Fast jedes Mal, wenn sie verreist gewesen waren, benahm sich Chase nach der Rückkehr anders als sonst. Aufgekratzt und unkonzentriert, fiel es ihm schwer, in den Klinikalltag zurückzufinden. Einen aktuellen Fall gab es zwar nicht, so dass er, Foreman und Cameron zum Ambulanzdienst eingeteilt wurden (was House gelegen kam, um ein wenig den Boss heraushängen zu lassen und eine ruhige Kugel zu schieben), aber selbst dort unterliefen ihm Patzer, die vermeidbar gewesen wären. Allzu dramatisch war es nicht, da in der Ambulanz ohnehin nur laufende Nasen abgehandelt wurden, denen eine Kalziuminjektion nicht schadete, doch Cuddy war im Dienste der Knauserigkeit zu House gestürzt, weil das Serum vergeudet war. Chase beharrte auf eine Hypokalzämie der Patientin, die ihm selbst House unter der Argumentation der einwandfreien Blutwerte nicht ausreden konnte.
Immerhin kreuzte die Frau am nächsten Morgen in seinem Büro wieder auf, um freudestrahlend zu verkünden, dass die Injektion die Beschwerden des Heuschnupfens gelindert hatte. Sie brachte Chase sogar eine Schachtel Pralinen mit, die dieser verlegen räuspernd auf House' Schreibtisch niederlegte, nachdem die beigefügte Karte aus der Schachtel auf den Teppich gesegelt war. Sein Assistenzarzt war kein Süßer, nicht im kulinarischen Sinn. Auf die billige Tour konnte man ihn nicht ködern. House, dem das begehrliche Leuchten in den Augen der Patientin aufgefallen war, betrachtete es diesmal als glückliche Fügung. Er selbst hätte ihrem rassig-südländischem Charme nicht widerstanden. Na schön, sie war ein bisschen zu alt für Chase, aber das war er selbst schließlich auch. Die Peinlichkeit mit der Karte übersah sie großmütig und stelzte davon.
Er hatte es nicht beabsichtigt, konstatierte jedoch zu seinem Entsetzen, dass er Chase nicht einmal mehr mit einem Mädchen zu teilen oder gar an eines abzutreten bereit war. Ihm ganz allein gehörte er, und so sollte es bleiben. Bisher hatte er sich eingebildet, über Eifersucht dem anderen Geschlecht gegenüber erhaben zu sein. Doch die unmissverständlichen Avancen der Patientin ließen ihn sich elend fühlen. Sie hatte einen weiteren Termin mit Chase vereinbart, den House, da er glücklicherweise gerade anwesend war, vereitelt hatte. Beide hatten ihn angestarrt, als habe der Blitz in ihn eingeschlagen und sein Hirn geröstet.
„Sie stiehlt Ihre Zeit. Ein Heuschnupfen ist kein Magendurchbruch", hatte er sein Veto lahm begründet, nun doch ein wenig verlegen ob seiner Impulsivität, und war aus dem Raum gehumpelt. Chase hatte keinen Termin mehr gemacht.
Obwohl er es sich strengstens verboten hatte, siegte am Abend die Neugier, und er las das von Chase in den Papierkorb geschleuderte Kärtchen.
Für den süßesten Doktor, der mich offenherziger erlebt hat als mein Mann. Wann haben Sie Zeit für ein nächstes Mal?
An Plumpheit nicht zu überbieten, dachte er, und zerriss es in kleinste Fetzen.
Aufgrund des Trips nach Paris, in dem er von seiner Vergangenheit erzählt hatte, beschäftigten den Jungen seine Mutter und deren Glauben, über den sie ihn zeitlebens im Dunkeln gelassen hatte, mit neu entfachtem Interesse; etwas, das ihm ganz und gar nicht behagte. Der jüdische Teil in Chase war ihm fremder als der katholische, wenngleich er Religion und alles, was damit zusammenhing, nicht von Beziehungen abhängig machte, die er ohnehin nicht leicht einging. Das theoretische Wissen hätte er ihm größtenteils vermitteln können – in der Studienzeit hatte er die Bibel, den Koran und den Talmud nebenher gelesen und sich die eine oder andere Stelle gemerkt. Aber er wusste, dass Chase auf der Suche nach etwas Tieferem war und es aus erster Hand erfahren wollte statt aus der vernunftgesteuerten Warte eines Atheisten. Keine trockenen Vorträge, sondern die Geborgenheit und Sicherheit einer Verbindung mit dem Allmächtigen, der vielleicht House' ärgster Konkurrent darstellte. Manchmal ärgerte ihn das.
