Gewittertag
Es war heiß. Die Sonne schien vom Himmel als wollte sie Löcher in den Asphalt brennen. Über den Kornfeldern flimmerte die Hitze und übermütige Insekten segelten durch die Luft. Marlenes Schritte beschleunigten sich. Noch war nichts zu sehen, doch sie spürte das nahende Gewitter deutlich, denn die Atmosphäre war aufgeladen und fühlte sich elektrisiert an. Sie hatte nichts gegen Gewitter, im Gegenteil, Naturphänomene waren eine ihrer Leidenschaften, doch gerade deshalb wusste sie, dass es nicht besonders ratsam war, bei einem heftigen Sommergewitter draußen herumzuspazieren. Insbesondere nicht, wenn man sich wie sie auf offenem Feld ohne einen einzigen Baum oder einer anderen Erhöhung befand.
Aber sie war nicht beunruhigt. Bis zu ihrem Haus dauerte es nur noch wenige Minuten.
vereinzelt fuhren Autos an ihr vorbei, was ungewöhnlich war, denn die Sommerferien hatten fast jeden der es sich leisten konnte aus der ohnehin schon dünn besiedelten Region, südwärts getrieben. Die junge Frau hatte mit Freuden das kleine einsame Ferienhaus am Waldrand für ein paar Wochen gemietet. Es war billig, alt und genau nach Marlenes Geschmack.
Die Rothaarige genoss ihre ersten Sommerferien ohne ihre Eltern. Nachdem sie während der Schule Monatelang gejobbt hatte, konnte sie sich neben einem neuen Objektiv auch ein paar Wochen nur mit sich selbst leisten.
Normalerweise lebte sie in der Nähe von Brimingham und genoss es daher aus der Stadt hinauszukommen. Sie streifte tagsüber durch die Wälder und widmete sich abends ihren Büchern.
Mit dem Mofa war man in 15 Minuten in Amesbury , wo sie ihre Einkäufe erledigte und manchmal auch mit den Leuten ins Gespräch kam. Es waren unkomplizierte Menschen, die einem gutmütig auch mal ein paar frische Eier schenkten oder zum Abendessen einluden. Marlene war in der Stadt aufgewachsen und fühlte sich in der ehrlichen Herzlichkeit auf dem Land sehr wohl.
Es war ein angenehmer kleiner Kulturschock als sie vor einer Woche hier ankam. Gleich am ersten Abend war sie auch noch von ihrer Ferienwohnung aus nach Stonehenge gewandert. Sie hatte ein Paar Bilder geschossen und die touristenleere Landschaft genossen. Schon da hatte sie die eigenartigen Wetterschwingungen gespürt. Die Luft war ständig angespannt und auch im Wetterbericht wurde ausdrücklich vor Unwettern gewarnt.
Der Himmel wurde langsam aber sicher von Wolken bevölkert und die Luft schien noch ein wenig schwerer geworden zu sein. Wie immer fasziniert von dem raschen Gemütswechsel der Natur blieb sie kurz stehen.
Dann ging alles blitzschnell. Ein lauter Knall neben ihr riss sie aus ihren Gedanken und sie sprang zutiefst erschrocken ein Stück nach links, von dem ohrenbetäubenden Geräusch weg.
Wie in Trance hörte sie das dröhnende Hupen eines Autos und die quietschenden Reifen hinter sich, doch es blieb ihr nicht einmal mehr Zeit um sich umzudrehen.
Ein heftiger Ruck fuhr durch ihren Körper, sie fühlte sich als würde sie durch die Luft geschleudert werden, dann wurde es schwarz um sie.
Schon während Blaise apparierte, spürte er, dass er am falschen Ort erscheinen würde. Innerlich gegen alles gewappnet erblickte er seine Umgebung. Neben ihm befand sich eine junge Frau, die ihn mit vor Schreck geweiteten Augen ansah. Aus den Augenwinkeln registrierte er eine Bewegung und mit der geistesgegenwärtigen Effizienz eines Zabinis riss er die Frau aus der Bahn des lärmenden Autos. Doch er schien den Schwung überschätzt zu haben, denn die Rothaarige kam mit einem dumpfen Geräusch auf dem Grünstreifen auf während das Auto des Muggels zehn Meter weiter schlingernd zum stehen kam.
