A/N: Und wieder einmal belästige ich euch mit einem neuen Machwerk – doch keine Angst, es ist nur ein kurzes diesmal, lediglich 5 Kapitel. Aber… (es gibt immer ein Aber, nicht wahr? :D) ich plane eigentlich, einen Zyklus zu schreiben, der solche GSI-Geschichten enthält. Diese Story ist fertig, und eine zweite (GSI: London) in Arbeit. Ideen hätte ich für mindestens noch eine, sollte euch diese Art der Shortstorys zusagen.

Ich widme dieses 1. Kapitel McAbe.

In Memoriam Harald Brune.

Solange auch nur ein Mensch noch an uns denkt, haben wir nicht umsonst gelebt.

SSHGSSHG

GSI: Hogwarts oder Die Regeln des sozialen Miteinanders

1. Kapitel

Seltsames ging vor in Hogwarts, fand Hermione Granger, ihres Zeichens Headgirl und somit auch verantwortlich für seltsame Sachen. Die junge Frau mit den braunen, wilden Haaren eilte sinnierend durch den zweiten Korridor und betrachtete die Bilder an den Wänden. Normalerweise befanden sich in eben diesen Bildern ihre Bewohner, die sich bewegenden Ritter, Burgfräuleins, Mägde, Reiter, Kämpfer – was man in Schlossgemälden so erwarten konnte.

Doch die Bilder waren leer. Selbstverständlich gab es alles andere noch, die dunklen Burgen, die Wälder, Wiesen, Landschaften, die Stillleben… nur die „lebenden" Wesen waren verschwunden. Und das schon seit zwei Tagen. Was ging hier vor? Hermione hatte Professor McGonagall gefragt, doch die Direktorin hatte nur abwesend mit den Schultern gezuckt. Natürlich, sie hatte ganz andere Probleme.

Die Wiederaufnahme des Schulalltages hatte über ein Jahr gedauert. Nach der Schlacht um Hogwarts war so vieles zerstört, so viele Verluste zu beklagen, so viel neu zu organisieren und vor allem zu realisieren, dass man selbst nicht nur überlebt, sondern auch die Pflicht hatte zu leben, dass Professor McGonagall wahrlich schwer einen Gedanken an solch relativ banale Sachen verschwendete wie die verschwundenen Personen der Bilder.

Doch Hermione ließ diese Sache nicht los. Es war nicht so, dass sie zuviel Freizeit hatte, denn sie musste das siebte Jahr nachholen und sich auf die Prüfungen vorbereiten, ihren Schulsprecherpflichten nachkommen, die Lehrer und Professoren unterstützen und nicht selten Seelsorgeraufgaben übernehmen.

Der Krieg hatte seine Spuren hinterlassen. Die physikalischen Zerstörungen waren beseitigt worden, die Wunden verheilt, doch die psychischen Belastungen lasteten noch schwer auf jedem einzelnen Gemüt.

Hermione hatte lange überlegt, ob sie an die Schule zurückkehren sollte. Als bekannteste „Kriegsheldin" hätte sie es nicht nötig gehabt, denn die Eulen mit Job- und Universitätsangeboten hackten schon aufeinander ein, um als erste ihre Post abgeben zu können.

Harry und Ron hatten die Gelegenheit ergriffen, auch ohne Schulabschluss ihre Ausbildung als Auror zu beginnen. Wer hätte es ihnen auch verwehren wollen? Gab es doch sogar schon Stimmen, die Harry als neuen Zaubereiminister forderten. Harry hatte selbstverständlich abgelehnt, jedoch auch erleichtert darauf verzichtet, wieder nach Hogwarts zu gehen.

Und da es wohl nur wenige Zauberer oder Hexen gab, die mehr als er über die Auswirkungen schwarzer Magie wussten und niemand bestreiten konnte, dass sowohl er als auch Ron kämpfen konnten, gab es auch keinen Widerspruch, als sie den Auroren als Anwärter beitraten.

Hermiones Weg war das nicht. Klar, auch sie konnte kämpfen, aber verdammt noch mal, sie wollte nicht nur wissen, wie ein Zauber funktionierte, sondern auch warum! Und sie wollte einen sauberen Schnitt – die siebte Klasse nachholen, den besten Schulabschluss hinlegen, der je in diesen altehrwürdigen Mauern gesehen wurde, und dann wollte sie auf eine Universität, und zwar auf die beste.

