Hallo zusammen und herzlich willkommen bei meiner ersten länger laufenden Übersetzungsstory! :)
Ich hoffe sehr dass es euch gefällt. Kritik und Verbesserungsvorschläge werden sehr gern gesehen!
Viel Spaß beim Lesen ;)

Originalautor: tashalem
Originalstory: A heart full of love


Kapitel 1: Der alte Mann

Im Schicksalsspiel des Lebens hatte Eponine Thénardier ziemlich schlechte Karten erwischt; Familie, Freunde, Arbeit und Liebe, alles gemeinsam ergab ein unerfreuliches, ermüdendes und deprimierendes Stressbündel. Als nun ihr Boss der letzten fünf Jahre ihr mitteilte, dass ihre Marketingfirma in Konkurs ging und sie alle mit sofortiger Wirkung arbeitslos waren, war sie nicht einmal überrascht. Alles Gute, was passierte, kam ihr vor wie ein Witz; es gerade so mit einem Stipendium aufs College zu schaffen, knapp ihren Abschluss zu machen, rein zufällig den Marketingjob zu bekommen, kaum ein Jahr nach ihrem Abschluss … ganz klar spielte Gott ihr einen üblen Streich. Also spielte sie mit und wartete, wartete geduldig, bis die Dinge vor ihrer Nase schiefgingen, und sagte sich selbst, Ich fühle nichts.

Den Inhalt von fünf Jahren in eine kleine Schachtel neben sich auf der Parkbank gestopft, fuhr Eponine mit den Händen über ihren grauen Arbeitsrock, ehe sie müde ihren Blick durch den Park schweifen ließ. Sie beobachtete die Leute, die fröhlich die letzten Sommertage genossen, strich sich die langen dunklen Locken aus dem Gesicht und seufzte. Sie war so in ihre Gedanken vertieft, dass sie den schmuddeligen alten Mann, der sich neben ihr niederließ, gar nicht bemerkte.

„Was für ein wunderschöner Tag", sagte eine laute, nachdrückliche Stimme, und riss Eponine aus ihren Gedanken. Langsam drehte sie den Kopf und musterte den alten Mann mit dem grauen Haar neben sich von oben bis unten. Sie sah seine braunen Hosen und das zerknitterte Hemd und die schmutzigen Schuhe; normalerweise hätte sie ihn ignoriert und wäre gegangen, doch sie war in der Stimmung für Leben und Leben lassen.

„Für die meisten Menschen, ja … selbst die Regentage", antwortete Eponine und starrte ernst in die Ferne; der alte Mann betrachtete sie vorsichtig.

„Du bist zu jung, um diesen Ausdruck in den Augen zu haben", erwiderte er und Eponine drehte sich, um ihn anzusehen.

„Welcher Ausdruck ist das?", fragte sie interessiert.

„Niederlage", antwortete er.

„Das Leben kümmert sich nicht um das Alter … es kann einen mit zwanzig genauso zerstören wie mit achtzig", erwiderte Eponine und der alte Mann gluckste; er ist definitiv geistesgestört, dachte sie.

„Sei nicht so hart mit dir selbst, meine Liebe … die Welt sieht vielleicht aus wie ein schrecklicher Ort … doch das ist sie nicht", meinte der alte Mann und stand auf. Eponine sah ihn leicht amüsiert an.

„Ist sie nicht?", fragte sie, nicht überzeugt.

„Nein … also versuch, glücklich zu sein", erwiderte er, ehe er sich umwandte und davonging, und als er in der Ferne verschwand, nahm Eponine ihre Schachtel und machte sich auf den Weg zurück in ihre Wohnung; wenn sie ihre Rechnungen nicht zahlte, wäre sie innerhalb eines Monats ohne ein Dach über dem Kopf. Es ist schwer, glücklich zu sein, wenn man obdachlos und hungrig ist.