Unentschlossen warf er der Frau am Boden einen Blick zu. Ob sie verletzt war? Eher unwahrscheinlich, doch nun musste er professionell handeln. Mit schnellen Schritten lief er auf den inzwischen ausgestiegenen Mann zu, der ihm über die leicht qualmende Reifenspur entsetzt entgegenblickte.
„Mein Gott, was-"
„Obliviate", murmelte Blaise nur leise und ohne zu zögern. Der Muggel hatte in keiner Weise auf den Zauberstab in seiner Hand geachtet. Und selbst wenn, hätte es ihm nichts genützt. Leicht verzog er den Mund zu einem überlegenen Lächeln als er zusah, wie der Blick des Mannes glasig wurde, er sich umdrehte, in sein Auto stieg und davonfuhr. Er würde sich an den Vorfall nie erinnern, denn Blaise hatte diesen und die Erinnerung an sich selbst soeben aus seinem Gedächtnis gelöscht.
Zwar hatte der junge Zauberer seine Zeit in Hogwarts noch gar nicht abgeschlossen, aber er hatte sich auch außerhalb der Unterrichtsstunden ausgiebig und intensiv mit diversen Zaubern und Verwandlungen beschäftigt, die im gewöhnlichen Lehrplan selten vorkamen. Mit spöttischer Miene sah er dem klapprigen Bentley hinterher doch dann erinnerte er sich an den anderen Muggel. Die Frau lag immer noch in derselben Position im Gras. Zum Glück war der Straßengraben ein ganzes Stück vom Asphalt entfernt und wahrscheinlich war sie nur ohnmächtig. Aus reiner Angewohnheit glitt sein Blick kurz über ihr Gesicht und die Gestalt, während er sich neben sie kniete. Mit dem Zauberstab fuhr er prüfend über ihren Körper, berührte sie dabei aber nicht. Besonders in den Kreisen der reinblütigen Zaubererfamilien wurden Muggel als hässlich beschrieben und auch weil Blaise selten etwas auf die Meinung anderer Menschen gab kam er nicht umhin die junge Frau von diesem Vorurteil frei zu sprechen. Sie war nicht hässlich, aber auch nicht schön. Hübsch. Auf eine eigenwillige, ungewöhnliche Weise. Mehr aber auch nicht. Ihr Kleidungsstil dagegen war grauenhaft. Lediglich ihr Haar war interessant. Wie ein hellroter Fächer lag es um ihren Kopf. Blaise schüttelte über seine eigenen Gedanken den Kopf und konzentrierte sich wieder auf seinen Zauber. Nein es war nichts gebrochen oder verletzt, nur eine leichte Prellung an der Hand. Sie schien wirklich nur ohnmächtig.
Entnervt fuhr er sich mit der linken Hand über den Kopf. Einen Obliviate durfte man zwar auch bei Muggeln anwenden wenn es nötig war, doch niemals bei einer schlafenden oder ohnmächtigen Person. Man konnte große Schäden mit diesem Zauber anrichten, wenn man ihn zu großflächig oder im Traum anwendete. Also musste er warten. Etwas unschlüssig blickte er in ihr schneeweißes Gesicht. Sie hatte sich bei seinem plötzlichen Erscheinen wahrscheinlich sehr erschrocken und war deshalb so weit auf die Fahrbahn gesprungen.
Nach einiger Zeit begann sich etwas in ihrem Gesicht zu regen und schließlich hoben sich ihre Augenlieder.
Marlene fühlte sich eigenartig. Ihr Rücken schmerzte, genauso wie ihre Hand und ein dumpfes Pochen erfüllte sie. Alles an ihr kam ihr schwer und träge vor. Nur langsam klärten sich ihre Sinne und sie erfühlte Gras unter ihren Händen. In ihrem Kopf flatterten die Gedanken umher wie grellbunte kleine Vögel, von denen keiner greifbar war. Sie versuchte die Augen zu öffnen und während ihre Gesichtsmuskeln arbeiteten schaffte sie es schließlich mit einiger Anstrengung.
Ihre Sicht schärfte sich, die Konturen ihrer Umgebung wurden deutlich, und dann-
Braun.
Intensives Braun.