Sie hatte noch keine Vorstellung davon, was sie studieren wollte, aber sie wollte lernen, wollte verstehen und begreifen, verinnerlichen und neue Erkenntnisse gewinnen. Und weil sie so war, weil sie nicht aus ihrer Haut heraus konnte, musste sie wissen, was es mit den leeren Bildern im Schloss auf sich hatte.

Sie runzelte die Stirn, als sie das Gemälde eines Turmzimmers betrachtete. Man sah einen Tisch, auf dem ein Krug Wein stand und drei Stühle. Hier hatte Sir Cadogan, der dicke, kleine Ritter, oft genug mit seinen beiden Freunden, Lord Rick of Bigwamp und dem ehrwürdigen Kanzler Sir Isaac, gesessen und sich über den Niedergang der Kultur unterhalten.

Hermione hatte ihn nicht kommen gehört, deshalb machte sie einen Satz, als sich hinter ihr eine dunkle, leise Stimme erhob. „Die Tatsache allein, dass Sie Schulsprecherin sind…" Er beendete den Satz nicht, denn sie hatte reflexartig den Zauberstab gezogen und war blitzschnell herumgewirbelt. Der Stab lag direkt an seinem Hals, was ihn veranlasste, sich selbst zu unterbrechen.

Sie atmete heftig, erst dann begriff sie, was sie getan hatte. Sie bedrohte ein Mitglied des Lehrkörpers. Und zwar nicht nur irgendeines – nein, es musste ausgerechnet er sein! Um seinen Hals von dem Druck ihres Zauberstabes zu entlasten, hatte er den Kopf ein wenig zurück gebogen, und sie konnte genau eine blasse, aber nichtsdestotrotz deutliche Narbe erkennen, direkt an der Stelle, an der die Spitze ihres Stabes auf seine Haut drückte.

Das Wissen um ihr Fehlverhalten überschwemmte ihr Nervensystem, flutete durch ihren ganzen Körper und ließ sie nach Luft schnappen. Als hätte sie sich verbrannt, riss sie den Zauberstab zurück und ließ ihn mit einer ihr nicht einmal bewussten, fließenden Bewegung in ihrem Ärmel verschwinden.

„Es tut mir Leid, Sir!", sprudelte es aus ihr hervor. „Ich wusste nicht, dass Sie hier sind, und ich…"

Professor Snape hob eine Hand und sie verstummte. Er trat einen Schritt auf sie zu und starrte sie an. Sie ging ihm höchstens bis zur Brust, so dass es ihm leicht fiel, auf sie herabzusehen. „Nun, wie ich gerade bemerken wollte, Miss Granger: die Tatsache allein, dass Sie Schulsprecherin sind, gibt Ihnen weder das Recht, sich nach der Ausgangssperre außerhalb Ihres Gemeinschaftsraumes herumzutreiben, noch gar jemanden anzugreifen, der Sie darauf hinweisen wollte."

„Ich treibe mich nicht herum, Sir, und ich habe Sie nicht angegriffen!", verteidigte sich Hermione leise. „Ich hatte mich nur erschrocken, als Sie sich so angeschlichen hatten – so etwas macht man einfach nicht!"

Seine Augenbraue zuckte nach oben. „30 Punkte Abzug für Gryffindor", sagte er seidig. „Fünf dafür, dass Sie sich herumtreiben" – er betonte letzteres besonders süffisant – „fünf für Ihren Angriff auf einen Lehrer, und zwanzig…" Er zeigte ein kurzes Raubtierlächeln. „Für Ihre unerträgliche Art, mich darauf hinweisen zu wollen, was sich gehört oder nicht gehört."

Er wartete auf ihre Reaktion. Sie war neunzehn und somit seit zwei Jahren erwachsen. Als Kind wäre sie in Tränen ausgebrochen oder hätte angefangen, verzweifelt auf ihrer Unterlippe zu kauen.

Ihre Beherrschung war jetzt bedeutend größer als früher, doch er konnte ihr Mienenspiel noch immer mühelos lesen. Ärger flammte in ihren hellen, braunen Augen auf, Röte stieg in ihre Wangen. Alles in allem, fand er, hatte es sich gelohnt, sie wütend zu machen, auch wenn sie nicht mehr weinend weglief.

