Ein leises Knacken brach die Stille, die sich unter den großen und beschützenden Bäumen dieses Ortes aufgetan hatte.

Mit dem Knacken war ein Gast erschienen. Es war ein junger Mann, recht groß und schlaksig, mit langen roten Haaren. Er trug eine Jean und einen weiten Pullover mit eine G darauf. Ein Stück Weihnachtsdekoration hatte sich in den Maschen des selbst gestrickten Kleidungsstückes verfangen.

Langsam setzt er sich in Bewegung. Es hätte wie ein gewöhnlicher Spaziergang aussehen können. Aber ein jeder Schritt wirkte unglaublich schwer, so als müsste er sich jedes Mal von neuem gegen eine gewaltige Kraft ankämpfen, welche ihn in die entgegen gesetzte Richtung tragen wollte. Trotzdem kämpfte er weiter, Schritt um Schritt.

Nach seinem schier endlosen Gang blieb er vor einem beinahe im Schnee versinkenden Stein stehen.

Für einen Moment starrten seine Augen hinab auf das erkalte Material, dass so viel zu sagen schien. Es schien zu ihm zu sprechen, und doch war es nicht mehr als ein Stein.

Dann, als hätte ihm jemand von hinten einen Stoß versetzt, fiel er nach vorne. Er landete auf den Knien und bremste seinen Sturz in letzter Sekunde mit den Händen ab, sodass sein nicht auch noch sein Oberkörper im der weißen Pracht versank. Doch sein Kopf wurde nicht von Händen gestützt, und so hing er schlaff herab. Seine Haarspitzen berührten die kalte Oberfläche, waren allerdings zu leicht, um Spuren darin zu hinterlassen.

Ein unterdrücktes Schluchzen fand den Weg aus seiner Kehle, und eine Träne fiel hinab.

Unter höchster Anstrengung setzte er sich auf und holte seinen Zauberstab hervor. Mit einer lockeren Handbewegung ließ er ein Blatt Pergament und eine Feder mit dazugehörigem Tintenfläschchen vor ihm erscheinen.

Er nahm den Federkiel zitternd in die Hand und begann zu schreiben.

„Du weißt sicher, dass ich erst einmal hier war. Damals, als wir dich hierher brachten…

Seither bin ich jeden Morgen aufgewacht und in dein Zimmer gegangen, in der Hoffnung du würdest eines Tages wieder dort liegen.

Aber du warst nie dort.

Ich habe die Geschäfte weitergeführt, denn obwohl alle in hellem Aufruhr waren, kamen unsere Stammkunden und auch andere noch immer in den Laden um sich unsere Produkte zu kaufen.

Ich habe alles so gemacht wie zuvor. Ich habe die Kunden beraten und mich umgehört was die Leute gerne noch alles bei uns sehen würden.

Einmal habe ich mich auch an unseren alten Tisch gesetzt, wo wir immer stundenlang über den unsinnigsten aber auch ziemlich gewinnbringenden Ideen gebrütet haben… Aber kaum hatte ich meinen Zauberstab gehoben, fiel er mir aus der Hand und blieb auf dem Tisch liegen. Ich habe immer so stark gezittert, dass meine Finger nicht die Kraft aufbrachten, ihn fest zu halten.

Denn wie kann ich jemals an die Ideen anknüpfen, die uns beiden gekommen sind… Ideen, auf die ich oder du alleine nie gekommen wären. Egal was es war, keine unserer Ideen ist einem alleine gekommen. Immer hat der andere das nötige hinzugefügt oder einfach so weit verbessert, dass die Produkte so beliebt wurden, wie sie es eben sind. Aber alles was ich jetzt hervorbringen könnte… Ist so unvollständig!

Ich habe versucht mich abzulenken, indem ich mich mit ein paar unsere Freunde traf. Aber, wie du sicher verstehen kannst, hatten sie kaum Zeit. Alle waren damit beschäftigt, Leute aus dem Untergrund zurück zu holen, oder aber ihre eigenen Verluste zu bedauern… Natürlich waren die meisten auch auf vielen Festen. Die Winkelgasse glich einem einzigen Gartenfest, kann ich dir sagen. Kein Zauberer und auch keine Hexe schien sich das entgehen lassen zu wollen. Besonders wegen der ganzen Schnäppchen, die einen dort erwarteten."

Er setzte ab und richtete seinen Blick ins Leere… Seine Gedanken kreisten um das nun kommende, was er schreiben wollte, und was ihn immer mehr Überwindung kostete.

„Ich war auf keinem der Feste."

Die Erinnerung stürzte auf ihn ein.

