Wolkenbruch
Kapitel 1
Anlaufschwierigkeiten
Ein letztes Mal ging Anzu durch die Küche. Immer wieder schwirrte ihr ein erneuter Gedanke durch den Kopf, was sie mitnehmen könnte. Alles sollte perfekt werden und sie wollte nichts vergessen oder dem Zufall überlassen. Der Picknickkorb war bereits zum platzen gefüllt und ein wenig verzweifelt versuchte die junge Frau noch zwei kleine Teller hineinzuzwängen. Doch diese heimtückische Tragehilfe wehrte sich standhaft und wollte keinen Millimeter mehr nachgeben. Überaus ärgerlich! Aber die Vorfreude, auf den heutigen Nachmittag, ließ Anzu zaghaft lächeln. Es war nicht ihr erstes Date mit ihm. Tatsächlich hatte sie bereits einige Verabredungen mit Kaiba gehabt und jedes Mal kribbelte es mächtig in ihr, wenn sie sich begegneten. Sie waren sich näher gekommen. Mehr aber auch nicht. Und wenn die junge Frau ehrlich zu sich selbst war, dann ärgerte sie das irgendwie ein wenig. Die Gefühle und die Zuneigung, die sie für den CEO empfand, waren schließlich unbestreitbar. Auch, wenn der Großteil ihres Freundeskreises nicht gerade in Begeisterungsstürme ausgebrochen war, als sie davon erfahren hatten. Mit Ausnahme von Yugi und Bakura, hatte wirklich jeder der Jungs seinen negativen Standpunkt gegenüber Kaiba klar zum Ausdruck gebracht. Doch davon würde sich die Brünette sicherlich nicht zurückhalten lassen.
Sollte sie doch denken was sie wollten. Für Anzu war es das Richtige. Es fühlte sich gut an, mit Kaiba auszugehen. Zeit mit ihm zu verbringen und ihn noch ein klein wenig besser kennen zu lernen. Und der CEO schien ebenfalls Interesse an ihr zu haben. Warum also sollte nichts Ernsteres daraus werden? Insgeheim hoffte Anzu zumindest darauf. Nach all ihren Abenteuern und Erlebnissen, wollte sie wieder frohen Mutes in die Zukunft blicken. Und ein gebrochenes Herz hatte ihr gereicht. Lange Zeit, war die Tänzerin mehr als betrübt darüber gewesen, dass der Pharao ihre Welt verlassen hatte. Das nicht mehr aus ihnen geworden war, als Freunde. Lange Zeit hatte Anzu das Gefühl gehabt, etwas verpasst zu haben. Und innerlich hatte sie sich dafür verflucht, dass sie dem Pharao nicht mehr von ihren Gefühlen erzählt hatte. Auch wenn sie sich durchaus bewusst war, dass ihn auch dies nicht vom Gehen abgehalten hätte. Und irgendwann, war plötzlich und völlig unerwartet, Kaiba wieder in ihr Leben getreten. Aus einem kurzen Plausch, war ein Wiedersehen geworden. Aus einem Wiedersehen, eine erste ernsthafte Verabredung. Doch insgeheim taten sie sich beide noch etwas schwer damit. Stundenlang konnte sie sich mit ihm unterhalten.
Und die Tänzerin genoss es, sich einmal mit jemandem Austauschen zu können. Nicht immer einen Monolog mit einem stummen Fisch zu führen. Denn das waren die meisten Männer bisher gewesen. Schweigsam. Kaiba sagte frei heraus, was er dachte. Das gefiel Anzu. Er nahm kein Blatt vor den Mund und war gleichzeitig ein guter Zuhörer. Sie genoss die gemeinsame Zeit mit ihm und wollte diese nicht mehr missen. Tatsächlich wollte die junge Frau mehr davon. Viel mehr. Und heute, wollte sie die Initiative ergreifen. Den gesamten Nachmittag hatte die Tänzerin damit verbracht, für ihre Verabredung nach einem romantischen Ort zu Suchen, wo sie nicht gleich jeder Reporter und Paparazzi entdecken würde. Leider kam nur Kaibas Garten hinter dem Haus als sicheres Versteck in Frage. Doch er war damit einverstanden gewesen. Dort würde sie voraussichtlich niemand stören und sie könnten ein wenig unter sich bleiben. Und die junge Frau war mehr als gewillt, das Beste daraus zu machen. Bis eben hatte sie sich mit der Zubereitung von Gaumenfreuden aufgehalten, welche hoffentlich Anklang bei ihrer Verabredung finden würden. Auf Besteck verzichtete die Tänzerin bewusst. Sie hatte die Canapés fingerfertig zubereitet und freute sich schon darauf, sie vor Kaiba auszubreiten. Mit einem schnellen Griff, öffnete sie im Vorbeigehen noch den Kühlschrank.