„Entschuldigen Sie vielmals, Sir!", presste Hermione zwischen den Zähnen hervor. „Ich bedaure außerordentlich, dass ich meinen Zauberstab auf Sie gerichtet hatte. Gerade Sie wissen doch, dass das eine automatisierte Reaktion war, auf die ich keinen Einfluss hatte. Und ich wollte nur darauf hinweisen, dass es gewisse Regelns des sozialen Umgangs und Miteinanders gibt, und dazu gehört es eben auch, sich nicht an jemanden heranzuschleichen und ihn zu erschrecken!"

„Sie riskieren es tatsächlich, Miss Granger", stellte er fest. „Bevor ich Ihnen für Ihr unerträglich besserwisserisches Verhalten noch mehr Punkte abziehe, wären Sie wohl so freundlich mir mitzuteilen, warum Sie sich zwanzig Minuten nach zehn Uhr abends noch hier aufhalten?

Ich wüsste es, sollten Sie heute mit den Wachrunden dran sein, denn zufälligerweise bin ich der stellvertretende Direktor und somit auch für die Dienstpläne verantwortlich – und Sie, Miss Granger, stehen heute nicht darauf. Da ist nur ein Name eingetragen, nämlich S Punkt Snape."

Seine Stimme war jetzt außerordentlich sanft, trügerisch sanft, und Hermione wusste, egal, was sie sagte, er würde es in seinem Sinne auslegen. Also konnte sie ihm auch genauso gut die Wahrheit mitteilen. Vielleicht hatte er ja sogar eine Idee, dann hatte sich der Punkteabzug wenigstens gelohnt.

Innerlich mit den Schultern zuckend und sich zur Ruhe zwingend, hob sie den Kopf und sah ihn an. „Ich bin hier, weil ich versucht habe herauszufinden, wo all die Leute aus den Gemälden sind."

Sein Blick hielt sie fest, zwang sie, sich ihm zu stellen. Offensichtlich war er verblüfft, denn er musterte forschend ihr Gesicht, suchte nach Anzeichen eines Streiches oder einer Frechheit. Doch er fand nichts, und seine Augen glitten von ihr zu den Bildern, und er sah sie sich an, immer eines nach dem anderen.

Schließlich lief er sogar ein paar Schritte den Gang hinunter und überprüfte alle anderen Gemälde in diesem Korridor. Dann drehte er sich wieder zu ihr um. „Ich gehe davon aus, dass es nicht ein alberner Scherz von Ihrer Seite aus oder der Ihrer Hausgenossen ist, Miss Granger?"

Sie verzog kurz den Mund. „Glauben Sie, dafür würde ich riskieren, von Ihnen erwischt zu werden?" Er fragte sich kurz, ob sie wusste, dass er heute Abend unterwegs sein würde, doch andererseits musste er ihr Recht geben. Sie war zu intelligent, um für etwas, das nicht einmal witzig war, Punkte zu riskieren.

Eine steile Falte erschien auf seiner Stirn. „Wann ist es Ihnen das erste Mal aufgefallen?", fragte er ohne seine übliche Häme oder Spott.

„Vorgestern Abend", gab sie zu. „Da habe ich mir noch nichts dabei gedacht, aber als sie dann gestern auch noch weg waren, habe ich Professor McGonagall darauf hingewiesen, doch sie…"

„Miss Granger! Sie sollten sich wirklich angewöhnen, nur die Fragen zu beantworten, die auch gestellt wurden", unterbrach er sie scharf. „Das ist nämlich auch eine Regel des sozialen Miteinanders, die Sie verinnerlichen sollten. Leute machen das so, sie stellen eine Frage, weil sie etwas wissen wollen. Sie erwarten keinen zweistündigen Vortrag!"

Leute machten das so… Sie hätte beinahe abfällig geschnaubt. Was wusste Professor Snape schon davon, was Leute machten? Fast hätte sie sich zu einem Seufzen hinreißen lassen. Sie musste auch das Pech haben, ausgerechnet der Fledermaus über den Weg zu laufen. Es war in ihren Augen wirklich fantastisch, dass er Naginis Biss überlebt hatte, sie gönnte es ihm von ganzen Herzen.