Mit kaum erkennbaren hellen Sprenkeln. Und einem weichen Schimmer, wie flüssige Schokolade oder wie die samtigen Flügel eines Bananenfalters. .Wie konnte jemand solche Augen haben? Es war ein Junge. Oder doch ein Mann? Sein Alter war schwer zu schätzen. Er trug einen dunklen Anzug, passend zu seiner Hautfarbe und kniete neben ihr. Seine Stirn war gerunzelt, er sah sie aufmerksam an. Das Gesicht eines Engels. Marlenes Verstand schaltete aus und ihr Herz brachte ihren Mund zum sprechen.
„Sie sind wunderschön."
Er legte den Kopf leicht schräg.
„Aha. Geht es ihnen einigermaßen? Haben sie Schmerzen?"
Blaise mochte Muggel nicht sonderlich. Genauer gesagt fand er sie primitiv. Allerdings wusste er, dass es für Zauberer üble Konsequenzen gab, wenn sie Muggel falsch behandelten.
„Nein, ich … mir geht es … was ist denn passiert?" sie schien noch verwirrt.
Blaise überlegte. Wenn es nötig ist. Soweit es sich vermeiden lässt, wendet man jedoch keine Zauber bei Muggeln an.
Er war ein sehr korrekter Zauberer, der sich weitestgehend an die Regeln hielt.
„Sie können sich nicht erinnern?" fragte er gedämpft. Verneinend schüttelte sie leicht den Kopf. War es nötig einen Vergissmich zu beordern? Wohl eher nicht.
Es gefiel Blaise ganz und gar nicht aber vielleicht würde eine Notlüge auch schlichtweg reichen. Verächtlich zuckten seine Mundwinkel kurz nach oben. Erzähl ihr irgendwas. Dachte er sich mürrisch. Sie ist ein Muggel. Viel zu naiv um Zusammenhänge zu erkennen!
„Die Hitze", meinte er in einer düsteren Tonlage. „Sie ist ihnen nicht bekommen, sie sind umgekippt." Himmel, die Ausrede war wirklich lahm. Normalerweise währe ihm etwas Besseres eingefallen.
Die junge Frau fand es wohl auch eigenartig und sah ihn misstrauisch an.
„Und wo sind sie hergekommen?" erkundigte sie sich, während sie sich vorsichtig in eine sitzende Position begab.
„Von da", knurrte Blaise und wies mit der Hand fahrig hinter sich.
„Aus dem Kornfeld?" fragte Marlene verwirrt „Sie sind aber kein Bauer, oder?" Mit zusammengekniffenen Augen musterte sie seinen dunklen Anzug.
Blaise musste sich zurückhalten um nicht zu fluchen. Ein Jammer, dass er sie nicht einfach verhexen konnte. Entnervt musterte er sie. Meine Güte sie wurde rot. Verärgert richtete er sich auf. Er hatte schon mehr als genug Zeit mit diesem Pumuckl verschwendet.
„Hören sie, wenn es ihnen gut geht, dann würde ich ihnen empfehlen aufzustehen und nach hause zu gehen, ich muss jetzt jedenfalls weiter." Er wollte sich schon zum gehen abwenden, da riss er sich zusammen und reichte ihr die Hand, um ihr aufzuhelfen. Es war eine riesige Überwindung für ihn aber schlecht erzogen wollte er sich auch nicht geben. Selbst vor einem Muggel nicht.
Marlenes Augen weiteten sich kurz und sie starrte ein paar Sekunden auf seine schlanken Finger, ehe sie sie ergriff.
Kaum stand sie aufrecht, schon entzog Blaise ihr seine Hand, als hätte er sich verbrüht.
Marlene räusperte sich und rief sich innerlich ebenfalls zu gutem Benehmen auf.
„Vielen Dank. Auch das sie nach mir gesehen haben. Es gibt viele, die währen einfach vorbei gelaufen."
Allerdings. Dachte er sich bitter. Sie wusste ja gar nicht wie sehr sie recht hatte. Widerwillig gestand er sich ein, dass Zauberer und Hexen was Zivilcourage anging kein Deut besser als Muggel waren.
„Nicht der Rede wert", erwiderte er kühl.
In diesem Augenblick entlud der Himmel seine Spannung, und ein greller Blitz zuckte über den gefährlich dunkel gewordenen Horizont. Der ohrenbetäubende Donner ließ nicht lange auf sich warten und bewies, wie nah das Gewitter in Wirklichkeit war.
