Sie saß an einem Tisch im hinteren Teil des Raumes. In ihrem roten Kleid. Ganz allein. Nur die Musik spielte noch. Ansonsten war es still. Das gefiel ihr. Genau das was sie jetzt brauchte. Allein sein. Allein mit der Musik.

Sie musste nachdenken. Sich über so vieles klar werden.

Was soll ich bloß tun? Ich kann es Vater nicht sagen. Nein. Er wäre fürchterlich wütend. Er würde sagen: Komm mir niemals wieder unter die Augen, Kind. Aber ich muss mit Charles reden. Ja. Ihm muss ich es zumindest sagen. Nein. Nicht alles. Das kann ich nicht machen. Aber ich muss mit jemandem reden. Vielleicht... was ist denn mit Adam? Nein. Er würde mich auch nicht verstehen. Adam bestimmt nicht. Er würde mich hassen.

Niemand konnte sie verstehen. Es stimmte sie traurig, dass all die Menschen, die sie ihr Leben lang geschätzt hatte, sie nicht verstanden. Warum war sie bloß so anders als sie. Sie hatte niemandem mit dem sie noch reden konnte. Auch wenn Tony ihr immer zuhörte und behauptete zu wisse wie sie sich fühle.

Was weiß Tony schon? Für ihn ist das alles viel einfacher. Er hat nicht so eine Familie. Nein. Nicht so eine.

Aber jetzt werde ich meiner den Rücken zukehren müssen. Ich muss es ihnen sagen. Gerade jetzt, wo Tony und ich...

Ein plötzliches Geräusch ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken

Ist da jemand an der Tür?

Komisch. Sie war sich ganz sicher gewesen, dass alle anderen schon gegangen waren. Ängstlich spähte sie durch die Dunkelheit und versuchte die schattenhafte Gestalt an der Tür besser zu erkennen.

Wer kann das nur sein?

Die Musik wirkte plötzlich schrill. Die sonstige Stille drückend. Sie begann zu frösteln und plötzlich wurde ihr bewusst, dass es schon spät sein musste. So spät und sie saß hier allein. Allein mit dem Fremden an der Tür.

Doch dann trat der Mann ins spärliche Licht, das durch die großen Fenster hereinfiel. Endlich konnte sie ihn erkennen. Sie beruhigte sich wieder.

"Was machst du noch hier?", fragte er sie verwundert.

"Das könnte ich dich ebenso gut fragen"

"Ja. Um ehrlich zu sein, fragte ich mich, wo du bleibst und da bin ich noch mal zurück gekommen."

"Oh, das tut mir leid." Damit hatte sie nicht gerechnet. Aber auch wenn sie sich schuldig fühlte, nicht gleich nach hause gegangen zu sein, war sie wütend über seinen anklagenden Tonfall.

Sonst sorgst du dich doch auch nicht um mich? Sonst bin ich dir doch auch herzlich egal.

"Ich war so in Gedanken, die Musik ist so schön und da habe ich wohl die zeit vergessen. Wie spät ist es denn?"

"Schon nach halb elf. Aber wo wir schon mal beide hier sind..." Er kam ein paar Schritte auf sie zu und hielt ihr die Hand hin.

"Darf ich um diesen Tanz bitten, Madame?"

Gerade begann ein neues Lied zu spielen. Ein Tango. Ihr Lieblingstanz.

Auch das wird Tony nie verstehen. Ich liebe den Tango. Das wird er nie verstehen. Das Tanzen kann ich nicht für ihn aufgeben. Das würde ich niemals. Das ist der Grund, warum ich Vater nichts sagen kann. Ich will weiter tanzen.

Elegant erhob sie sich und reichte ihrem Partner die Hand.

"Okay, einen Tango. Nur für dich."

Nein. Das stimmt nicht. Der Tanz ist nicht für dich. Er ist für mich. Der Tanz ist das einzige was ich noch mit dir teile. Früher ist das nicht so gewesen. Schade. Eigentlich schade.

Er zählte ein und schon schritten sie gemeinsam über das Parkett. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie ihre Tanzschuhe nicht mehr trug. Sie hatte sie vorhin ausgezogen, weil ihr die Füße weh getan hatten.

Ohne Schuhe war sie einen ganzen Kopf kleiner als er. Während sie völlig in die Musik versunken war, blickte er von oben auf sie herab.

Ein Tango, nur für mich? Nein. Mein Herz, diesen Tanz lass uns dir widmen. Es wird dein letzter sein.

Langsam rutschte ein kleiner Dolch aus seinem rechten Jackettärmel.

Erst bemerkte sie nichts. War arglos. War wie in Trance und hatte alles um sich herum vergessen.

Doch dann spürte sie plötzlich, dass sich etwas verändert hatte. Seine Hand. Er hatte den Griff an ihrem Rücken gelockert. Nein. Er hatte die Hand sogar ganz weg genommen. Verwundert blickte sie zu ihm auf.

Er lächelte sie an. Lächelte und stieß ihr den Dolch in den Rücken.

Blut lief über seine Hand. Blut, so rot wie ihr Kleid.

Ihr lebloser Körper sank über seinen Arm. Ihr Mund war in leichter Überraschung geöffnet und ihre weit geöffneten Augen starrten ihn irritiert an, als würde sie jeden Moment fragen Warum? Warum hast du das getan?