Aber nicht für einen Augenblick hätte sie gedacht, dass er ebenso wie sie nach Hogwarts zurückkehren würde. Da sie ab und zu Eulen mit Madam Pomfrey austauschte, hatte sie alles über seine Genesung gewusst und durch die Medien war es niemanden in der gesamten Zaubererwelt vergönnt gewesen, nichts über den Prozess gegen den Spion und Ex-Schulleiter zu erfahren.

Anfangs war die Stimmung so aufgeheizt und ihm gegenüber feindselig gewesen, dass die Auroren ihn mit Ignorierzaubern und unter schwerster Bewachung vor den Zaubergamot brachten. Aber um so länger sich der Prozess hinzog, um so mehr Details aus seinem Leben bekannt wurden, die Reihe der Zeugen, die zu seinen Gunsten aussagte, immer länger wurde, um so mehr wandelten sich die Meinungen und Ansichten der Zeitungen und der Bevölkerung, und schließlich gab es frenetischen Jubel, als er freigesprochen wurde.

Es bildeten sich Fanclubs, und überall in London und anderen großen Städten konnte man junge Männer und junge und nicht mehr ganz so junge Frauen mit Ansteckern herumlaufen sehen, die sein Konterfei zeigten, welches sich plötzlich in dutzende Fledermäuse verwandelte, die aus dem Button heraus stoben und einen grün-silbernen Streifen hinterließen, die die Worte Bat-Girl oder Bat-Boy bildeten, je nach Geschlecht des Groupies.

Wenn man es genau betrachtete, war Hogwarts eigentlich die einzige Wahl, die er hatte, dachte Hermione und beobachtete ihren Lehrer, der, offensichtlich tief in Gedanken versunken, vergessen hatte, dass er ihr ja noch das Leben schwer machen musste. Hier gab es keine kreischenden Mädchen, die hinter ihm herliefen, sobald er auf die Straße trat oder keine freudestrahlenden Männer, die versuchten, ihn auf einen Drink einzuladen.

Okay, kreischen taten die Mädchen hier auch manchmal seinetwegen, überlegte sie spöttisch, aber bestimmt nicht vor Begeisterung. Plötzlich wirbelte er zu ihr herum. „Was stehen Sie noch hier herum, Miss Know-it-all? Scheren Sie sich ins Bett, bevor ich meine guten Umgangsformen vergesse!"

Das war ein Witz. Das musste ein Witz sein. Snape und Umgangsformen? Und dann auch noch gute? Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Mundwinkel zuckten, als sie ihn anstarrte, und ihre Augen zu glänzen begannen. Er trat drohend auf sie zu. „Einen Ton", warnte er. „Und jetzt ab mit Ihnen, oder Gryffindor kann morgen von vorne anfangen!"

So schlimm wäre das auch wieder nicht, dachte Hermione, als sie sich umdrehte und in lockerem Lauf davon trabte. Immerhin war das neue Schuljahr erst zwei Monate alt, und die Slytherins, Ravenclaws und Hufflepuffs konnten sie bei dem jetzigen Punktestand problemlos wieder einholen.

Snape sah ihr hinterher, und seine Lippen kräuselten sich leicht vor Amüsement.

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Es half nichts, sie musste in die Bibliothek. Wenn sie irgendwo fündig wurde, dann dort. Es war Sonntag früh, noch nicht einmal acht Uhr, doch Hermione hielt es nicht mehr im Bett. Sie hatte, bevor sie eingeschlafen war, über die Bilder nachgedacht, doch sie war zu keinem Ergebnis gekommen. Sie musste recherchieren.

Es war das einzige, was sie hier in Hogwarts wirklich störte. Dass sie niemanden mehr hatte, mit dem sie sich austauschen konnte. Natürlich, sie kannte alle, doch mit keinem teilte sie die große Vertraulichkeit wie mit Harry und Ron. Und Ron selbst schmollte im Moment mit ihr, weil sie ihm mitgeteilt hatte, dass es so mit ihnen nicht funktionierte.

