Vom Wollen, Wollen-wollen und Tun
Es war nicht so, als hätte er
nicht gewollt. Im Gegenteil, er wollte, konnte aber nicht.
Obwohl
– wollen im eigentlichen Sinne stimmte nun auch nicht so recht. Es
war mehr ein Dilemma zwischen wollen und wollen wollen, das ihn hier
beschäftigte und seine Aufmerksamkeit von Dingen ablenkte, die um so
viel wichtiger waren als das, worauf sein Geist sich
konzentrierte.
Denn, um ehrlich zu sein, was er wollte oder auch
nicht wollte, war nicht besonders spektakulär. Es hingen keine
Menschenleben davon ab, keine Schicksale, keine ganze Welt war auf
ihn angewiesen; kurzum, es war ein völlig un-Harry-Potterisches
Problem.
Und genau das machte es so schwierig.
Geübt
zwar in jeder Form von Verantwortung, sei es nun die Vernichtung des
größten Schwarzmagiers aller Zeiten, die Errettung einer holden
oder auch ausgesprochen kratzbürstigen Jungfrau oder das Führen
einer jugendlichen Widerstandsgruppe, hatte der Junge, der lebt, das
Eine doch nie gelernt:
Verantwortung für sich selbst zu
übernehmen.
Solange es eine Prophezeiung gab, die ihm aus der
Hand nahm, was zu tun sei, solange ein weiser Greis seine Geschicke
plante und lenkte, solange Hermine ihre Pläne und Zeittafeln
erstellte, war Harry Potter der geborene Held.
Selbstlos,
mitfühlend, stark in Geist und Körper, schicksalsergeben und ein
kleines bisschen zu unwissend für jede Aufgabe, die er anging – er
tat, was getan werden musste, ohne darüber nachzudenken oder große
Entscheidungen zu treffen. Selbst, wenn er dennoch ein Wahl hatte und
aus freien Stücken entschied, war stets dieser kleine Rest Zwang in
ihm, der sein Unterbewusstsein in die richtige Richtung führte.
Unterdrückte er diesen Zwang , waren die Resultate jedes Mal verheerend.
Sirius' Tod – das Ergebnis einer Überlegung, die die Ratschläge Hermines außen vor gelassen hatte.
Die vorschnelle Verurteilung seines Zaubertranklehrers Serverus Snape – einzig und allein bedingt durch Harry's Unvermögen, den Worten Dumbledores uneingeschränkten Glauben zu schenken.
Jeder
einzelne Fehlschlag ließ sich auf die eine oder andere Weise darauf
zurückführen, dass Harry versucht hatte, die Dinge selbst in die
Hand zu nehmen und das Schicksal der Welt auf seine Weise zu lenken.
Also, als einzig logische Schlussfolgerung, war Harry Potter ein Held
nach Plan, der jedoch, auf sich alleine gestellt, keinerlei Erfahrung
mit Erfolgen hatte.
Wäre Harry Potter nun ein normaler junger
Mann aus einer normalen Familie mit einer normalen Vergangenheit in
einer normalen Situation gewesen, hätte sich alles wohl von alleine
ergeben. Die Gedanken des Wollens und Wollen-wollens wären ihm
vermutlich fremd geblieben; er hätte schlicht das getan, wozu ihm
sein Geist riet.
Doch Harry Potter war nun einmal ein hochgradig
anormaler junger Mann aus einer schlicht merkwürdigen Familie mit
einer außergewöhnlichen Vergangenheit in einer normalen Situation –
und damit, so stellte er in jenem Moment fest, konnte er nicht
umgehen.
Er schluckte schwer und fühlte die Hitze in seinen Kopf steigen.
Die Blicke, die ihn streiften, waren in der
Mehrzahl interessiert, an jenem Tage und an jenem Ort jedoch durchaus
von Zeit zu Zeit mit glühendem Hass getränkt .
Aber das, so
hatte Ron ihm in einer stillen Stunde erklärt, war nichts, worüber
sich zu wundern sich gelohnt hätte.