Neuerdings nahm Chase das Mittagessen gemeinsam mit Cuddy ein. Dass sie seine Sehnsucht nach einem höheren Wesen bestätigen oder gar befriedigen würde, bezweifelte er. Wie auch Wilson traute er ihr nicht zu, den Unterschied zwischen Mischna und einer Mesusa definieren zu können. Offenbar unterhielten sie sich dennoch prächtig, er sah sie zusammen kichern wie zwei frisch verliebte Teenager und erwog, den Tisch zu wechseln, damit er sie nicht mehr sehen musste, bevor er platzte vor Neid. Eindeutig auf die adrette Klinikchefin, für die Chase in einer harmlos jungenhaften Weise schwärmte; jedenfalls hoffte er, dass nicht mehr daraus geworden war oder wurde. Sie hatte schon früher versucht, ihn sich zu angeln, als House ihn bei ihr hatte wohnen lassen, weil er geglaubt hatte, sein psychisch verletzter Assistenzarzt sei bei einer Frau besser aufgehoben. Die Enttäuschung darüber, dass Chase es nicht gewesen war, hatte seine Gefühle für Dr. Lisa Cuddy deutlich abgekühlt. Dafür hatte er sie umso mehr auf Chase zentriert. Würde er ihm jetzt untreu werden, indem er mit ihr anbandelte? Der Gedanke verursachte ihm Übelkeit, und er stand mit seinem Becher Kaffee auf.
Ehe er seinen Plan, außer Sichtweite von Chase und Cuddy zu geraten, in die Tat umzusetzen imstande war, schob sich Wilson schnaufend mit einem Tablett in die Bank.
„Ihr esst nicht mehr zusammen?" erkundigte er sich mit gewölbten Augenbrauen und nickte kurz in Chase' Richtung. „Bahnt sich da eine Krise an? Ich sagte dir, der Trip nach Europa und dein Heiratsantrag waren ein Fehler. Sobald es verbindlich wird, knicken die meisten ein. Selbst dein Goldjunge."
Woher er das nun wieder hatte? Implizierte ein Trip nach Paris automatisch die Absicht, den Bund fürs Leben zu schließen?
House pickte drei Pommes frites von Wilsons Teller. Was das Kantinenessen betraf, zeigte sich der sonst recht aufgeschlossene Freund erstaunlich phantasielos. Steak und Pommes, dazu ein Alibiblatt Salat. Jeden Dienstag und Freitag. War keines vorrätig, wich er auf Wiener Schnitzel aus. Dabei war er Neuem durchaus aufgeschlossen. Bevor es zum Bruch zwischen ihm und Chase gekommen war - den Wilson mit Mühe halbwegs gekittet hatte - hatten er und der Junge fleißig Rezepte aus aller Herren Länder ausprobiert. Schade, dass diese Zeit vorbei war.
„Worüber reden die beiden?"
Nicht dass er es wirklich wissen wollte, doch Wilson als die wandelnde Gerüchteküche des Hospitals blieb ihm die Antwort nicht schuldig. Natürlich hatte er seine Informationen aus erster Hand: Cuddy und er steckten unter einer Decke.
„Über Dinge, bei denen du ihm keine Hilfe wärst." Seufzend bearbeitete er das Stück Fleisch, das vor Flechsen wieder mal nur so strotzte und die Konsistenz von Leder hatte – er hatte dasselbe Gericht gewählt. Tagesmenü. Weil die überfälligen Nahrungsmittel nicht im Kompost verrotten durften. Dann lieber in den Bäuchen des unbedarften Personals und der ohnehin siechen Patienten.