Sie seufzte, als sie die schwere Tür zur Bibliothek aufstieß. Es musste selbst ihm klar gewesen sein, dass sie eher eine Geschwisterliebe denn die große Leidenschaft verband, doch es kränkte ihn in seiner Eitelkeit, dass sie es war, die pragmatisch die Notbremse gezogen und ihre Beziehung beendet hatte.

Madam Pince nickte ihr knapp zu, als sie eintrat und widmete sich dann wieder ihrer Aufgabe, was auch immer das sein mochte. Sie wusste genau, dass Hermione sich hier fast genauso gut auskannte wie sie selbst und dass sie nicht von ihr belästigt werden würde.

Einen Augenblick stand Hermione unschlüssig da und sinnierte, dann straffte sie sich und ging in die Abteilung der magischen Geschichte. Wenn es jemals vorgekommen war, dass Bilder für längere Zeit von ihren Bewohnern verlassen wurden, dann musste das irgendwo vermerkt sein.

Die Geschichte Hogwarts sparte sie sich – das Buch kannte sie auswendig. Mit zurückgelegtem Kopf studierte sie die Titel der höher stehenden dicken, in Leder gebundenen Bände. Als die Bilder laufen lernten von Louis Daguerre erschien ihr viel versprechend, und sie stellte sich auf Zehenspitzen und streckte den Arm aus, um es herunter zu holen.

Mit einem Wusch zischte etwas Schwarzes vorbei und nahm ihr eben dieses Buch direkt vor der Nase weg. Hermione erschrak und tastete nach ihrem Zauberstab, doch im Bruchteil der Sekunde erinnerte sie sich an die gestrige Begebenheit, und sie ließ ihn stecken und drehte sich langsam herum.

„Respekt, Miss Granger", murmelte Snape abwesend, der ihr Buch in der Hand hielt und sie nicht einmal eines Blickes würdigte. „Sie sind ja doch lernfähig. Kaum kenne ich Sie acht, neun Jahre, muss ich es auch einmal zugeben."

Zorn schnürte ihr die Kehle zu, und das war ganz gut, denn sonst hätte sie sich bestimmt zu einer nicht sehr wertvollen verbalen Entgleisung hinreißen lassen. So jedoch zählte sie innerlich langsam bis zehn und mühte sich um einen höflichen Ton. „Auch Ihnen einen schönen guten Morgen, Sir", sagte sie betont ruhig. „Würden Sie mir bitte dieses Buch geben? Ich wollte es gerade holen, als Sie es mir – sicherlich unbeabsichtigt – wegnahmen."

Jetzt hatte sie seine Aufmerksamkeit. „Ich tue nie etwas unbeabsichtigt, Miss Granger, das sollten Sie im Laufe der Jahre gelernt haben. Und ich habe dieses Buch genommen, damit Sie es nicht bekommen. Ich fürchte, Sie haben vor, Ihre neugierige Nase wieder in Dinge zu stecken, die Sie nichts angehen. Sorgen Sie sich darum, einen Abschluss von 1000 Prozent zu erreichen und überlassen Sie es mir, mich um die Gemälde zu kümmern."

Hermione ballte die Fäuste. Sie hatte dieses Problem entdeckt, und es musste schon mehr kommen als eine miesepetrige Fledermaus aus dem Kerker, um sie davon abzuhalten, ihre Nase da rein zu stecken, wie es besagte Fledermaus auszudrücken pflegte. „Sir, hier gibt es bestimmt noch ein Dutzend anderer Bücher, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Haben Sie jetzt vor, mir alle wegzunehmen oder mir dir Bibliothek zu verbieten? Das wäre nicht fair, wissen Sie?"

Sie hatte nicht übel Lust, ihm das höhnische Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. „Fair ist mein zweiter Vorname", schnurrte er. „Und Sie haben Recht, ich verweise Sie für heute aus der Bibliothek. Ich habe eine gewisse Fürsorgepflicht Ihnen gegenüber, und da ich weiß, dass Sie eindeutig zu viel arbeiten, bekommen Sie für heute die Order, sich zu erholen. Sollte ich Sie im Laufe des Tages irgendwo beim Lernen oder Arbeiten antreffen, sehe ich mich leider gezwungen, drastische Maßnahmen gegen Sie zu ergreifen."

„Das können Sie nicht ernst meinen! Das… ich… das macht man einfach nicht!", platzte es aus ihr heraus.