Die Champagnerflasche war nicht der edelste Tropfen, welchen es zu kaufen gab. Für mehr hatte ihr mageres Gehalt leider nicht ausgereicht und sie hoffte, dass Kaiba ihr das ein wenig nachsehen würde. Seitdem Anzu wieder in Domino war, rollte der Rubel nicht sonderlich gut. Sie hatte wieder bei ihren Eltern, in ihr altes Zimmer einziehen müssen. Für eine eigene Wohnung hatte das Geld einfach nicht gereicht. Tatsächlich konnte sie sich eher schlecht als recht über Wasser halten. Doch dieser heutige Nachmittag war es der jungen Frau wert gewesen, ihr letztes Geld auf den Kopf zu hauen. Mit einem bangen Herzen und zittrigen Fingern, machte sich Anzu auf den weg.
Seto öffnete gerade die Flasche und begann dass prickelnde Getränk in ihre Gläser zu füllen, während Anzu die Leckereien auf der von ihr mitgebrachten Decke ausbreitete. Ananasstückchen und kernlose Weintrauben, folgten weiterem Finger Food. Unter anderen Brotscheiben mit Räucherlachs und Forellenkavier, welcher die junge Frau noch ärmer gemacht hatte, als ohnehin schon.
„So viel Aufwand, hättest du dir meinetwegen nicht machen müssen.", kam es plötzlich von Kaiba, als er all die Speise besah, welche sie mitgebracht hatte.
Insgeheim fragte er sich, wie sie das alles nur zu zweit essen sollten.
Anzu wollte nicht, dass er es mitbekam, doch ein wenig kränkte sie sein Kommentar schon. Sie hatte sich sehr viel Mühe mit den Vorbereitungen für diesen Nachmittag gegeben. Für ein gemeinsames Treffen mit ihm, war Anzu keine Delikatesse zu teuer gewesen. Hatte die junge Tänzerin ihm eine Freude damit machen wollen. Und das durfte sie auch einiges kosten. Anzu zuckte mit den Schultern und lächelte zurückhaltend.
„Ich wollte einfach, dass wir es ein wenig gemütlich haben."
Ein Nicken seinerseits, doch keine Erwiderung. Er hatte sie nicht zurechtweisen oder verletzen wollen. Doch schien die junge Frau unentwegt zu glauben, den CEO beeindrucken zu müssen. Doch dies war nicht notwendig. Er hatte dieses Treffen mit ihr gewollt, weil er ihre Konversationen schätzte. Weil sie eine interessante junge Frau geworden war, welche lebenslustig und intelligent war. Weil sie entgegen seiner früheren Erwartungen doch mehr gemeinsam hatten, als er sich eingestehen wollte. Doch schienen seine Worte sie gekränkt zu haben. Anzu räusperte sich kurz, während sie den Korb weiter auspackte. Kein guter Start für dieses Treffen. Es herrschte beklemmende Stille zwischen ihnen. Das verhieß nichts Gutes. Anscheinend wusste keiner der Beiden so recht, was er nun sagen sollten.
Nachdem Seto seiner Begleiterin gegenüber Platz genommen hatte, gab Anzu sich einen Ruck. Sie hatte das Ganze so gut vorbereitet, es musste einfach klappen. Sie begann mit Smalltalk. Damit war man doch angeblich immer auf der sicheren Seite, oder?
„Ich hoffe das Wetter hält sich. Ich habe mich so auf unser Picknick gefreut. Aber zum Glück sind wir im Garten, dann können wir schnell nach drinnen fliehen."
„Das hoffe ich auch.", antwortet er nur monoton und sah gen Himmel.
