Prolog
18. Juni x788
„Ich verstehe wirklich nicht, warum eine elegante Lady aus Fiore wie Sie darauf bestanden hat, auf eine solche Expedition mitzukommen. Es ist viel zu gefährlich für eine Aristokratin. Ausserdem ist es nicht üblich, dass solche Expeditionen von Bewohnern von Fiore, Pergrande oder Minstrel mitmachen, geschweige den anführen. Vor allem, wenn es um Valarys geht. Nur der Rat der vier Reiche unternimmt solche Expeditionen und jene, die ins Ostreich führen, sind höchst selten. Die letzte Expedition war vor mehr als fünfzig Jahren. Nein, ich kann es wirklich nicht verstehen."
Lady Ultear, eine schwarzhaarige Schönheit, die trotz der verwilderten Natur ein schlichtes, aber edles violettes bauschiges Kleid trug, mit dazu passendem Schirm, drehte sich gelangweilt zum Offizier um und sagte höflich: „General Byro, ich denke nicht, dass weitere Erklärungen nötig sind als jene, die ich ihnen schon gegeben habe. Ich habe zahlreiche Recherchen über Valarys geführt und mit meinen letzten Funden öffnet sich endlich eine Möglichkeit, das verlorene Ostreich wieder zu beleben."
General Byro konnte bloss nicken. Lady Ultear war in allen drei verbliebenen Reichen für ihre zahlreichen Recherchen über das verlorene Reich von Valarys bekannt. Es war zwar schon üblich, dass eine Aristokratin von Fiore, eine Frau, alleinstehend war und ohne Hilfe eines Ehemannes ihren Reichtum und ihr Haus führte. Aber Lady Ultear Milkovich spielte noch in einer ganz anderen Liga. Sie hatte eine riesige Kultur und ein beinah grenzenloses Wissen, vor allem was Valarys anging. Es war kein Wunder, dass der Rat sie um Hilfe gebeten hatte bei einer neuen Expedition ins leere Ostreich und dass man ihr sogar angeboten hatte, diese auch noch anzuführen. Auch wenn es für Byro unüblich war von einer Frau, dazu noch einer Adeligen, befehle zu bekommen, Ultears Führertalente waren ausgezeichnet.
Ihm wunderte es nicht unbedingt, dass man auf All-Ceithre versuchte, Valarys auf irgendeine Art und Weise aus den Aschen wiederzugebären. Schliesslich war All-Ceithre auch der Rat der vier Reiche und ein Reich war schliesslich seit Jahrtausenden verschwunden, was die ganze Organisation ziemlich verkomplizierte. Aber Valarys war seit so langer Zeit verloren, dass man nur noch Legenden vom einst mächtigsten Reich der Welt hatte. Ausserdem waren der Rat, Fiore, Pergrande und Minstrel seither auch ohne dem Zutun von Valarys zurecht gekommen. Doch... seit Jahrhunderten versuchte man immer wieder das Ostreich wieder aufzubauen, damit es endlich wieder offiziell vier Reiche wurden. Bisher erfolglos, aber Lady Ultears neueste Entdeckungen haben dem Rat neue Hoffnung gegeben.
„Bereiten Sie alles nötige für die morgige Reise vor, Kapitän. Wir werden ins innere des Reiches vordringen, vorerst nur um die Gegend auszukundschaften. Aber ich hoffe schon bald mehr zu tun als bloss die Umgebung anzuschauen", endete die Lady das Gespräch. Der Kapitän nickte ihr zu und verliess über den schmalen Laufgang den Zeppelin um auf die Insel zu kommen, wo zahlreiche Soldaten und Wissenschaftler schon im grössten Chaos alle Sachen aufs Land brachten.
Lady Ultear blieb noch auf der Terrasse des Zeppelins um die atemberaubende Landschaft zu bewundern. Wie erfrischend es doch war, mal für eine gewisse Zeit den Intrigen, Gerüchten und den langweiligen Bällen der Aristokratie Fiores zu entkommen und endlich ihren Traum zu verwirklichen. Endlich. Endlich war sie in Valarys, endlich würde sie mehr über dieses verwunschene Reich erfahren als aus Legenden und ihren zahlreichen Recherchen.