„Miss Granger! Möchten Sie mir wieder einen Vortrag darüber halten, was Leute machen oder nicht machen? Ich bin daran nicht interessiert. Und jetzt gehen Sie, bevor ich die Punkte Ihres Hauses reduziere!"

Ihr mühsam im Zaum gehaltener Zorn kochte über. „Eine Regel des sozialen Miteinanders kann ich Ihnen ganz unverbindlich mitteilen, Professor! Wenn man eine Drohung oft genug wiederholt, verliert sie ihre Wirkung! Auf Wiedersehen!" Sie wirbelte herum und stürmte davon, ohne auf die aufgebrachte Madam Pince zu achten, die ihr empört nachsah.

Severus Snape lachte leise.

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Hermione hatte sich an den See zurückgezogen. Vor lauter Wut hatte sie beim Frühstück keinen Bissen herunterbekommen, aber dafür hatte sie eine bessere Idee gehabt. Sie war zu Dennis Creevey gegangen und hatte ihn gefragt, ob er einen Louis Daguerre kannte – und wenn ja, ob er zufällig seine Werke besaß und sie auch noch hier hatte.

Dennis, der zwar nicht ganz so fotoverrückt wie sein älterer Bruder Colin war, hatte dennoch alle ihre Fragen mit Ja beantworten können. Und so saß sie jetzt an ihrem Lieblingsplatz an eine Trauerweide gelehnt, das schwere Buch von Louis Daguerre auf ihrem Schoß. Vom Schloss aus war sie nicht zu sehen, und nur wer sich ihr direkt von der Seite näherte, konnte sie entdecken.

Bis dahin würde sie viel Zeit haben, den Wälzer zu schrumpfen und verschwinden zu lassen. Sie blätterte im hinteren Teil des Buches, dort, wo auf Fehler und Probleme hingewiesen wurde. Sie starrte auf ein leeres Blatt. Verblüfft hob sie ihren Kopf und sah abwesend auf den See hinaus, wo ein paar Wassermenschen den milden Novembertag nutzten, um den Riesenkraken zu ärgern.

Als sie wieder auf das Buch sah, formten sich vor ihren Augen Schriftzeichen. Willkommen!, stand da. Was möchten Sie wissen? Wie kann ich Ihnen helfen?

Wow!, dachte sie beeindruckt, aber auch unangenehm berührt. Natürlich war es in der Zaubererwelt möglich, mit dem Geist eines Autoren zu kommunizieren, doch gleichzeitig rief es auch die Geschehnisse ihres zweiten Schuljahres zurück, als Harry über das Tagebuch mit der Erinnerung des jungen Tom Riddle gesprochen hatte.

Hermione sah sich um, doch die Ländereien von Hogwarts lagen verlassen da. Sie konnte von ihrem Platz aus Rauch aus dem Kamin von Hagrids Hütte aufsteigen sehen, ansonsten bewegte sich nichts. Aus ihrer Tasche entnahm sie eine Feder und überlegte kurz.

Was kann die Personen von Gemälden veranlassen, ihre Bilder für längere Zeit zu verlassen?, schrieb sie dann sorgfältig.

Definieren Sie längere Zeit!, kam sofort eine Reaktion.

Mindestens drei Tage, antwortete sie.

Ihre Buchstaben verblassten, und das Blatt lag wieder rein und weiß vor ihr. Sie wartete. Nach gut fünf Minuten seufzte sie. Offensichtlich konnte ihr nicht einmal der Erfinder der Fotografie eine Antwort auf diese Frage geben.

Sie wollte gerade aufgeben und das Buch zuklappen, als erneut die dunkle Schrift auftauchte, dieses Mal krakeliger, als ob jemand dringend und in Eile geschrieben hätte.

Sie müssen verstehen, dass die Personen in einem Bild nicht tatsächlich tot oder lebendig sind, hieß es da. Wenn es nur Menschen oder Lebewesen der Phantasie sind, also nie real existiert haben, besitzen sie nicht einmal eine eigene Art von Bewusstsein, trotz des Zaubers, der dafür sorgt, dass sie sich bewegen und sprechen können. Sie müssen erst im Laufe der Zeit „lernen", so dass sie irgendwann auch eigene Charaktere „entwickeln".