Er hatte draußen vor der Türe gesessen. Im Fuchsbau hatte ein großes Fest stattgefunden. Alle waren eingeladen. Die Mitglieder des Ordens, die Familie, einfach alle. Man hatte sämtliche Hebel in Gang gesetzt, um möglichst jeden in dem Haus unterbringen zu können. Alle waren eifrig bei der Sache, damit am Abend alles richtig ging. Tatsächlich kam keiner der Gäste zu spät, und als schließlich jeder gesättigt war, blieb man noch weiter zusammen sitzen, riss Witze und erzählte sich die neusten Geschichten.

Alle waren sie zusammen gesessen…

Bis auf ihn selbst. Er hatte die Frischluft vorgezogen. Er hatte es sich auf den Treppen gemütlich gemacht, zusammen mit einem bis zum Rand gefüllten Glas Wein. Nur ein paar Hühner hatten sich zu ihm gesellt.

„Es war eine harte Zeit. Aber ich habe es überstanden.

Aber obwohl mir, tief in meinem Herzen, klar war, was mit dir geschehen war, konnte ich nicht anders als jeden Morgen in dein Zimmer zu gehen.

Doch nie kam ich hierher, an diesen Ort, wo du eigentlich bist.

Ich habe es nie gewagt, noch ein zweites Mal hierher zu kommen.

Beim ersten Mal wartete ich, bis das nötigste zu Ende war Ich habe nicht auf unsere Familie gewartet. Ich hab mich als Erster umgedreht und bin verschwunden, denn der letzte Moment mit dir lies mich nicht los… Das Bild vor meinem inneren Auge verfolgte mich die ganze Zeremonie über. Ich wollte davor weglaufen, auch wenn ich wusste, dass es mich immer begleiten würde. Das schlimmste bei dem Gedanken daran war und ist jedoch, dass ich in diesem allerletzten Moment, bei deinem letzten Atemzug, nicht an deiner Seite gestanden bin...

Mein Gott, was waren wir sorglos. Wir haben nie daran gedacht, dass auch uns etwas hätte passieren können. Wir waren darauf erpicht die anderen zu beschützen und etwas zum Kampf beizusteuern… Aber wir haben nie daran gedacht dass es vielleicht wir sind, die den Kampf nicht als Sieger verlassen können."

Abermals hörte er auf zu schreiben. Er wischte sich mit dem bereits feuchten Ärmel über sein Gesicht, denn er wollte nicht, dass die Tränen die Tinte verwischten und seine Worte unkenntlich machten. Er musste es zu Ende bringen. Egal, wie schwer es sein würde.

„Vielleicht hat es uns gerade deswegen getroffen… Vielleicht waren wir selber daran schuld…

Doch es hat keinen Sinn, wenn ich mir weiter den Kopf darüber zerbreche. Es ist wie es ist, und egal wie sehr ich es mir wünsche: Ich kann nichts mehr daran ändern.

Aber ich will dir jetzt noch sagen, was mich dazu gebracht hat, doch noch an diesen Ort hier zu kommen und mich anständig zu verabschieden.

Heute ist Weihnachten.

Mom und Dad haben mit den anderen den Fuchsbau schön hergerichtet… Sie haben sich so sehr darauf gefreut, denn es ist das erste sorglose Weihnachten.

Alle waren da… Ron, Bill, auch Percy, Charlie, Ginny, Fleur, Hermine, Harry und noch andere. Ich dürfte als letzter angekommen sein. Ich gebe ehrlich zu… Es war schwer für mich, den Weg durch das Dorf zu schaffen. All die Idylle um mich herum brachte mich fast um den Verstand. Alle schienen so glücklich, in ihrer perfekten kleinen Welt. Als würde nur ich an diesem Tag unter den Wunden des Kampfes leiden.

Mom war recht ausgelassen. Sie hat mit Fleur, Ginny und Hermine zusammen gekocht, und Dad hat derweil mit den anderen den Tisch gedeckt. Nur Ron und ich mussten nicht mitmachen, denn mit uns wären die Küche und das Esszimmer wirklich übergelaufen. Wir sind am Sofa gesessen und haben ein wenig miteinander geredet.

Ich habe mich gefreut sie alle wieder zusehen, aber ich wurde dieses grausame Gefühl der Leere nicht los, welches mich schon so lange verfolgt, und was auch immer die anderen taten, es fehlte etwas. Wie bei einem Foto, wo man die Hälfte abreißt…

Schließlich haben wir begonnen zu Essen… Ich habe keine Ahnung, ob du es schon weißt, aber Hermine und Ron sind endlich zusammen… Du hast unsere Wette also gewonnen. Ich hätte nicht gedacht dass die beiden es so schnell auf die Reihe kriegen. Auch Ginny und Harry sind wieder ein Paar, aber das war uns beiden ja von Anfang an klar gewesen…

Auf jeden Fall setzte Dad dann zu einer Rede an…

Er stand da, am einen Ende des Tisches, und begann zu reden. Zuerst bedankte er sich für das gute Essen und die Hilfe der anderen. Dann begann er über den Sinn von Weihnachten zu philosophieren, aber das kennst du ja eh von ihm. Er wiederholt sich ja doch jedes Jahr. Schlussendlich kam er zu dem einen Satz, der alles auslöste.