Allein von der Landschaft her war Valarys total anders als die anderen drei Reiche. Viele Inseln waren durch schmale Pfade kreuz und quer miteinander verbunden, viele Hügel schienen einfach irgendwie durcheinander rauszuwachsen. Das war schon etwas ganz anderes als die einzelnen Inseln von Fiore, Pergrande und Minstrel, die nur dank Zeppelins und anderen Flugschiffen miteinander verbunden waren. Und überall die freie, wilde Natur, mit hie und da ein paar Ruinen. Das war doch ganz anders als die stattlichen Herrenhäuser von Fiore, egal ob auf dem Land oder in der Stadt. Oder die strengen Burgen von Pergrande. Oder den Städten von Minstrel, die eine ganze Insel für sich im Anspruch nahmen, plus ein paar fliegenden Gärten und einzelnen, wildgelassenen Inseln.
Ultear brannte endlich mehr von Valarys zu erfahren. Was war die Kultur, die Zivilisation dieses Landes? Wie wurde es regiert? Hatte das Ostreich eine absolute Monarchie wie Pergrande? Oder eher eine konstitutionelle wie Fiore? Oder etwas ganz anderes, ähnlich wie die Demokratie in Minstrel? Ultear wollte es wissen. Sie war so glücklich gewesen, als der Rat ihr angeboten hatte eine neue Valarys-Expedition anzuführen, obwohl sie nicht auf All-Ceithre lebte. Mit ihrer Leidenschaft für dieses verlorene Reich hatte die junge Schwarzhaarige diese Chance nicht ablehnen können.
Die Zivilisation und Kultur von Valarys war vor Tausenden von Jahren verschwunden, nur noch Legenden redeten davon. Da, wo einst das mächtige Ostreich gelegen hatte, flogen nur noch unbewohnte Inseln herum, voll mit Ruinen, wilder Natur, wilden Tiere und der verlorenen Erinnerungen des einst mächtigsten Reiches aller vier Himmelsrichtungen.
Doch obwohl die Inseln nun leer standen, der Rat der vier Reiche – der auf All-Ceithre seinen Sitz hatte, einer einzelnen Insel, genau in der Mitte zwischen Fiore, Pergrande, Minstrel und dem verlorenen Valarys – wollte nicht, dass dieses Reich als Kolonie aufgeteilt wurde. Es gab schon immer vier Reiche und so sollte es auch sein, auch wenn eines verloren war. Der Rat war immer noch für alle vier verantwortlich und niemand durfte ein Reich erobern, dessen Bewohner als Sklaven verkaufen und so weiter und so fort.
Valarys war natürlich seit Jahrtausenden nicht mehr bewohnt, doch auch hier galt die Regel. Wer immer dieses Land als "Warenlager" misshandelte, machte sich strafbar. Sklavenhandel mit Bewohnern der Reiche war sogar mit dem Tode bestraft. Aber Sklaven hatte man schon, sie kamen allerdings von keinem der vier Reiche. Sie waren von niedriger Herkunft, kamen vom Land unter den Wolken. Anscheinend war das Land unten durch Erde und Natur miteinander verbunden, nur Wasser konnte die am Boden "genagelten" Inseln noch voneinander trennen.
Doch dieses Land war unten, also niedriger und unbedeutender, darum war es erlaubt, normal dessen Bewohner als Sklaven zu verkaufen, was trotzdem einigen wenigen Personen nicht gefiel. Eigentlich war auch niemand je unten gewesen, ausser den Sklavenhändlern und da diese immer wieder berichteten, wie unfruchtbar, wild und öde es unter den Wolken ist, vertraute man ihnen und niemand hatte je Interesse daran gezeigt, mal nach unten zu gehen.
Ultear selber hatte sich nie wirklich dafür interessiert, bis Lord Midnight, der ihre Adoptivtochter Meldy vor wenigen Wochen geheiratet hatte, und Lord Jellal, ihr ehemaliger Verlobter und nun treuer Freund, ihr gewisse Dokumente geschenkt hatten, welche irgendwie darauf hinwiesen, dass der Sklavenhandel auch etwas mit Valarys zu tun haben könnte. Mit diesen neuen Entdeckungen war Ultear nach All-Ceithre aufgebrochen und wenige Tage danach wurde sie zur Anführerin einer neuen Expedition.
Kurz wanderten Ultears Gedanken zu ihrem Mündel. Meldy. Sie vermisste ihre junge Adoptivtochter und hätte sie gerne an ihrer Seite gehabt. Ihre Recherchen über Valarys hatte sie ja auch ein wenig ihretwegen geführt... Aber solche Expeditionen waren wirklich gefährlich und Ultear wollte Meldy dem nicht aussetzen. Andererseits jedoch machte sie sich immer schreckliche Sorgen wenn die junge Pinkhaarige nicht hier war. Doch das sollte sie ja nicht.
