Drittes Zeitalter, 2941 Jahr der Zeitrechnung

Rhovanion, Erebor

Winter

Das Stampfen und Dröhnen tausender Schritte hallte über die Ebene, brach sich an den Hängen des Einsamen Berges und wurde um ein Vielfaches verstärkt wieder zurückgeworfen. Es waren die Schritte der Angreifer, die sich wie eine dunkle Welle über den Kamm des Rabenberges schoben und im aufgleisenden Licht der Abendsonne lediglich als schwarze Umrisse sichtbar wurden. Die Truppen der Menschen, Elben und Zwerge hielten unwillkürlich den Atem an, als ihnen bewusst wurde, welche Masse an Gegnern sich hier auf sie zu wälzte und die vorsichtige Euphorie, die sich noch bis vor wenigen Minuten unter den Verteidigern gehalten hatte, verschwand schlagartig.

Ein eisiger Wind fauchte über die Hänge und trug den Geruch der Angreifer zu ihnen hinüber – eine Mischung aus gefettetem Leder, Metall, Rost und blakenden Pechfackeln, dazu die Ausdünstungen unzähliger Scheusale aus den Tiefen des Nebelgebirges und der schwarzen Festung Dol Guldur. Es waren Horden aus Orks, Wargen und Goblins, die sich zusammengerottet hatten um den schutzlosen Berg unter ihre Herrschaft zu zwingen, nun nachdem der Drache tot und die Zahl der Gegner überschaubar war.

Der Anblick der schwarzen Reihen, die sich nun über den Ausläufer ergossen und Meter für Meter auf die Flanke des Berges zuhielten, machte Thorin Eichenschild keine Angst. Er empfand lediglich heißen Zorn, der bereits lange in ihm brodelte und sowohl durch die Unauffindbarkeit des Arkensteins als auch die Dreistigkeit der Menschen und Elben geschürt worden war, die allen ernstes glaubten, den scheinbar schutzlosen Hort zu erobern. Er wäre auch gegen sie gezogen – sein Vetter Dáin Eisenfuß, König des sechsten Zwergenstammes der Eisenberge, war vor wenigen Tagen mit einem Heer eingetroffen, das nicht weniger als zweitausend Krieger fasste. Am Morgen hatte der Herrscher die Aufstellung befohlen und Thorin hatte gegenüber den Vertretern der Völker mehr als deutlich gemacht, dass er nicht gewillt war, den Erebor wieder herzugeben.

Sowohl die Menschen als auch die Elben hatten gezögert, was sich für die Beteiligten als Glücksfall erwies. Denn am Nachmittag waren die Adler gekommen und mit ihnen der Graue Zauberer, der die Kunde verbreitet hatte, ein gewaltiges Heer dunkler Kreaturen befände sich auf den Weg gen Norden. Der Umbruch erfolgte rasch und statt gegenüber standen die Belagerer nun auf derselben Seite wie die Zwergenkrieger. Thorin war es nur recht. Jetzt, da sich die Fronten so plötzlich geändert hatten fand er endlich ein Ziel, auf das er ungebremst seine ganze Wut richten konnte.

Die Waldelben hatten an der Westflanke Aufstellung genommen, da die Bogenschützen dort ein relativ freies Schussfeld hatten; die Menschen und ein Teil der Eisenbergzwerge deckten die Ostflanke. Die verbliebenen zwei Drittel von Dáins Heer bildeten den inneren Ring, in dessen Zentrum sich die kleine Schar befand, die der König des Erebor zu seiner Queste gerufen hatte. Ihre Stellung lag auf dem höchsten Punkt des steinernen Torweges, der sich bis zum Eingangsportal des Einsamen Berges erstreckte und von dem aus man einen relativ guten Blick über das Schlachtgeschehen haben würde.

Sein Vetter hatte ihn mehrfach bedrängt, die Krieger an der Front zu führen, doch Thorin hatte abgelehnt. Sie hatten so hart gekämpft, so viele Entbehrungen auf sich genommen. Er und seine Männer sollten die letzte Bastion sein, die letzte Verteidigungslinie vor dem Eingang in das siebte Zwergenreich. Es hatte in Thorins Augen nichts mit Feigheit zu tun; wenn sie an dieser Stelle fielen, war sowieso alle Hoffnung dahin. Dann jedoch hatten sie das Reich wahrhaftig bis zum letzten Mann verteidigt.