„Oh je", murmelte Marlene besorgt. „ Wollen sie vielleicht mit zu mir kommen, mein Haus ist nur ein paar Minuten entfernt. Mit dem Moped könnte ich sie schnell in die nächste-"
Das durfte doch nicht wahr sein. Bekam er auch Ärger, wenn er ihr den Hals umdrehte!
Ganz gegen seinen Vorsatz fiel er ihr rüde ins Wort.
„Nein." Seine Stimme war scharf und nun wirklich kalt. Er wollte keine Minute länger hier verbringen. Da passierte es ihm einmal, dass er beim apparieren ein bisschen abwesend war, schon landete er irgendwo in der Pampa, verursachte fast einen Autounfall und hatte eine kauzige verwirrte Frau an der Backe kleben.
Marlene schluckte ob dem scharfen Ton und dem hochmütigen Gesichtsausdruck ihres Gegenübers.
Lass dich nicht einschüchtern Marlene, du schuldest ihm etwas, schimpfte eine resolute Stimme in ihrem Kopf.
„ ... Amesbury ist zu Fuß aber ziemlich weit entfernt und im Wetterbericht kam, dass es wirklich ein Jahrhundertgewitter … ähm" Wie zur Bestätigung ihrer Worte zuckte ermeut ein gleißender Blitz über den Himmel.
Der Blick des Mannes war nun wirklich tödlich.
Amesbury? Den Ort kannte er. Draco wohnte hier in der Nähe. Prächtig. Schöner Zufall, dachte sich Blaise sarkastisch. Statt nach Shrewsbury war er nach Amesbury appariert.
Das war bestimmt mehr als zweihundert Kilometer voneinander entfernt und der Ort an dem er jetzt am allerwenigsten sein wollte.
Warum gehst du nicht darauf ein? Wisperte es hinter seinen Schläfen.
Ein wenig das erneute Zusammentreffen herauszögern, zu welchem Preis auch immer.
Sie ist ein Muggel! Ein Muggel verdammt! Seine Mutter würde durchdrehen, wenn sie es wüsste, dass er überhaupt mit einem nichtmagischen Geschöpf sprach…
Aber warum nicht? Er hatte noch nie gesehen, wie ein Muggel lebte und obgleich er sich sagte, dass es nicht groß anders als bei Zauberern sein konnte, höchstens etwas primitiver, war er neugierig. Es interessierte ihn. Er fühlte sich schlichtweg von Dingen angezogen die fremd waren, die er nicht sofort verstand. Seine Mutter war der Meinung, dass sie ihrem einzigen Kind diese Marotte schon längst ausgetrieben hatte, und Blaise war ein Meister darin, sie durch sein ‚vorbildlich reinblütiges Verhalten' in dieser Annahme zu bestärken.
Vorbildlich…
Reinblütig…
Allein wenn er diese Worte hörte hätte er am liebsten laut aufgelacht. Dieses ominöse ‚Jahrhundertgewitter' war der Beste Beweis dafür, dass die Welt doch nur aus Lug und Betrug bestand. Blaise wusste, dass diese scheinbar ungewöhnlichen Naturphänomene ähnlich wie letzten Sommer von Zauberern und Hexen ausgelöst wurden. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken durfte, sammelten sich die Nachfolger des Dunklen Lords vermehrt hier im Süden, und waren auch für die Morde an einigen Muggeln verantwortlich. Blaise hatte nicht die Absicht mit Todessern in Verbindung gesetzt zu werden, obwohl er wusste, dass seine Mutter mit den schwarzen Magiern sympathisierte. Er sollte zusehen, dass er schleunigst hier wegkam, doch das Krachen der Donnerschläge besann ihn. In ein Unwetter hinein zu disapparieren barg selbst für ihn gewisse Risiken.
„Also dafür, dass ich nicht frage wo sie herkommen müssen sie mir im Gegenzug ihren Namen verraten!" rief sie aus der Küche.
Blaise stand mit der stoischen Ruhe einer ägyptischen Sphinx im winzigen Wohnzimmer von Marlenes Ferienwohnung und musterte seine Umgebung eingehend. Vor sechzig Jahren währe sie bestimmt modern gewesen. Die gemusterte Tapete und die weißen, durchsichtigen Vorhänge, die wohl doch etwas neuer waren, ließen den Raum noch ein bisschen kleiner wirken. Auf der Kommode lag etwas das Blaise nach näherem Hinsehen als Kamera identifizierte. Verächtlich kräuselte sich sein Mund. Die kleinen Dinger nahmen unbewegte Bilder auf. Steinzeitlich.