„Ich leider auch nicht mehr. Ich habe es gründlich vermasselt. Es wäre eine gute Gelegenheit gewesen, mich selbst besser kennen zu lernen, die Geschichte und Sitten meines Volkes. Früher oder später muss man sich Gedanken über seine Wurzeln machen, House. Vielleicht wäre das auch etwas für dich. Wer weiß, was du herausbekommen würdest. Ahnenforschung hat gewiss schon so manchen zum besseren Menschen gemacht."
„Du bist Amerikaner, was soll das sentimentale Gewäsch? Das Einzige, worüber du dir Gedanken machen solltest, ist, wie John Wayne es geschafft hat, die Weltherrschaft anzutreten. Außerdem hat Cuddy nicht die leiseste Ahnung von dem, was Chase wissen will. Sie ist noch nicht mal eine Mommy."
So hartnäckig, dass es wehtat, dabei zuzuschauen, kämpfte Wilson mit einem besonders sehnigen Bissen und würgte ihn dann herunter. „Glaubst du, dass es ihm darauf ankommt? Eine Mutter zu finden? Cuddy sagte mir, er wolle ein bisschen Glaubensrecherche betreiben."
Leidenschaftlicher als beabsichtigt klärte er Wilson auf, weihte ihn in den Grund der Zerstreutheit seines Assistenzarztes ein. „Er spricht viel über seine Mutter seit Paris. Sie fehlt ihm, obwohl sie eine verdammte, pflichtvergessene Säuferin war, und ich kann sie ihm nicht ersetzen. Ich würde es gerne, und ob du es glaubst oder nicht, ich neide ihr das Privileg, ihn geboren zu haben. Wenn es hätte sein müssen, hätte ich ihm dreimal das Leben geschenkt und ihn nie alleingelassen so wie sie es getan hat."
Es quälte ihn tatsächlich. Wilson bemühte sich, sein Erstaunen darüber im Bereich des Überschaubaren zu halten. Chase hatte ihn von Grund auf verändert. Bisher war er der Annahme gewesen, dass die Wohngemeinschaft mit dem häufig naiv wirkenden Chase von Nutzen für beide sei, doch jetzt stellte er dunkle Ringe unter den Augen seines Freundes fest, die möglicherweise nicht auf beruflich bedingten, ungenügenden Schlaf zurückzuführen waren.
„Damit ich das richtig verstehe: du hättest ihn auf die Welt bringen wollen? House! Du bist ja besessen von ihm. Welcher Mann will schon gerne Kinder kriegen, selbst wenn Chase dabei rauskommt?"
House grimassierte und rieb sich das Genick. Am anderen Tisch lachte Cuddy ihr rauchiges Lachen, das tief aus ihrer mit Perlen besetzten Kehle stieg. Demonstrativ fürsorglich, als hätte sie ihrer absurden Unterhaltung gelauscht, strich sie über Chase' Wange. Eigentlich ließ er sich nur von House berühren, und auch das nur, wenn sie unter sich waren.
„Abgesehen davon, dass es biologisch nicht möglich ist, was spricht denn dagegen, dass ich mir wünsche, er hätte eine bessere Mommy gehabt als die psychotische Mrs. Chase? Wenn du gehört hättest, was er mir erzählt hat, hättest du dich wochenlang in deinem Schlafzimmer eingesperrt und geweint."
Darüber dachte Wilson eine Weile nach. „Hey", sagte er, plötzlich voller Güte und Verständnis, das jedoch trügte. Er verstand ihn nicht, woraus er ihm keinen Vorwurf machte. Er verstand sich ja selbst nicht mehr. „Wenn du glaubst, er überfordert dich, schmeiß ihn raus. Auf Dauer wird es sowieso nicht gut gehen mit euch beiden. Vielleicht wäre Cuddy die bessere Alternative. Sie scheinen sich blendend zu verstehen. Sie hat etwas unleugbar Mütterliches. Ich glaube, es würde alle Betreffenden glücklich machen."