Der Fall Voldemorts, mochte
er nun auch schon einige Monate zurückliegen, hatte die Zaubererwelt
verwundet, aber mit der Chance auf Heilung zurückgelassen. Jene, die
Tote zu betrauern hatten, hatten dies getan und waren nach der
Katastrophe so schnell wie möglich wieder in ihren Alltag
zurückgekehrt.
Es war wie nach jedem Krieg – das Leben ging weiter.
Doch unter jenen, die schmerzlich vermisst wurden,
befand sich auch genau der, der die Verantwortung für die Schlacht
trug; nicht alle Anhänger Lord Voldemorts waren mit ihm zu Grunde
gegangen.
Und da das Alte in der Regel beim Alten bleibt, war
immer noch ein beträchtlicher Teil der Schüler des Hauses Slytherin
der Meinung, ein anderer Ausgang der letzten Schlacht hätte größeres
Glück über die Zaubererwelt gebracht.
Nicht, dass sie dafür
einen Beleg hatten; doch allein der tiefsitzende Groll gegen den
Rivalen Gryffindor machte es vielen von ihnen noch unmöglich, Harry
Potter in der Rolle des Helden zu akzeptieren.
Nun – das aber,
wie schon erwähnt, bereitete ihm kein Kopfzerbrechen. Er wusste und
spürte, dass die Zeit zu seinen Gunsten arbeitete; das Klima, zu
Beginn geprägt von Kälte und Abscheu erwärmte sich mit jeder
Woche, die das siebte Jahr fortschritt. Dieses Gefühl der
Hilflosigkeit, des Wollens und gleichzeitig nicht wollen Wollens
oder, mehr noch, nicht wollen Dürfens, rührte aus einer ganz
anderen Quelle.
Und wieder schluckte er, während sein Blick auf die brodelnde Flüssigkeit in seinem Kessel fiel.
Er hatte
schon lange die Gedanken, die ihn so quälten, in sich getragen –
in weiser Vorraussicht hatte er sie sogar in die sanften Hände
seiner besten Freundin gelegt, hoffend, dass sie auch diesmal einen
Plan, eine Liste aus dem schier unendlichen Vorrat ihrer Taschen
ziehen würde.
Doch er war gescheitert; Hermine, die zwar
verstand, was er wollte ohne es wollen zu können, hatte ihm ihre
Hilfe verweigert. Sie war es auch, die ihn, zwar ohne Worte doch mit
einem Blick, der all das verriet, was ihre Stimme verschweigen
wollte, darauf gestoßen hatte, dass die Zeit des Wollens für ihn
gekommen war – dass es nötig war, endlich eine eigene Entscheidung
auf eigenes Risiko zu treffen.
Auch wenn es nicht um Menschenleben
ging. Nicht um Schicksale oder Welten.
Auch wenn es nur um ihn
ging.
Gerade weil es nur um ihn ging.
Doch, und das wurde ihm erneut schmerzlich bewusst, er konnte diese Entscheidung nicht treffen. Er wollte es doch gar nicht, da war er sich mit einem Mal sicher, denn wie sollte er so etwas Absurdes wollen können? Die Logik und alles, was er bis zu diesem Zeitpunkt gelernt hatte, sprachen gegen dieses innere Verlangen, das ihn zu verschlingen drohte; und mit den Erfahrungen, die er in der Vergangenheit gemacht hatte, sollte er wohl klüger sein, als einem eigenen inneren Gefühl zu folgen. Einem so diffusen Wunsch nachzugehen kam einer Selbstbestrafung gleich, und darauf konnte er getrost verzichten.
Und wieder schluckte er schwer.
Langsam, ohne auf das wirre Rauschen in der Cortex des
Hirns zu achten, wanderte sein Blick über die wenigen Schüler, die
ihren Platz näher am Pult gefunden hatten als er selbst. Er blieb an
den schmalen Schultern hängen, die, wie immer, als Folge einer
bewusst aufrechten Haltung ein wenig breiter wirkten, als sie
tatsächlich waren und wanderte weiter den Arm entlang, der mit
ruhigen Bewegungen die Alraunwurzel auf dem Schneidebrett
zurechtmachte.