„Sollten sie sich nicht zuerst vorstellen?" Fragte er mit schmalen Lippen in Richtung der Kamera und wandte schließlich den Kopf der kleinen Küchentür zu.
Mit immer noch wuscheligen Haaren und zwei dampfenden Tassen in der Hand trat die junge Frau aus der Küche. Ihr Gesicht drückte kurz Erstaunen, dann Verlegenheit aus.
„Entschuldigung. Marlene. Marlene Pietrowski." Sie lächelte und blickte ihn aus ihren sumpfgrünen Augen erwartungsvoll an.
Blaise viel auf, dass ihre bunte, dünne Bluse vorne mit etwas gelbem gesprenkelt war. Sah aus wie Blütenstaub.
„Zabini, Blaise", antwortete er unwillig.
Sie bedeutete ihm sich zu setzen und stellte die beiden Tassen auf den Wohnzimmertisch.
Widerstrebend setzte sich Blaise auf das unförmige, braun-orangene Sofa während er sich fragte was bei Merlins Bart er eigentlich hier tat.
„Interessanter Name. Habe ich noch nie gehört." Ließ sie verlauten, nahm sich eine der Tassen und lehnte sich zurück.
„Ihr Name ist ebenfalls alles andere als gewöhnlich", knurrte Blaise verstimmt, der private Feststellungen oder Fragen im Bezug auf seine Familie generell nicht mochte und schenkte ihr einen eisigen Blick.
„Oh", haspelte Marlene. "So war das nicht gemeint, glauben sie mir. Ich wurde auch schon oft
wegen meinem Namen angesprochen."
Unerhört. Das Klang, als sähe sie eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen beiden. Abschätzend wanderte sein Blick aus dem Augenwinkel über ihre Erscheinung. Sie sah aus, als währe sie sich ihrem verlotterten Aussehen gar nicht bewusst. Eine andere Frau würde sich stundenlang herrichten, bevor sie ihm gegenüber trat, und dieses Muggelweib hielt es nicht mal für notwendig, sich die Haare zu bürsten. Irgendwie wurmte ihn das, auch wenn er es nie zugeben würde. Sogar noch mehr als bei Ginny Weasley, die ihm offen ihre Abneigung zeigte.
„Marlene Pietrowski. Woher kommt das?"
Marlene musste grinsen. Der dunkelhäutige sprach ihren Namen aus wie eine unerforschte Krankheit. Sie hatte schon viele Menschen mit einer harten Schale kennen gelernt, aber dieser Mann war der Gipfel.
„Mein Vater ist polnischer Einwanderer", meinte sie und ihr Grinsen verlor sich während ihrer Erklärung zu einem sehr nachdenklichen Gesichtsausdruck. „Und die Lieblingssängerin meiner Mutter war schon immer Marlene Dietrich. Die kennen sie doch sicher, oder?"
„Sicher", meinte Blaise und nickte überheblich.
Kurz herrschte Stille und jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen. Blaise jedenfalls beschäftigte sich verbissen mit der Frage, wer bei Merlins Unterhosen bloß diese Marlene Dietrich war.
„Hey, sie können mich nicht einschüchtern. Blaise ist französisch oder?" fragte Marlene plötzlich unvermittelt, und lächelte schelmisch.
Verärgert bemerkte Blaise, dass die Rothaarige immer gesprächiger und entspannter wurde. Sie pustete in ihre Tasse und wartete auf eine Antwort.
Die er ihr bestimmt nicht geben würde!
Was war das überhaupt für ein Trunk, den sie ihm da hingestellt hatte?
Bemüht seine Neugier im Zaum zu halten lehnte er sich vor und griff nach der Tasse.
Beäugte den Inhalt. Es sah eigenartig aus. Bräunlich. War das dieses komische Kaffeezeug der Muggel?
Um sich keine Blöße zu geben nahm er einen Schluck ohne den Duft einzuatmen. Es schmeckte orientalisch und würzig.
„Ihr Kaffe schmeckt eigenartig" urteilte er finster, stark bemüht, ihr nicht seine Überraschung obgleich des interessanten Getränkes zu offenbaren.
Sie gluckste. „Liegt wohl daran, dass es kein Kaffee ist. Indischer Gewürztee. Hat mir eine entfernte Verwandte von einer Geschäftsreise mitgebracht."