Typisch Wilson. Mal hü, mal hott. Etwas anderes hatte er nicht von ihm erwartet. Seine Küchenpsychologie ging ihm heute extrem auf die Nerven. Er hatte ja nicht mitbekommen, dass Cuddy wie eine Furie über den armen Jungen hergefallen war.
„Ich wäre ihm eine gute Mutter gewesen", insistierte er. „Mit allen Konsequenzen. Die fangen nun mal im Kreissaal an."
„Du bist pathetisch. Und komplett irrsinnig."
Wortlos erhob er sich und kehrte ins Büro zurück. Wilsons kritischen Blick konnte er bis ins vierte Stockwerk in seinem Rücken fühlen.
oOo
Am Abend saßen sie zusammen und sahen fern. Chase hatte den Kopf auf House' Oberschenkel gebettet, wie er es häufig zu tun pflegte, und schien zu dösen; mitunter gab er ein dezentes Geräusch von sich, das stark an ein Schnarchen erinnerte und doch so leise und harmonisch war, dass er es um nichts in der Welt hätte missen mögen. Alles, was Chase tat oder sagte, seine Gewohnheiten, seine kleinen Laster, übten eine ungeahnte Faszination auf ihn aus. Vor allem deshalb, weil er gelernt hatte, auf sie zu hören und sie zu deuten. Er wusste, dass er sich in diesem Moment wohl fühlte; eine Tatasche, die ein unbeschreibliches Glücksgefühl in ihm weckte.
Als House den Fernseher ausschaltete, gähnte er herzhaft.
„Schon müde? Es ist noch früh", sagte er mit einem Blick auf die Uhr und klang besorgt. „Geht's Ihnen nicht gut? Kann ich etwas für Sie tun?"
Gedankenverloren spielte er mit seinem Haar, das strähnig durch seine Finger glitt. Er beugte sich vor, küsste ihn andeutungsweise auf Wangen und Kinn. Die weichen Lippen fingen seine ein, während kräftige, schlanke Finger seinen Nacken umfassten und dann hinauf zum Haaransatz fuhren, um ihn zu kraulen. Die Struktur seines Haares war anders als Chase', kurz und wellig, doch gerade darum mochte der Jüngere es wahrscheinlich genauso wie er das glatte, lange Surferhaar.
Ein wenig ungelenk rutschte er herum, bis er halb auf ihm lag und brannte vor Verlangen, ihn zu spüren, zu beschützen und zu haben. Das Sofa war zu kurz, und er wälzte Chase, der sich intuitiv an ihn klammerte, auf den Teppich, um die Hände seitlich von ihm abzustützen und das ebenmäßige Gesicht mit ungestümen Küssen zu bedecken.
In einer Mischung aus freudiger Verblüffung und Aufregung fixierte ihn der Junge, bevor er ein übermütiges Schnauben ausstieß, das seine Einwilligung verdeutlichte. Ungeduldig nestelte er an House' Jeans herum, streifte sie ihm über die Hüften, und er meinte zu sterben, als er die Arme um seine Schultern schlang und ihn mit einem wohligen Seufzen an sich drückte. Dann stemmte er die Hände an seine Brust, um ihn erneut die Liegestützenhaltung einnehmen zu lassen. Sein Bein zitterte unter der Belastung, seinen Rumpf über Chase zu halten, aber wie durch ein Wunder gab es nicht nach. Keuchend verharrte er.
Chase' Bewegungen verrieten Unruhe, als er sich die Longsleeves über den Kopf zog und wieder nach Körperkontakt verlangte. Von der Jerseyhose hätte House ihn in Nullkommanichts entledigt, und er war noch nicht sicher, ob er es ihm wirklich gestatten sollte. Der Angriff hatte ihn überwältigt, so dass er vorerst abwartend blieb, was das Ausziehen betraf. Auch House wollte nichts überstürzen. In den grünblauen Augen flackerte etwas, das genauso gut Angst wie Begierde sein konnte.