Fast eine Woche, nachdem Eponine ihren Job verloren hatte, streifte sie in der Stadt umher und fühlte sich verloren. Sie landete erneut im Park und streifte hindurch, als sie einen Arm auf ihrer Schulter fühlte; langsam drehte sie sich um und stand Auge in Auge mit dem alten Mann. Diesmal war er ein wenig ordentlicher gekleidet, wirkte aber immer noch schäbig.

„Sie sind es wieder", sagte Eponine. Der alte Mann lächelte und wies auf die Parkbank; Eponine zögerte, setzte sich dann aber hin. Was hatte sie schon zu verlieren?

„Du wirkst immer noch besorgt, Kind", sagte der alte Mann. Eponine sah in seine müden Augen.

„Ich bin wohl nicht die Einzige", erwiderte Eponine und zog die Augenbrauen hoch; der alte Mann gluckste.

„Du bist ein aufmerksames Kind", sagte er, sah weg und rieb sich die Knie.

„Was betrübt Euch, alter Mann?", fragte Eponine scherzhaft. Ohne Vorwarnung brach der alte Mann in Tränen aus; traurige, leise Tränen, die einem im Herzen wehtaten. Eponine tätschelte ihm den Rücken.

„Tut mir leid … ich hab es nicht so gemeint, bitte weinen Sie nicht … ähm, es ist für nichts zu spät, solange man am Leben ist", sagte sie. Der alte Mann lehnte sich zurück und wischte seine Tränen fort.

„Du hast eine interessante Art zu trösten", meinte er halb lachend.

„Tschuldigung … Ich war immer schon etwas ungewöhnlich", sagte Eponine.

„François, zu Diensten", sagte der alte Mann und bot ihr seine Hand an.

„Eponine", antwortete sie, nahm seine Hand und so einfach war es, sie wurden Freunde. Wenn Eponine nicht gerade auf Arbeitssuche war oder die verrücktesten Jobs annahm, um ihre Wohnung behalten zu können, trank sie Kaffee, aß sie zu Abend, ging sie spazieren mit François Hugo, einem seltsamen alten Mann mit traurigen blauen Augen.

Beinahe sechs Wochen, nachdem ihre Freundschaft begonnen hatte, machte Eponine sich auf den Weg, François zu treffen, sobald ihre Schicht im Café zu Ende war. Er wartete draußen vor dem Coffee Shop, wo sie sich immer trafen und begann zu winken, sobald er sie entdeckte. Als sie sich näherte, ließ er den Arm sinken und er stolperte plötzlich zurück, das Gesicht blass und verschwitzt, seine Hand verkrampfte sich über dem Bauch, als er sich krümmte. Eponine rannte zu ihm, als würde ihr Leben davon abhängen.

„F- François … was ist los?", fragte sie besorgt, kauerte sich neben ihn und umklammerte seinen Arm.

„Alles in Ordnung … Ich brauche nur eine Minute", sagte er mit zittrigen Händen und versuchte vergeblich, seinen Schmerz nicht zu zeigen. Eponine rief einen Krankenwagen und ließ seine Hand nicht los, während er das Bewusstsein verlor und wieder erlangte. Im Krankenhaus angekommen bemerkte Eponine, wie vertraut der Arzt und François wirkten; es machte sie nervös. Langsam schob sie sich näher an das Untersuchungszimmer heran. Neben dem Rahmen blieb sie stehen und lauschte.

„Ich habe es Ihnen bereits gesagt, François, Sie müssen es ruhig angehen und Ihre Pillen nehmen. Ich weiß, dass sie Sie schläfrig machen, aber diese Schmerzattacken werden ansonsten nicht aufhören", sagte der junge Arzt.

„Wozu das alles, Doktor, diese Pillen werden mich nicht am Leben erhalten, oder?", antwortete François.

„Sie werden die Schmerzen lindern", beharrte der Arzt müde; sie hatten dieses Gespräch schon einmal geführt.