Der Griff Orcrists, der Elbenklinge, lag locker in seiner Hand. Es war ein Zugeständnis des Elbenkönigs gewesen, der ihm die Waffe samt Schwertgehänge vor weniger als zwei Stunden wortlos in die Hand gedrückt hatte, nachdem er sie den Zwergen mit sämtlichen weiteren Waffen im Waldlandreich abgenommen hatte. Nicht nur das – sie alle hatten ihre Schwerter, Äxte, Streithämmer, Messer und Dolche zurückerhalten. Sogar Kílis Bogen war nicht bei den Elben verblieben, sondern lag nun in den Händen seines jüngeren Neffen, der mit angespanntem Gesichtsausdruck zu seiner Rechten stand. Links wurde er von Fíli flankiert, der seine Schwerter noch nicht gezogen, sie jedoch wohlweislich bereits in ihren Scheiden gelockert hatte. Auch die Züge des hellhaarigen Zwerges wirkten wie in Stein gemeißelt, als er den Blick über die sich rasch nähernden Truppen schweifen ließ.

Es erschien Thorin noch immer unglaublich, dass die beiden den Sturm des Drachen über Esgaroth überlebt hatten; überhaupt, dass sie alle hier standen. Lediglich einer fehlte – der Hobbit war bereits seit geraumer Zeit verschwunden und im Grunde seines Herzens wundert es den König nicht. Nach seiner anfänglichen Skepsis hatte er tatsächlich angefangen für Bilbo Respekt zu empfinden, doch dies war vorbei, als dieser sich offen gegen seine Entscheidung stellte und darauf beharrte, sowohl mit Thranduil, als auch Bard zu verhandeln. Sie hatten sich im Streit getrennt und Thorin weinte ihm bis zu diesem Augenblick keine Träne nach.

Ein Rufhorn erscholl und riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. Der Blick seiner wasserblauen Augen wanderte hinab in das Tal und er erkannte, dass der Sturm begonnen hatte. Die erste Welle der Angreifer brandete gegen die Westflanke und der Pfeilhagel der Elben verdunkelte für einen Moment den Himmel, ehe die tödlichen Geschosse auf die Feinde niedergingen und blutige Ernte hielten. Ein zweiter folgte, ein dritter, dann waren die verbliebenen Orks so nah heran, dass die Distanz zu kurz wurde und sie sich auf ihre Klingen verlegten. Metall klirrte ohrenbetäubend und die Schreie der Sterbenden und Verwundeten schwollen mit jeder Sekunde an. Zu dem Geruch von Eisen und Feuer gesellte sich nun auch das bittere Aroma von Blut, das sich wie ein unangenehmer Geschmack auf der Zunge festsetzte. Die untergehende Sonne tauchte die Szenerie in ein grelles, rotes Licht und verlieh ihr etwas Unnatürliches.

Unwillkürlich packte der König das Schwert nun doch fester, auch wenn die Kämpfe noch ein gutes Stück entfernt waren und es geraume Zeit dauern würde, bis die Scharmützel zu ihnen vordrangen. Dwalin, der sich unweit von Thorin befand, nahm dies als Zeichen und befreite die Zwillingsäxte aus den Holstern auf seinem Rücken. Nach und nach erklang das Schaben von Metall auf Holz und Leder, als die übrigen elf Zwerge seinem Beispiel folgten. Der Anführer wandte sich um und sah jeden einzelnen von ihnen einen Moment lang an.

„Wir haben viel durchlitten und hart gekämpft, um unsere Heimat zurück zu bekommen. Nun stehen wir vor der letzten Entscheidung. Lasst nicht zu, dass sie die Linien durchbrechen und die Hallen unserer Vorväter vernichten."

Er reckte Orcrist in die Höhe. Das verglühende Licht brach sich auf der Schneide und ließ sie aufblitzen.

„Für das Volk der Zwerge! Für die Linie Durins!", rief er laut und ein Kampfruf erklang aus zwölf Kehlen, der sich zu einem vereinte und für Sekunden über dem Torweg schwebte.

Sie waren bereit.


Das Gemetzel auf der Hauptstraße begann etwa eine Stunde vor Mitternacht, als die Reihen der Verteidigung an der Ostflanke endgültig durchbrochen wurden. Die erste Angriffswelle war größtenteils an den Schwertern und Dolchen der Elben abgeprallt und schließlich hatten sich die Orks zurückgezogen, um die Verluste in den eigenen Truppen nicht noch weiter zu vergrößern. Als nächstes hatten sie die Wargreiter ausgeschickt, die die Ostflanke bestürmten, auf deren Höhe sich die Menschen aus Esgaroth positioniert hatten, gedeckt von den Eisenbergzwergen. Die riesenhaften Wolfskreaturen hatten einen Sturmangriff gewagt und waren einfach über die Phalanx der Krieger hinweg gefegt.