„Mein hübsches Baby", flüsterte er rauh, den sich heftig hebenden und wieder senkenden Brustkorb liebkosend, auf dem er hätte vergehen können. Es kam ihm überhaupt nicht komisch vor, dass er Chase so nannte. Er war schön, einmalig und wundervoll, und er war sein Baby. Seine Reaktion bezeugte ihm, dass er nichts dagegen hatte. Er gluckste ein geschmeicheltes Lachen, das in House' Mund gedämpft wurde, trampelte erregt und rieb drängend das Becken an ihm. Unter einer Woge der Verzückung stöhnte er jählings auf.
House ging wieder auf Distanz und lächelte auf ihn herunter. Wenngleich er nichts lieber getan hätte, als ihm seinen stummen, aber beredten Wunsch zu erfüllen, zügelte er sich. Ein Schweißtropfen von seiner Schläfe landete auf Chase' Nase, den er aufleckte. Seinen eigenen Schweiß zu kosten, war eine Überraschung. Er schmeckte anders als der des Jungen, schärfer, aber auf dessen Haut nicht unangenehm.
Er hätte alles aufgegessen, was ihm auf Chase' Körper serviert wurde, nur um die glatte Haut darunter von seinem Speichel glänzen zu sehen. Am liebsten wäre er in die Küche gewetzt, um ihn mit Sprühsahne einzuseifen, die er sich dann von unten nach oben einverleibt hätte. Wilson hatte recht: er war völlig verrückt. Chase machte ihn verrückt, und er fand es großartig.
Neckend knabberte er an seiner Nase und dem Mund, bevor er sich abermals zurückzog und sich zu einer Nüchternheit zwang, die ihm angesichts des auf ihn aufgewühlt wartenden Liebhabers schwer fiel. Die Lust hatte die Angst ausgebootet. Seine monatelange Geduld war belohnt worden, indem Chase immer seltener an den Missbrauch dachte. Aber er hatte sich und Chase das Versprechen gegeben, dass es etwas Besonderes zwischen ihnen sein sollte, und zwar nicht nur zu Beginn ihrer Vertrautheit. Für ihn wäre es das immer, aber bei Chase war er sich nicht so sicher. Junge Leute brauchten Abwechslung, auch wenn Chase nicht wie andere junge Leute war und ihm seine Treue mehr als einmal versprochen hatte. Ihn auf die Probe zu stellen, war dennoch nicht nötig.
Die zarten Brauen hoben sich fragend. Worauf warten wir?
„Zeigen Sie mir ein Foto von Mom."
Schlagartig war die ausgelassene Stimmung dahin. Stutzig werdend wandte Chase den Kopf zur Seite. Die Halsschlagader trat heftig pulsierend hervor, als er schluckte. „Von meiner?"
„Meine eigene kenne ich. Wo wäre der Witz an der Sache?"
Es hätte ihn nicht einmal überrascht, falls er ihr Bild in der Brieftasche aufbewahrte. Zwischen ihr und Chase hatte sofort eine Bindung bestanden, die sich mit jedem ihrer Gespräche gefestigt hatte, die bis spät in die Nacht hinein gedauert hatten und von denen er ausgeschlossen geblieben war, was er ihnen jedoch nicht übel genommen hatte. Sie hatten nur das Wochenende nach der Beerdigung des Vaters bei ihr verbracht, und dennoch war es seiner Mutter in dieser kurzen Zeit gelungen, das Herz des zugeknöpften Jungen zu gewinnen. Etwas, wofür House mehr als ein Jahr gebraucht hatte.
„Ich habe keines", erinnerte er ihn. „Sie sind alle in Melbourne, das sagte ich Ihnen doch."
„Holen Sie's", sagte er unnachgiebig. „Sie haben mich damals angelogen. In Ihrer Schatzkiste mit dem T-Shirt muss es eines geben. Neulich haben Sie sie mitgenommen. Wäre ja auch schade gewesen um das gute Stück voller Sehnsucht nach alten Zeiten. Ich weiß, dass Sie Ihre Mutter geliebt haben. Sie sind ihr Sohn, und Sie hatten keine andere, was Ihrem Gott geklagt sei. Aber da Er die Menschen mit freiem Willen ausgestattet hat – das sind Ihre Worte, nicht meine – hat Er ihr den Willen zum Trinken gelassen und Ihnen den, für sie sorgen zu wollen. Der Himmel versteht Sie, Chase. Ich tue es in dieser Hinsicht nicht."