Jetzt belehrte ihn diese unverschämte Person auch noch. Gerade wollte er zu einer harschen Antwort ansetzen, da brachte ein Donnerschlag die Erde leicht zum vibrieren.
„Faszinierend, nicht?" flüsterte Marlene leise, als es nachließ. „Wenn ich keinen Blitzableiter hätte, dann währe mir schon etwas mulmig zumute"
Plötzlich sprang sie auf, eilte zum Fenster und schob den dünnen Vorhang beiseite.
„Sehen sie nur!"
Erst dachte Blaise, dass die junge Miss Pietrowski so beeindruckt von den Launen der Natur sei und wollte schon einen herablassenden Kommentar abgeben, da sah er es auch.
Diese verrückte Muggelfrau hatte ihn vollkommen abgelenkt!
Ein leuchtend grünes Licht strahlte schwach zwischen den Bäumen des nahe gelegenen Waldrandes hervor.
„Ach du meine Güte. Haben sie das gesehen?" Rief Marlene aufgeregt. „Da ist doch tatsächlich der Blitz eingeschlagen! Und diese eigenartige Verfärbung, dass muss irgendwie mit dem Wetter …"
Auch wenn Blaise es sich kaum anmerken ließ, war er zutiefst geschockt. Er hatte es gespürt. Jeder anständige Zauberer hätte es gespürt. Das war mitnichten ein Blitzeinschlag gewesen, noch hatte es mit einem sonstigen Wetterleuchten zutun.
Verdrängte Erinnerungen aber auch die Unterrichtsstunde mit dem verrückten alten Mad Eyed Moody schossen ihm durch den Kopf.
Ein Unverzeihlicher Fluch.
Avada Kedarvra.
„…müssen unbedingt nachschauen!"
„Was?" Irritiert wandte Blaise den Blick vom Wald ab. Marlene schaute ihn eindringlich an.
„Ich sagte, dass auf der anderen Seite des Waldstreifens ein altes Herrenhaus steht! Es kann sein, dass der Blitz dort eingeschlagen ist!"
„Ach was die haben bestimmt-" setzte Blaise unwirsch an um den unsicheren Klang in seiner Stimme zu verdrängen, doch Marlene unterbrach ihn aufgeregt.
„Eben nicht! Sie haben keinen Blitzableiter! Als ich vor ein paar Tagen wegen der Brombeeren tiefer in den Wald bin, habe ich das Haus doch gesehen."
Schnellen Schrittes lief sie aus dem Wohnzimmer und in die winzige Diele. Blaise folgte ihr mit einer bösen Vorahnung.
„Was haben sie vor?" Rief er ihr finster hinterher. „Das sehen sie doch! Nachsehen ob bei denen alles in Ordnung ist!" Behände streifte sie sich ihre Halbschuhe über. „Vielleicht brennt es irgendwo oder sonst was Schlimmes ist passiert!"
Verdammt! Und ob da was Schlimmes passiert war, dachte sich Blaise entsetzt.
Es würde noch viel Schlimmeres passieren, wenn diese verrückte Muggelfrau anfing Heldin zu spielen!
Blaise war nicht verblödet, sein glasklarer Verstand hatte sofort richtig kombiniert. Wenn sich Todesser hier im Süden sammelten, welcher Treffpunkt war dann besser geeignet als das pompöse Herrenhaus der Malfoys? Wahrscheinlich hatten sie irgendjemanden umgebracht, einen unerwünschten oder abtrünnigen oder auch bloß einen neugierigen Muggel.
Vollkommen egal. Tatsache war, dass wenn diese Miss Pirtowowski oder wie sie auch immer hieß jetzt da draußen herumstiefeln und entdeckt werden – zweifellos einen sehr blutigen Tod sterben würde. Sie würden ihre Leiche kaum verschwinden lassen, sondern irgendwo platzieren, wo sie bald gefunden werden würde.
'Seht her, ihr könnt nichts dagegen tun das wir Muggel abschlachten.'
An sich noch kein Problem, wie sich Blaise sagte, doch die Abteilung für magische Strafverfolgung würde die ganze Gegend nach Zaubern, und möglichen Tätern durchforsten und dabei auch sein Apparieren und Disapparieren nachweisen können.