Weder die Menschen, noch die Zwerge hatten der Vielzahl etwas entgegen zu setzen und den Orks gelang ein erster Vorstoß, als sie die Truppen der Seestadt überrannten. Bard hatte alle Hände voll zu tun gehabt, die versprengten Krieger neu zu formieren und einen Widerstand zu organisieren, der den Vormarsch zumindest aufhalten konnte, bis Verstärkung durch die Zwerge heran war. Letztendlich hatten sie es nur mit einem keilförmigen Angriff von der Seite geschafft, die Linie der Gegner zu durchbrechen und in den Pulk vorzudringen, um die Bestien von innen heraus zu schlagen. Es war eine wahnwitzige Aktion und am Ende des Gefechts hatte die Ostflanke ein Viertel ihrer Verteidigung verloren.

Die Bestien hatten diesen Umstand erkannt und die dritte Angriffswelle folgte prompt. Kurze Zeit hielt der Widerstand noch, doch dann brach die Abwehr zusammen und die schwarz Gerüsteten drangen bis in die Reihe der Zwergenkrieger vor und stürmten den Torweg hinauf.

Als Thorin sah, dass die Truppen kamen, hatte er nicht länger gezögert.

„Baruk khazad ai-menu*!", erscholl der alte, zwergische Kriegsruf aus seinem Mund, ehe er vorangestürmt war.

Seine Schritte hatten sich von alleine beschleunigt, hatten ihn auf die noch kleine Gruppe Orks zuhalten lassen, die den felsigen Untergrund empor gerannt kam, die eisenbeschlagenen Sohlen bei jedem Schritt laut dröhnend. Noch ehe er den Vordersten erreichte, war die Kreatur plötzlich in die Knie gebrochen und nach hinten gekippt. Einen halben Herzschlag später folgte der zweite und Thorin hatte am Rande die Pfeile wahrgenommen, die wie hineingezaubert aus den hässlichen Schädeln ragten. Kíli hatte den Beschuss aufgenommen und schickte Gegner um Gegner zu Boden. Er dankte seinem Neffen im Stillen, dann war er heran und schwang Orcrist in einer weit ausladenden Geste. Schwarzes Blut spritzte auf, benetzte sein Gesicht und rann zäh durch sein Haar. Er achtete nicht darauf.

In seinem Rücken konnte er hören, wie einer der Gefährten: „Khazad ai-menu**!", rief und er wusste, dass sie ebenfalls zum Angriff übergegangen waren.

Thorin stach, hieb, parierte, blockte und konterte nahezu automatisch. Er überließ sich seinen Instinkten, fühlte die herannahenden Hiebe mehr, als dass er sie sah und lenkte seine Waffe im entscheidenden Augenblick in die entsprechende Richtung. Er konnte nicht sagen, wie viele Scheusale bereits unter seiner Klinge gefallen waren, aber nach einer guten Stunde merkte er, wie die Muskeln in Armen und Beinen langsam schwer wurden. Er wehrte einen Speer ab, führte einen mächtigen Schlag gegen die Klaue, die diesen hielt und trennte den Arm in einem sauberen Schnitt. Die Kreatur kreischte schrill auf, umklammerte mit der unversehrten Hand den Stumpf und ging in die Knie. Thorin setzte nach, schwang Orcrist erneut und ließ den hässlichen, gedrungenen Schädel folgen.

Schwer atmend richtete er sich auf und bemerkte, dass er sich einen Moment Luft erkämpft hatte. Sein Blick irrte über die Umgebung und er versuchte, bekannte Gesichter zu entdecken, doch die Dunkelheit und heranwabernde Rauchschwaden beeinträchtigten die Sicht spürbar. Die umliegenden Kämpfer waren höchstens als schemenhafte Umrisse zu erkennen, der Kanon der Stimmen ließ nicht zu, dass man eine einzelne heraushörte. Flüchtig dachte er an Fíli und Kíli und hoffte, dass die beiden Zwerge wohlauf waren, ebenso wie Balin, Dwalin und der Rest ihrer kleinen Gemeinschaft.

Wie aus dem Nichts baute sich plötzlich ein Schatten vor ihm auf und ein tiefes, grollendes Knurren drang durch den Lärm, das eindeutig an ihn gerichtet schien. Thorin spannte sich an, seine Augen verengten sich zu Schlitzen. Er kannte die Silhouette, hatte sie in letzter Zeit viel zu oft gesehen. Erneut loderte die Flamme der Wut höher und verlieh seinem erschöpften Geist neue Kraft, als sich die Vermutung bestätigte. Die Schwaden gaben eine gewaltige, weiße Wargin frei, auf deren Rücken der bleiche Ork thronte.