Kapitulierend und geringschätzig schnaubend rappelte er sich auf, doch House hielt ihn noch einmal zurück und zwang ihn zu sich auf die Knie, so dass sie auf Augenhöhe waren.
„Ich werde nicht aufgeben und es irgendwann selbst finden, wenn Sie's nicht freiwillig rausrücken. Der Karton steht unter dem Bett, oder? Besser, wir bringen es hinter uns. Mal sehen, was der Abend danach noch so bietet."
Als er wieder auftauchte, wirkte er befangen. In seiner Hand zerknitterte er ein Foto, das er ihn zunächst nicht sehen ließ. Nervös biss er sich auf die Lippen und senkte den Blick, als könne er die Aufnahme allein dadurch zum Verschwinden bringen. Von einem Fuß auf den anderen tretend, erweckte er den Anschein, als erwarte er die gerechte Bestrafung für ein Vergehen.
„Es ist – ziemlich abgeschossen. Man erkennt sie nicht gut darauf."
Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob er sie wirklich sehen wollte. Das Ergebnis des DNA-Tests hatte Chase ihn nie wissen lassen, ihn mit fadenscheinigen Ausflüchten abgespeist, und er hatte nicht gedrängt, es ihm mitzuteilen.
Was, wenn er ihr vor langer Zeit zufällig begegnet war, auf einem Kongress, einer Konferenz, auf die Rowan Chase sie vor Roberts Geburt offenbar hin und wieder mitgenommen hatte, ehe sie ihn vor Kollegen blamiert hätte mit ihren sonderlichen Einfällen?
Chase' Widerwillen, es ihm auszuhändigen, ließ darauf schließen, dass er den Gentest entweder nicht zu Ende geführt oder ihm das Resultat (der, den er für Daddy gehalten hatte, war nicht sein richtiger) vorenthalten hatte aus Angst, dass ihre unkonventionelle Freundschaft in die Brüche ging. Vater und Sohn durften einander nicht körperlich begehren, das war Inzest. Die Vorstellung war selbst House furchtbar gewesen, den sonst nichts so leicht beunruhigte. Innerlich schlotterte er vor Ungewissheit. Wenn sie soviel Charme ausgestrahlt hatte wie Chase (wovon er ausging), schien es ihm nicht undenkbar, dass sie seine Aufmerksamkeit und etwas mehr erregt hatte.
Trotzdem streckte er den Arm aus und krümmte bedeutungsvoll die Finger. Zögernd überreichte ihm Chase das Foto, das Mutter und Sohn auf einer Hollywoodschaukel zeigte.
Um sich für ihren Anblick zu wappnen, richtete er die Augen zuerst zwanghaft auf den im Profil festgehaltenen Kleinen, der sieben oder acht Jahre alt war und so entzückend, dass er einen Moment den Atem anhielt. Das seidige, vom Schwimmen feuchte Haar war heller als jetzt, und erzeugte einen starken Kontrast zu seiner gebräunten Haut. Bekleidet war er lediglich mit einer bis unter die Knie reichenden Badehose, die die Vollkommenheit des kleinen Körpers betonte. Er identifizierte Chase überdies an dem unverwechselbar steilen Kieferbogen, den langen Wimpern und an der erstaunlichen Zartheit seiner Glieder, die ihn weder kränklich noch unterernährt erscheinen ließ; Merkmale, die er immer noch besaß und sein Alter seit jeher schwer schätzbar machten.
