid, aber ich muss Ihnen leider ein paar Fragen stellen,"
begann Barron behutsam das Gespräch. Gilderoy sah von seiner Kaffeetasse
auf.
"Hatte Miss Casson eine Familie?"
"Sie hat eine siebenjährige Tochter," antworte Gilderoy stockend. "Und ich
... Sie hat gesagt, dass ich der Vater bin." Barron betrachtete ihm mit
einem mitleidigen Ausdruck.
"Wann hatten Sie Miss Casson denn das letzte Mal gesehen?", fragte er
weiter.
"Was geht Sie das an?", zischte Gilderoy auf einmal.
"Also, ich werde es ihnen wohl kaum verheimlichen können: Vivien Casson
wurde ermordet! Ihre Verletzungen deuten auf einen schweren Kampf hin. Sie
wurde am Ende jedoch mit für uns unbekannten Mitteln besiegt." Barron holte
tief Luft und fuhr fort: "Es gleicht einem Wunder, dass sie noch vor ihrem
Tod gefunden werden konnte. Der Mörder hatte einen Tarnzauber über sie
ausgesprochen, denn sie nur noch mit letzter Kraft brechen konnte ...
Wissen Sie ob, Miss Casson Feinde hatte?", beendete er seine Erklärung.
"Ich weiß nicht...", überlegte Gilderoy. "Ich habe sie vor ungefähr acht
Jahren das letzte Mal gesehen. Aber sie war ein Auror." Gilderoy wurde noch
blasser als vorher.
Ein Schweigen trat ein. Beide hingen ihren Gedanken nach. Gilderoys
kreisten nur um Vivien. Ermordet? Wie kann das sein? Wer sollte so etwas
tun? Natürlich, Auror ist ein gefährlicher Job, aber der, dessen Namen
nicht genannt werden darf, war seit vier Jahren besiegt. Die gefundenen
Todesser sitzen ihre gerechte Strafe in Askaban ab und die, die unter
Verdacht standen und frei gesprochen wurden, werden vom Zauberministerium
überwacht. - Oder etwa nicht? Oder vielleicht sollte Vivien so jemanden
bewachen und der hatte sich dagegen gewehrt...?
"Auf jeden Fall werde ich das Zauberministerium benachrichtigen. Und Sie
sollten jetzt lieber zu Ihrer Tochter gehen, sonst ist sie ganz alleine zu
Hause," brach Barron die Stille.
"Das werde ich machen," stimmte ihm Gilderoy zu.
"David wird Sie hinbringen. Wir werden uns sicher noch mal sehen.",
verabschiedete Barron sich von ihm.