Die Lippen des Erzfeindes verzogen sich zu einem triumphierenden Grinsen, als er den Zwerg gewahrte, der vor ihm auf dem Torweg stand und mit brennendem Blick zu ihm empor starrte. Die Fingerknöchel seiner Rechten traten weiß hervor, so fest umklammerte der König den Griff des Elbenschwertes. Die Geräusche der Umgebung verklangen allmählich, sein Sichtfeld verengte sich und mit einem Mal gab es nur noch ihn und den Anführer der Horde. Azogs schmale Lippen bewegten sich, er schleuderte dem Zwerg höhnische Bemerkungen entgegen, die jedoch nicht bis zu ihm vordrangen. „Stirb, Abschaum", knurrte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, ehe er einen Schrei ausstieß, der seine Wut noch befeuerte und machte einen gewaltigen Satz nach vorne.

Das Aufeinanderprallen der beiden ungleichen Gegner war so heftig, dass sämtliche Kämpfer in der Nähe inne hielten und ihre Aufmerksamkeit auf die Auseinandersetzung der Todfeinde gelenkt wurde. Für einige Herzschläge lang wurde die Ebene von einer Stille erfüllt, die angesichts des eben noch tobenden Lärms unnatürlich wirkte. Alle, egal ob Mensch oder Elb, Zwerg oder Ork verfolgten, was sich auf dem höchsten Punkt des Torweges abspielte. Ringsherum lodernde Flammennester, verursacht von den Brandgeschossen der Angreifer, tauchten die Szenerie in ein gespenstisches, unstetes Flackern und untermalten den Schlagabtausch, der nun einsetzte und vom Knurren und Geifern der wolfsähnlichen Bestie begleitet wurde. Dies war ein Kampf auf Leben und Tod, aus dem nur einer als Sieger hervorgehen würde – so jedenfalls glaubten die Kriegerinnen und Krieger. Aber es kam anders als erwartet.


Fíli, der sich knapp hundert Meter entfernt auf dem Torweg befand, hob den Kopf und erstarrte ebenso wie die übrigen Kämpfer, als er das unheimliche Schauspiel gewahrte, das sich unmittelbar vor ihm abspielte. Der Aufprall ging im Lärm der umliegenden Kämpfe unter, die draußen auf der Ebene mit ungebrochener Macht weitertobten; trotzdem schien er das Klirren des Metalls fast überdeutlich zu vernehmen, als die Schwerter der beiden Kontrahenten aufeinander prallten. Der bleiche Ork wurde vom Rücken der Wargin gerissen, die herum fuhr und nach dem Zwergenkönig schnappte, ohne ihn zu erwischen. Die Gegner verschwanden in der Dunkelheit und Fíli ließ jegliche Vorsicht fallen und rannte los.

Er hatte nur noch Augen für die Stelle, an der Thorin verschwunden war und in seinem Kopf hämmerte ein Gedanke: Er musste ihn erreichen und dafür sorgen, dass ihm nichts geschah. Er musste seinen König schützen – nein, seinen Onkel, musste um jeden Preis dafür sorgen, dass er unverletzt blieb. Die Umgebung verschwamm zu einem Schemen, die Geräusche der Kämpfe drangen wie aus weiter Ferne an seine Ohren. Niemand hielt ihn auf, die meisten Gegner waren selbst zu abgelenkt, um auf den hellhaarigen Zwerg zu achten, der sich seinen Weg durch die Reihen bahnte.

Einer jedoch schenkte dem Geschehen keine Aufmerksamkeit, sondern heftete seine schwarzen Augen auf die rennende Gestalt. Der Ork, der sich hünenhaft zwischen den Kriegern erhob, hörte auf den Namen Bolg und war kein geringerer als der Abkömmling Azogs, sowie gleichzeitig dessen Stellvertreter in der Befehlsreihe. Er erkannte den Zwerg im selben Moment wieder, als dieser sich aus dem Pulk löste und voran stürmte, offenbar um in den Zweikampf einzugreifen. Es handelte sich um einen Neffen Eichenschilds, den er bereits in der Seestadt gesehen hatte und dessen Kopf auf seiner persönlichen Liste weit oben stand.

Der Auftrag, den er von dem bleichen Anführer der Horde erhalten hatte, war klar und deutlich: Die Auslöschung des Zwergenvolkes und besonders der Erben Durins, auf das der Erebor nie wieder von einem König aus deren Linie regiert wurde. Dies war eine Gelegenheit, wie sie sich so schnell nicht wieder ergeben würde und Bolg war gewillt, sie auch zu nutzen. Mit ruhiger Hand nahm er einem seiner Hauptmänner den Bogen aus der Klaue, griff einen einzelnen Pfeil und legte ihn auf die Sehne. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, während er anlegte, zielte und spannte. Das Holz schien in seinen Händen zu vibrieren, begierig darauf, das tödliche Geschoss auf die Reise zu schicken.

Der Ork verharrte noch einen Augenblick und fixierte sein Ziel ein letztes Mal; dann öffneten sich seine Finger.


* "Die Äxte der Zwerge über euch!"
** "Die Zwerge sind über euch!"