Die Hand ohne Berührungsängste an ihrer Halsseite, neigte er sich gegen eine junge Frau, die ihrerseits einen Arm um seine Mitte gelegt hatte und sich sichtlich über den kindlichen Kuss freute, den er ihr auf die Wange schmatzte. Sie trug einen altmodisch anmutenden Einteiler (die Nostalgie alter Hollywoodschinken hatte ihr Leben und auch das des kleinen Robert beeinflusst) und einen breitkrempigen Strohhut; ihr Haar, vom selbem Ton wie Chase' heute, war zu einem Pferdeschwanz gebunden, der ihr über die Schulter fiel. Da sie lachte, war der Mund die größte Auffälligkeit und in seiner Sinnlichkeit Chase' erschreckend ähnlich. Was für ein Jammer, dass eine so schöne, damals scheinbar lebenslustige Frau so tragisch hatte enden müssen. Chase schlug mehr nach ihr als nach dem Vater, in sämtlichen Bereichen. Der Schock des Wiedersehens, den er erwartet hatte, blieb glücklicherweise aus. Wäre sie ihm in einem früheren Leben über den Weg gelaufen, würde er sich ihrer entsinnen. Das Foto, vermutlich während ihrer zweiten problematischen Schwangerschaft aufgenommen, hatte ihre Anziehungskraft anschaulich eingefangen.
Alles, was er empfand, war Mitleid. Für sie und den Buben. Er wünschte sich, er hätte den Schnappschuss geschossen anstatt Daddy oder eine von Roberts Gouvernanten.
Ein kurzes, mühevoll unterdrücktes Ächzen riss ihn aus seiner intensiven Betrachtung, die ihn um Jahre zurückversetzt hatte. Er hatte fast vergessen, dass Chase vor ihm stand. Vor Aufregung zitterte der, seine Wangen zierten rote Flecke.
„Kennen Sie sie? Ich meine-... haben Sie meine Mutter – getroffen, bevor ich geboren wurde?" Seine riesigen Augen rangen ihm eine Antwort ab, die er ihm mit gutem Gewissen geben konnte.
Langsam schüttelte er den Kopf. „Nein. Ich bin froh, dass es so ist. Obwohl ich ihr gerne geholfen hätte. Ihretwegen. Und weil ich glaube, dass sie mit der richtigen Unterstützung eine fabelhafte Mutter hätte sein können."
Jetzt hielt Chase es nicht mehr länger aus. Aufschluchzend warf er sich in seine Arme, woraufhin er den bebenden Rücken massierte, das Foto sinken und den Jungen weinen ließ. Später, als er eine Hyperventilation befürchtete, raunte er beschwichtigend in sein Ohr.
„Scht ... es ist genug jetzt. Nicht mehr weinen."
Schließlich hatte er sich soweit beruhigt, dass er still auf seinem Schoß kauerte und die Finger hinter seinem Nacken verknotete. Er atmete schniefend durch den Mund und gab nur noch vereinzelt schwache, kummervolle Töne von sich. House nahm sein Gesicht zwischen die Hände, beseitigte den Schleim mit der Zunge von der gewölbten, breiten Oberlippe. Der Junge auf dem Foto schimmerte in dem erwachsenen Chase durch, der sich immer soviel Mühe gab, abgeklärt zu agieren und sich einzig vor ihm nicht versteckte.
„Was war schön mit Mommy?" fragte er leise. „Es gibt nicht nur hässliche Erinnerungen. Erzählen Sie mir von den guten."
Eine Weile überlegte er, trocknete die Nase vergeblich mit dem Unterarm, und House konnte nicht umhin, ihn nochmals zu küssen. Selbst sein Rotz sandte eine Verlockung aus, die es ihm unmöglich machte zu ignorieren. Vielleicht war er doch pervers, ganz bestimmt aber ein verliebter Vollidiot. Chase wirkte so verletzlich und schutzlos, dass House unvermittelt anfing, ihn ein bisschen hin und her zu wiegen.
„Sagen Sie es mir. Ich möchte es gern wissen. Es muss welche gegeben haben."
„Frühstück, solange sie morgens noch mit mir aufgestanden ist", murmelte er, seine Lippen verzogen sich zu einem schmerzlichen Lächeln, als er die Tränen rigoros wegwischte. „Singen. Und wenn wir die Schmetterlinge lachen gehört haben."
„Hm. Das dürfte um die fortgeschrittene Tageszeit nicht mehr möglich sein. Ein Frühstück allerdings schon. Was war's?" In höchster Konzentration kniff er die Augen zusammen. „Pfannkuchen und Blaubeersirup, richtig? Geht Ahornsirup auch in Ordnung?"