Ein soeben entstandener gemalter Ritter beispielsweise, der nicht auf einer realen Person basiert, wird nicht fähig sein, mehr als ein paar höfliche Floskeln von sich zu geben, wie man sie von ihm einem Edelfräulein gegenüber erwarten kann. Ein Ritter jedoch, der schon einige Jahrzehnte oder gar Jahrhunderte existiert, hat eine ganz eigene Persönlichkeit.

Hermione dachte an Sir Cadogan und musste dem Buch zustimmen.

Ganz anders hingegen ist es mit Leuten, die tatsächlich einst existierten. Sie haben ein Bewusstsein und sie denken und handeln, wie sie es auch schon zu Lebzeiten getan haben. Wenn jetzt also alle Lebewesen aus den Bildern verschwunden sind, muss es mit so einer einst echten Person zu tun haben. Er oder sie muss dafür gesorgt haben, dass alle anderen auch verschwunden sind, oder jemand aus der realen Welt ist dafür verantwortlich.

Aber was könnte der Grund dafür sein?, schrieb Hermione.

Eine tatsächliche oder eingebildete große Gefahr, lautete die Antwort.

Was könnte gemalten Personen denn gefährlich werden?, dachte sie und schrieb das auf das weiße Blatt.

Etwas, das ebenfalls erst einmal nur als gemalte Gefahr existiert, jedoch auch real werden könnte! Umso mehr Antworten sie erhielt, umso verwirrter wurde Hermione und noch mehr Fragen tauchten auf.

Ist so etwas schon einmal vorgekommen? Gibt es Beispiele dafür?

Ich kenne nur eine Begebenheit, die sich in meinem Todesjahr 1851 zutrug: ein schwarzmagischer Zauberer namens Rasputin kreierte eine Seuche, die zuerst die Bilder und ihre Bewohner angriff und es dann schaffte, auch einen Weg in die reale Welt zu finden. Zu jener Zeit sind in St. Petersburg sehr viele Leute gestorben, bis es dem Ermittler des Zaren, dem mächtigen Magier Tscherlok Cholmov gelang, Rasputin zu stoppen.

Verdammt! Hermione klappte das Buch zu und überlegte. Sie wusste, dass in allen Bereichen, zu denen sie Zugang hatte, keine Personen mehr in ihren Bildern waren. Sie hätte zu gern gewusst, ob auch die ehemaligen Direktoren ihre Gemälde verlassen hatten.

Sie schrumpfte das Buch, sprang auf und rannte ins Schloss. Schlitternd kam sie vor den Wasserspeiern, die den Eingang zum Schulleiterbüro bewachten, zum Stehen. Als Headgirl kannte sie das Passwort: „Culloden", murmelte sie, und scheinbar missmutig knirschten die steinernen Bewacher zur Seite und gaben den Weg zu der sich drehenden Wendeltreppe frei.

Hermione atmete tief durch und klopfte an die Tür. „Herein!", rief Professor McGonagall. Sie stand vor ihrem Schreibtisch und beugte sich über ein Buch, welches Professor Snape darauf abgelegt hatte. Mit einem langen, schmalen Finger deutete er auf eine Stelle, die sie offensichtlich lesen sollte.

Snapes Augen verengten sich, als er Hermione ansah. „In Ihrem Interesse, Miss Granger", schnarrte er, „hoffe ich doch sehr, dass Sie nicht die Direktorin belästigen wollen. So etwas tun Leute nämlich nicht!"

Sie hatte den Eindruck, er mache sich über sie lustig, doch dann beschloss sie, ihn zu ignorieren. Immerhin war sie hier, weil sie Professor McGonagall sprechen wollte, nicht, um sich von ihm provozieren zu lassen. Dumm war nur, dass er jetzt mitbekommen würde, dass sie ebenfalls weiter recherchiert hatte.

Ihr Blick blieb an den Bildern der ehemaligen Schulleiter hängen, und sie erstarrte. Sie waren fort – alle. McGonagall war ihrem Blick gefolgt. „Ja, Miss Granger", sie seufzte. „Ich weiß, dass ich Ihnen nicht zugehört habe, und es tut mir Leid. Severus – Professor Snape - hat mir von Ihrem Gespräch gestern Abend berichtet."