Wenige Wochen zuvor hatte Lord Midnight um Meldys Hand gebeten, was in den Kreisen der Aristokratie etwas überraschte. Midnight gehörte einer der ältesten Familien des Westreiches an, während Meldy nur ein Mündel war. Unter dem Schutz einer einflussreichen Lady zwar, aber eben nur ein Mündel. Normalerweise wurden arme, verwaiste Mädchen, die von einer adeligen Familie in Schutz genommen wurden, bloss mit einem Notar, einem reichen Händler, einem Arzt oder einem Anwalt verheiratet, wenn sie nicht ins Kloster gingen oder sich als Begleitdame oder Gouvernante engagieren. Sie hatten zwar das Glück von Aristokraten aufgenommen zu werden und eine exzellente Erziehung zu bekommen. Aber Mündel waren eben nicht adelig, hatten immer ein geringeres Mitgift als Aristokratentöchtern und konnten nur mit grossem Glück in die aristokratischen Kreise hineinheiraten.
Doch Meldy hatte dieses Glück. Zwar war es natürlich keine Liebesheirat gewesen, wie es Ultear oft für die kleine Pinkhaarige gewünscht hatte, doch wenigstens hatte Meldy nun eine gute Stellung in der Gesellschaft, war zu einer Lady geworden und hatte wenigstens eine gute Freundschaft zu ihrem Gemahl aufbauen können. Lord Midnight galt zwar als etwas exzentrisch, da er abnormal viel schlief und sich aus mysteriösen Grünen von seinem Vater abgewandt hatte, doch Ultear mochte ihn. Er gehörte zu den wenigen, den sie als ihre Freunde betrachtete und mit dem sie ohne die gewohnte Falschheit der Aristokratie reden konnte. Ausserdem interessierte sich auch an Valarys, was für Ultear sofort ein Pluspunkt war.
Ultear vermisste Meldy, doch es beruhigte sie zu wissen, dass sie dank der Heirat eine gute Stellung hatte und versorgt war. Sie würde zwar mit gewissen Gerüchten zu kämpfen haben, aber mit Midnights Hilfe würde sie bestimmt damit klarkommen.
„Ich sollte ihr schreiben. Ab morgen wird es schwierig werden Briefe zu versenden", sagte sich Lady Ultear. Lächelnd begab sie sich in ihre Kabine, um Meldy einen langen Brief zu schreiben.
Xxx
18. Juli x788
Hochwürdiger hoher Rat!
Wir haben uns auf die Suche nach der Expedition gemacht, die von Lady Ultear Milkovich und General Byro, von der 1. Division der Elite von All-Ceithre angeführt wurde und welche seit dem grossen Luftbeben im Ostreich vor drei Tagen kein Lebenszeichen mehr gegeben hat.
Unsere Suche führte uns zuerst zu den Grenzen des Ostreiches, wo der Phönix, Zeppelin der Expedition, immer noch vor Anker war und von seiner Mannschaft sowie wenigen Expeditionsmitglieder gehalten wurde. Der Zeppelin hatte wenig gelitten während dem Luftbeben, doch nach der Aussage des Kapitäns, hat er seither keine Neuigkeiten von Lady Ultear und General Byro mehr bekommen, obwohl die beiden täglich Berichte geschickt haben.
Im letzten Bericht war erwähnt worden, dass die Expedition anscheinend vor einer grossen Entdeckung stand, aber mehr konnte der Kapitän vom Phönix nicht sagen. Der Zeppelin wird im Moment noch hier bleiben, falls die Expedition durch ein Wunder wieder auftauchen würde, aber wir machen uns diesbezüglich keine grossen Hoffnungen.
Morgen wird der Suchtrupp aufbrechen um die Expedition zu suchen. Es wird einige Zeit dauern bevor wir irgendeinen Anhaltspunkt haben können um zu ahnen, was passiert ist. In diesem verwilderten Reich ist es schwer vorwärts zu kommen und wir müssen auf alle möglichen Details acht geben. Aber sollten wir nach einem Jahr nichts gefunden haben, müssen wir die Suche abrechen, und Euch, hoher Rat, die Entscheidung überlassen, was dann tun ist.
Eure erhabene Dienerin
Major Brandish
6. Division der Elite von All-Ceithre