„Schmerzen sind gut. Manchmal vergesse ich, dass ich sterbe, und der Schmerz ist eine freundliche Erinnerung daran. Wie ein Wecker, der einen daran erinnert, dass da Dinge sind, die erledigt werden müssen.", antwortete François. Eponine merkte plötzlich, dass sie in den Raum stolperte. Die beiden Männer schauten überrascht auf.

„Tut mir leid, Miss, Sie können nicht …", begann der Arzt.

„Ist schon in Ordnung, Doktor, ich kenne sie … geben Sie uns einen Moment, bitte", sagte François. Der Arzt nickte, ging an Eponine vorbei und aus der Tür. Einen Moment lang starrten sie einander nur an. Langsam schlurfte Eponine zu François; von nahe betrachtet, da in dem Krankenhausbett, wirkte er plötzlich sehr zerbrechlich.

„Jetzt sag doch etwas … was soll dieser Unsinn, dass du stirbst", sagte Eponine halb im Spaß. François griff nach ihrer Hand.

„Eponine … süßes Kind", begann François, und als sie in seine trüben blauen Augen sah, verstand sie.

„Du stirbst wirklich", stellte Eponine lahm fest.

„Ja." Eponines Magen verkrampfte sich und sie fühlte Übelkeit in sich aufsteigen. Sie löste die Hand aus seinem Griff.

„Nun, das ist ja super", flüsterte sie halb lachend. Tränen hingen an den Spitzen ihrer Wimpern.

„Glaub mir, wenn ich dir sage, dass dieser alte Mann deine Tränen nicht verdient", sagte François und starrte geradeaus.

„Jaah … wahrscheinlich hast du Recht", erwiderte Eponine, drehte sich um und verließ entschlossen den Raum. Sie kam bis zum Ausgang des Krankenhauses, doch sie ging nicht nach draußen. Stattdessen lief sie die nächste Stunde lang rastlos den Flur auf und ab und fühlte sich irgendwie taub. Sie stellte fest, dass sie gegen einen Automaten trat, weil er nicht das ausgespuckt hatte, was sie wollte, und dann in der Krankenhaus-Cafeteria viel mehr aß als sie eigentlich brauchte, und dann viel zu laut über eine Naturdokumentation über Enten im Wartezimmer lachte. Auf der Toilette wusch sie sich das Gesicht und starrte ihre eigenen müden braunen Augen an, die von verworrenen langen kohlschwarzen Haaren umrahmt wurden, und dann brach sie zusammen und schluchzte. Es war nicht allein wegen dem traurigen, sterbenden alten Mann, den sie mittlerweile als Freund und Vaterersatz betrachtete, seit sie gemeinsam Zeit verbrachten, sondern auch wegen ihrem erbärmlichen Leben überhaupt. Ich fühle nichts … ja, genau.

Am nächsten Morgen kam Eponine mit einem breiten Lächeln in François' Zimmer, ging zu ihm und tätschelte seinen Arm.

„Wie fühlst du dich heute?", fragte sie. Er sah sie mit einem ein wenig traurigen Lächeln an.

„Besser … ein Tag noch bis zu meiner Entlassung", antwortete François.

„Das ist großartig … gibt es irgendetwas, das ich für dich tun kann?", fragte Eponine. Es folgte ein langes Schweigen, Eponine begann sich unbehaglich zu fühlen.

„Eigentlich sollte ich jetzt verneinen … es wäre nicht so selbstsüchtig, aber da gibt es eine sehr große Sache, die du tun könntest", sagte François und setzte sich auf, Eponine setzte sich auf den Stuhl neben seinem Bett.

„Wie groß?", fragte Eponine vorsichtig.

„Unangemessen groß … du kannst nein sagen", meinte er. Eponine seufzte und dachte kurz nach.

„Was ist es?", fragte sie.

„Du musst etwas für mich erledigen." Er drehte Däumchen, sah sie etwas nervös an.

„Was?", hakte Eponine nach und drückte seine Hand.

„Ich brauche dich, um meinen Enkel zu retten", sagte François ernst. Eponine zwinkerte verwirrt.

„Ihn retten … Steckt er in Schwierigkeiten? Ich verstehe nicht …" Eponine wartete.