Er fürchtete jede Sekunde ein Gewitter aufziehen. Das sah die junge Frau ihm an. Okay, es war nicht klug über das Wetter zu reden. Das verbesserte die Stimmung nicht. Anzu griff nach einer frischen Erdbeere und biss genüsslich davon ab. Seto hatte noch nichts angerührt.
„Sag, wie war dein Tag heute?", versuchte die Tänzerin es erneut.
„Nervenaufreibend. Erst flogen die Sicherungen in der Technikabteilung raus, weil sie das Netz mal wieder überlastet hatten, danach gab es Probleme in der Grafikabteilung. Manchmal habe ich den Eindruck, als würde ich nur mit unfähigen Idioten zusammenarbeiten."
Okay, auch kein gutes Thema. Es schien ihn zu ärgern und Anzu wollte doch, dass er sich entspannte. Seufzend musste sie nun ein wenig zum Angriff übergehen.
„Dann hoffe ich doch wenigstens, dass meine Gesellschaft ein Lichtblick für dich ist."
Er antwortete nicht, aber das war die junge Frau bereits gewohnt. Seto trug sein Herz nicht auf der Zunge und genau das war das Problem, welches die Beiden seit einem halben Jahr vor uns herschoben. Er war distanziert, obgleich er Anzu versichert hatte, mehr für sie zu empfinden als früher. Aber was bedeutete das schon? Nach unsterblicher Liebe klang es jedenfalls nicht. Nicht, dass Anzu dies erwartet hätte. Doch sein Handeln passte einfach nicht zu seinen Worten, welche sie ihm erst vor wenigen Wochen entlockt hatte. Tatsächlich benahm er sich fast ausschließlich so zurückhaltend, wie früher. Was überaus bedauernswert war. Bis auf drei Abende, an denen er der jungen Frau einen kaum spürbaren Kuss auf die Lippen gehaucht hatte, war noch nicht viel passiert. Anzu vermisste das Küssen. Sie wollte mehr. Viel mehr. Sie sehnte sich nach ihm. Seinen Lippen, seinem Körper, seiner Wärme und seiner Leidenschaft. Doch all das schien ihr versagt zu bleiben. Nur einmal wünschte sie sich, er wäre mit solchem Feuereifer bei ihr, wie er es sonst in seinen Duellen zur Schau trug. Schwermut trübte die Stille, bis unerwartet Klänge zu ihnen drangen. Leise, sanfte Töne schienen aus dem Inneren der riesigen Villa nach draußen zu strömen.
„Was ist das?"
Seto blickte nur kurz nach hinten zur Terrassentür.
„Mokubas Musikstunde.", gab er nur knapp von sich.
Wann würde dieser Mann endlich lernen, mehr als nur einen Satz mit ihr zu sprechen? Das war doch wirklich nicht so schwer und im Geschäftsleben war er niemals so wortkarg.
„Ich wusste gar nicht, dass er Klavier spielt."
Seto verzog leicht das Gesicht.
„Er versucht mir in allem nachzueifern. Leider auch darin."
Etwas überrascht und mit leicht geweiteten Augen stellte Anzu ihr Glas zurück. Endlich mal ein paar Informationen von dem Objekt ihrer Begierde.
„Du kannst Klavier spielen? Das wusste ich ja gar nicht."
Ein Nicken, mehr auch nicht. Anscheinend wollte er das Thema nicht weiter anschneiden. Wieder einmal eine Sackgasse. Verfluchter Mist. Ob Gozaburo ihn dazu gezwungen hatte, wie seiner Zeit Noah? Aber ihn zu fragen traute Anzu sich nicht. So weit waren sie einfach noch nicht und sein Stiefvater wäre wohl ein absolutes Tabuthema und gehörte totgeschwiegen, wenn es nach Kaiba ging. Ein leicht frustriertes Seufzen verließ ihre Lippen. Irgendwie musste sie beide heute und hier doch Mal voran kommen. Gerade als Anzu den Mut gefasst hatte und ihm eine Erdbeere zu abbeißen reichen wollte, passierte es.
Zunächst war nur ein einsamer Tropfen zu Boden gefallen. Dann zwei. Doch was so harmlos begann, verwandelte sich binnen weniger Minuten in ganze Sturzbäche.
Fortsetzung folgt...