Hat er Ihnen auch von den 30 Punkten Abzug erzählt?, dachte Hermione ein wenig respektlos. Außerdem weiß ich genau, wer Severus ist. Außer Snape ist ja wohl keine andere männliche Person in diesem Raum.

„Er hat mir auch mitgeteilt, dass Sie beide auf denselben Gedanken gekommen sind und sich dasselbe Buch ausleihen wollten." Diesmal gelang es Hermione nicht so gut, ihre Gesichtszüge zu kontrollieren, denn Snape zeigte etwas, das einem angedeuteten Lächeln erstaunlich nah kam.

„Ich war nur etwas schneller als Miss Granger", sagte er ruhig.

„Und haben Sie etwas herausgefunden?", fragte Hermione.

„Hatten Sie nicht die Anweisung, sich da herauszuhalten?", entgegnete er.

„Wenn Sie schon einmal da sind, können Sie es auch genauso gut lesen", warf McGonagall ein und winkte Hermione zu sich.

Sie stellte sich neben die Direktorin und warf einen Blick auf die Seite. Es war das gleiche Buch, welches sie geschrumpft in der Tasche trug, und es war in etwa der Mitte aufgeschlagen.

Wenn plötzlich Personen für länger als zwei Tage ihre Gemälde verlassen, stand da, ist höchste Aufmerksamkeit geboten. Es heißt, die Bewohner von Bildern sind sensible Warner für Katastrophen und Unglücke, für die Gefahren dieser Welt. Man sollte alles unternehmen, um sicher zu stellen, dass nichts Unvorhergesehenes passieren kann.

Offensichtlich hatte sich Snape systematisch durch das Buch gearbeitet und war auf diesen Abschnitt gestoßen. Sie sah hoch und direkt in seine Augen, die er wachsam auf sie gerichtet hielt. „Und was haben Sie entdeckt, Miss Granger?", fragte er und senkte seinen dunklen Bariton, so dass sie das Gefühl hatte, ihre Härchen stellten sich auf.

Sie versuchte, unschuldig zu schauen und scheiterte kläglich. „Wie sollte ich denn, Sie hatten mich ja aus der Bibliothek geworfen, Sir!"

McGonagall horchte auf. „Ist das wahr, Severus?"

„Ich machte mir Sorgen um Miss Grangers Gesundheit, Minerva", antwortete er glatt. „Sie arbeitet eindeutig zu viel!"

„Ist das so, Severus?" Sie zeigte ein schmallippiges Lächeln, als sie sich wieder Hermione zuwandte. „Also, ich gehe doch davon aus, dass Sie die Frage von Professor Snape beantworten werden?"

Hermione wurde rot, holte das Buch aus der Tasche und vergrößerte es wieder. Snapes Augen wurden schmal, als er es erblickte, dann fluchte er, als sie ihn schief anlächelte. „Merlins Ei…", er verschluckte sich. „Ich hätte es mir ja denken können! Also sind Sie zu demselben Ergebnis gekommen wie wir?"

Hermione erklärte, was sie von Daguerre erfahren hatte. Snape hockte sich auf die Tischkante und blätterte geistesabwesend durch die Seiten. Professor McGonagall strich sich über ihre grauen Haare. Ihre Augen blickten müde. „Also wissen wir, dass etwas passieren wird, aber nicht was? Und warum? Und woher es kommt? Wie soll man sich auf etwas vorbereiten, wenn man keine Ahnung hat, was es sein könnte?"

„Vielleicht hat ja die außergewöhnliche Miss Granger einen Vorschlag?", murmelte Snape.

Sie nahm ihn nicht ernst. Er hänselte sie, das war sie gewohnt. Würde sie jetzt antworten, würde er ihr nur über den Mund fahren. Doch dann sah sie auf all die leeren Rahmen und ein Gedanke nahm Gestalt an.

„Wir müssten mit einem von ihnen reden können", murmelte sie.

McGonagall schrak aus ihren Gedanken, genauso wie Snape. „Wie denn, wenn sie fort sind?", warf die Schulleiterin ein.

Hermione streckte die Hand aus und deutete auf ein Bild, unter dem ein bekannter Name stand: Phineas Nigellus Black.

„Grimauldplatz 12", sagten sie und Snape wie aus einem Mund.