„Nicht so ganz … Ich habe ihn verdorben und nun ist er dabei, sich selbst zu zerstören, und da ich nicht mehr lange auf dieser Welt weilen werde, bin ich nicht in der Lage, ihn selbst zu retten. Deshalb brauche ich dich, um ihm zu helfen, ihn zu unterstützen, ihn zu retten, wenn möglich … ihm ein Freund zu sein", antwortete François sehr schnell; Eponine zwinkerte, als sie versuchte, all seine Worte aufzunehmen.

„Und wie sollte ich das tun?", fragte sie langsam.

„Indem du an seiner Seite stehst … Ich brauche jemanden wie dich, der immer und überall neben ihm steht, er braucht zumindest eine solche Person." Eponine runzelte die Stirn, er drückte sich immer noch sehr vage aus.

„Ich bin nicht sicher, worum du mich bittest, wo genau sollte ich da anfangen …?" Eponine verstummte.

„Indem du für ihn arbeitest, es gibt eine freie Stelle als eine Art persönliche Assistentin und Sekretärin … Du sollst nur ein Auge auf ihn haben, ihn vor Schwierigkeiten beschützen", sagte François, Eponine riss die Augen auf.

„Wer ist dieser ach so empfindliche Enkel?", sagte Eponine leicht verwirrt.

„Sein Name ist Enjolras und er ist die einzige Familie, die mir geblieben ist. Ein einsames Kind, das habt ihr schon mal gemeinsam", erklärte François und lächelte verlegen, Eponine zog eine Augenbraue hoch.

„Persönliche Assistentin oder Sekretärin, das sind beides Langzeitjobs, normalerweise nicht gut bezahlt und … wenn … wenn ich zusage, dann müsste ich aufhören, mich nach besseren Möglichkeiten umzusehen, dann könnte ich mir meine Wohnung nicht mehr …" Eponine unterbrach sich, als sie das zuversichtliche Grinsen und das leichte Leuchten in den Augen des alten Mannes sah.

„Das wirst du können, es ist ein großes Unternehmen", sagte François stolz.

„Wie groß?" Sein Lächeln wurde breiter, sodass er aussah wie die Grinsekatze.

„Hast du schon von La Monta gehört?", fragte er beiläufig.

„Natürlich, ist ja nur eine der größten Firmen der Stadt", erwiderte Eponine.

„Sie wurde von meinem Ururgroßvater gegründet, und ich hoffe, dass ich sie den Händen meines Enkels überlassen kann … und ich hoffe, dass ich ihn deinen Händen überlassen kann", sagte François. Eponine starrte ihn nur mit offenem Mund an.

„Niemals … niemals … du … der Vorsitzende … von La Monta … niemals", wiederholte Eponine immer wieder. Der alte Mann gluckste. Es dauerte eine Weile, bis Eponine von seiner Abstammung überzeugt war. Eponine ging nach Hause und suchte noch einmal im Internet nach der Bestätigung von François' Worten. Sie fand sie. Sie versuchte zu schlafen, doch ihre Gedanken wirbelten verwirrt herum und versuchten, in all dem einen Sinn zu finden.

Am nächsten Tag wurde François entlassen, während Eponine in der Arbeit war, und später am Nachmittag trafen sie sich in ihrem Stammcafé.

„Also, was sagst du, Eponine Thénardier, nimmst du die Herausforderung an?", fragte François ernst, sobald sie sich hinsetzte.

„Ich hab darüber nachgedacht", sagte sie langsam, atmete tief durch und sah in seine flehenden blauen Augen.

„Und?", fragte er nervös.

„Ich nehme die Herausforderung an", sagte sie. Sein Gesicht entspannte sich und er begann zu lachen, nahm ihre Hände in seine.

„Das ist großartig … du wundervolles, liebes Mädchen", sagte er, Eponine lächelte, obwohl ihr schwer ums Herz war. Was zur Hölle hatte sie zugestimmt?