Die schmalen, schlanken Finger arbeiteten sehr
präzise; der grüne Saft färbte die Kuppen und bildete einen
unangenehmen Kontrast zu der blassen Haut und den roten Brandnarben,
die als einziges Zeichen des Krieges an dem anderen jungen Mann
zurückgeblieben waren.
Vielleicht auch nicht als einziges
Zeichen, dacht Harry, und die Gedanken überschlugen sich fast.
Der
unstete, ungelenkte Blick fand seinen Weg hinauf zum Hinterkopf, an
dem das fast farblose Haar in Soldatenmanier kurzgeschoren war. Harry
vergaß das Wollen, das Wollen-wollen und den Verzicht auf jede
Nachgiebigkeit; er dachte an die gehärteten Züge, die Augen voller
Ungewissheit und die Attitüde, die sich seit jenem Kampf in
unglaublicher Weise geändert hatte. Er dachte an die Stimme, so
anders, gezeichnet von den Erlebnissen des letzten Jahres, vom Krieg,
von der Verantwortung…
Harry's Spiegelneuronen feuerten wie wild und er schloss bestimmt die Augen.
Nein, das wollte er nicht. Nie. Allein der Wunsch nach Friede war es, der ihn beseelte, die Gier nach einem Beweis dafür, dass Draco Malfoy ein anderer war. Er hatte, so musste es sein, alles in diesen Geist hineinprojeziert, was er bei anderen vermisste; er hatte sich ein Bild geschaffen und glaubte nun, ihm eine Art Liebe entgegenbringen zu müssen. Nur daher rührte sein Wollen.
Das Zeichen zur
Ende der Stunde ertönte und Professor Slughorn wies seine Schüler
an, ihre Tränke bei Seite zu stellen; die Zubereitung würde noch
einige Wochen, unter Umständen Monate brauchen. Doch das beunruhigte
ihn nicht, denn er wusste, das manche Dinge erst mit der Zeit ihr
volles Aroma entfalten; erst das Warten, das Ruhen-lassen verhilft
ihnen zu wahrer Größe.
Harry dagegen wusste von solchen
Weisheiten nichts, vielleicht das eine Manko, dass immer verhindern
würde, dass er es im Brauen der Zaubertränke zur Meisterschaft
brachte; in diesem Moment wusste er jedoch auch von vielen anderen
Dingen kaum etwas.
Alle Hirnareale spielten verrückt, doch
sein Körper, an all die Gefahrensituation gewöhnt und sich jeder
Notwendigkeit wie ein geduldiges und gehorsames Haustier
unterordnend, folgte den nicht nicht gefassten Entschlüssen
intuitiv.
„Malfoy? Draco Malfoy!"
Noch vor der Tür wartete
der junge Mann auf ihn; leicht unsicher, doch nicht so überrascht,
wie er es in Anbetracht der Situation hätte sein können.
Harry
zögerte, doch gegen jede bewusste Entscheidung drängten sich Wollen
und wollen – Wollen in den hintersten Ort seines Denkens zurück
und überließen dem Tun das Feld. Er lächelte nicht, doch seine
Augen suchten die seines Gegenüber.
„Können wir uns
unterhalten? Irgendwann?"
Draco Malfoy stutzte nicht; er stellt
auch keine Fragen. Er nickte nur und wies mit einem Kopfnicken den
Gang hinauf.
„Ja. Auf dem Weg zur großen Halle?"
Harry
schulterte seine Tasche und lief neben dem großen, schmalen Mann
her, dessen Schultern, wie immer, als Folge einer bewusst aufrechten
Haltung ein wenig breiter wirkten, als sie tatsächlich waren. Seine
Hand hing nah am Körper herab und Draco Malfoy konnte die Wärme
spüren, die von ihr ausging.
Ihre Finger berührten sich.
Fast.