Er sagte: ‚Ich freue mich, dass die ganze Familie Weasley beisammen ist.' Und noch bevor ich etwas dagegen tun konnte, erwiderte ich: ‚Fast.'

Alle starrten mich an, teils fragend, teils bestürzt. Und plötzlich begann ich zu weinen. Ich weiß nicht warum, aber ich fühlte mich so hilflos, so leer, so verdammt allein… Und dann hörte ich auch Mom schluchzen, und spätestens in diesem Moment begriffen auch die letzten was ich meinte.

Eine grausam betrübte Stimmung legte sich über den Raum. Als sich Dad unserer Mutter zuwandte und sie trösten wollte, kamen auch Hermine, Ginny und Fleur die Tränen.

Ich hörte die beschwichtigenden Worte der anderen, um die weinenden zu beruhigen, doch alle Stimmen die plötzlich zu vernehmen waren, zitterten, kämpften mit den Tränen.

Ich fühlte mich schrecklich, war ich doch derjenige, der all die ausgelöst hatte. Hätte ich meinen Mund halten können, dann hätte ich ihnen allen nicht das Weihnachtsfest versaut. Wütend auf mich selbst und verzweifelt bin ich einfach aufgesprungen und aus dem Haus gerannt, ohne mich auch nur noch einmal umzusehen.

Ich wusste, was ich zu tun hatte…

Und jetzt sitze ich hier."

Er seufzte und fuhr sich abermals über die Tränen auf seinen Wangen. Seine Augen brannten, und immer wieder schauderte er vor Kälte. Es begann zu schneien, und immer mehr Flocken fielen herab. Doch er musste diesen Brief noch fertig schreiben…

Er musste…

„Ich weiß jetzt, dass nie wieder alles so wird wie früher…

Es ist mir bewusst geworden, dass du für immer fort bist.

Heute, bei der Rede von Dad, ist mir klar geworden, dass du nie mehr mit uns an einem Tisch sitzen wirst.

Der Witz mit Gred und Forge funktioniert nicht mehr, genauso wenig wie die ständige Verwechslung. Wir werden nie wieder unseren kleinen Bruder aufziehen können oder ein unschlagbares Team beim Quidditch abgeben. Wir werden nie wieder eine Witz nach dem anderen reißen, denn es gibt kein Wir mehr.

Es gibt ein Ich, und hoffentlich noch ein Du. Aber ein Wir gibt es auf dieser Erde nicht mehr. Nicht für uns beide.

Ich weiß, dass es nicht besser wird, wenn ich jeden Morgen in dein Zimmer gehe und nachsehe, ob du wieder da bist. Du wirst nie mehr da sein.

Das weiß ich jetzt.

Ich will mit diesem Brief hier Abschied nehmen. Für den Moment zumindest, für die Dauer meines Lebens…

Ich habe keine Zweifel dass wir uns nach dieser Zeitspanne wieder sehen und eine tolle Zeit zusammen haben, aber ich weiß, dass es jetzt Zeit ist, mein Leben zu leben. Ich denke, dass dies auch in deinem Sinne ist.

Ich werde dich nie vergessen. Ich war in meine ganzen Leben nie von dir getrennt, immer an deiner Seite, auch wenn ich im entscheidenden Moment das Unglück nicht von dir Abwenden konnte.

Aber ich werde nie vergessen wir viel Spaß wir miteinander hatten, und wie perfekt wir uns ergänzt haben. Und ich werde auch nie meinen letzten Eindruck von dir vergessen… Du hast gelacht, denn Percy hat etwas Witziges gesagt, wie er mir erzählt hat. Und mit einem Lächeln hast du uns verlassen. Hast du mich verlassen…

In meinen Gedanken und in meinem Herzen behalte ich dich bei mir. Ich weiß, dass niemand je deinen Platz einnehmen kann oder darf, denn es ist dein Platz.

Der Platz, den du dir als mein Zwilling verdienst, Fred.

Ich warte bereits auf unser Wiedersehen…

Dein Bruder George."

Mit einem weiteren Wink seines Zauberstabs ließ er Federkiel und Tinte verschwinden. Er nahm das Pergament in beide Hände und las noch einmal zitternd die letzten Zeilen.

Dann faltete er es und legte es vor den Grabstein seines Bruders, wobei seine Augen über die eingravierten Worte huschten. Er nahm all seine Kräfte zusammen, hob seinen Zauberstab und entzündete seinen Brief mit einem Schlenker.

Er fuhr sich ein letztes Mal mit dem Ärmel über die Tränen. Dann drehte er sich um.

Ab jetzt würde es nicht mehr ganz so schwer sein. Er wollte wiederkommen, er wollte Blumen bringen.

Und er würde es tun, bestimmt…