Zwar könnten sie ihn nicht für Mord verantwortlich machen, aber er würde riesige Probleme bekommen. Vor seinem Geistigen Auge sah er schon die Schlagzeilen der Klatschpresse;
Blaise Zabini trifft sich mit einer Muggelfrau!
Muggelstämmige Geliebte von Blaise Zabini ermordet!
Erneuter Skandal im Hause Zabini!
Bei allem was magisch war, das musste er verhindern! Selbst wenn das Ganze nicht so ausgeschlachtet werden würde! Sein Ruf stand auf dem Spiel. Auch wenn ihm die Meinung anderer egal war, einen solchen Eklat konnte er sich nicht leisten! Das er nicht einfach gleich wieder verschwunden war! Er hätte die Frau doch auch liegen lassen können. Er hätte es wissen müssen, das dieses Schlammblut nur Ärger brachte.
Entschlossen packte er ihren Arm, denn sie wollte gerade die Haustüre öffnen.
„Nicht!"
Verwirrt sah sie ihn an. „Was meinen sie mit ‚Nicht!'?"
„Sie können da jetzt nicht rausgehen! Das… das Gewitter, sie könnten vom Blitz getroffen werden, gerade in einem Wald ist es gefährlich!"
„Machen sie sich keine Sorgen, Blitze schlagen immer in höheren Punkten ein außerdem bin ich vorsichtig."
Es geht hier nicht um dich du naiver Muggel, dachte sich Blaise wütend.
Ach wirklich? Flüsterte eine Stimme in seinem Kopf.
Wem machst du etwas vor?
Marlene wurde unruhig. „Würden sie mich bitte loslassen?"
„Nein."
„Wie Bitte?" Entgeistert starrte sie ihn an. „Hören sie es ist nett, dass sie sich sorgen, aber es kann sein, dass da Leute in Schwierigkeiten sind!"
„Sie werden in Schwierigkeiten kommen wenn sie jetzt da draußen herumrennen!"
„Ich sagte doch, ich bin vorsichtig!" Ihre ruhige, dunkle Stimme wurde zusehends verärgerter.
Heiße Wut stieg in Blaise auf. Er war es gewohnt, dass die Menschen auf ihn hörten. Der Zauberstab in seiner inneren Brusttasche schien immer schwerer zu werden.
Schluss damit, dachte er sich kalt und fuhr mit der freien Hand in die Tasche um den Zauberstab herauszuziehen. Marlenes Augen folgten seiner Bewegung und Panik machte sich in ihr breit.
Verdammt, er hatte sie getäuscht! Wie hatte sie nur so dumm sein können, einen Fremden in ihre Wohnung zu lassen! Vielleicht war er bewaffnet und wollte sie ausrauben oder sogar umbringen! Dem würde sie's zeigen!
Sie ließ ihr rechtes Bein zurückschwingen und trat ihm mit voller wucht ans Schienbein.
Trotz des explodierenden Schmerzes in seinem Bein griff Blaise instinktiv unterhalb ihrer Kehle zu und drückte sie rabiat an die Haustüre. Während sie vor Überraschung nach Luft schnappte hielt er schon die Spitze seines Zauberstabes gegen ihre Stirn gedrückt.
Sein schönes Gesicht war vor Wut und Entschlossenheit verzerrt. Vollkommen verängstigt wollte Marlene, nicht weniger entschlossen und durch eine ordentliche Ladung Adrenalin in ihrem Blut beflügelt, zum Gegenschlag ausholen, da-
„Obliviate."
In den Kopf, das Gedächtnis eines Menschen einzudringen bedeutete nicht, dass man alle Informationen säuberlich aufeinander gestapelt und am besten noch zeitlich geordnet vor sich liegen hat.
Innerhalb weniger Sekunden nimmt das Gehirn Millionen Informationen an, selektiert, speichert ab, verwertet und bewertet. Das Zusammentreffen mit dem Bentley-Fahrer war abrupt und radikal gewesen. Als Blaise es aus seinem Gedächtnis gelöscht hatte, war es sicher, dass der Mann keine Erinnerungen an ihn oder den Unfall haben würde.
Mit der Muggelfrau war es vollkommen anders. Ihre Begegnung bezog sich nicht auf wenige Sekunden. In der knappen halben Stunde, die voll gestopft mit Erinnerungen an ihn war hatte sie zahllose Informationen über ihn aufgenommen. Vorsichtig zerrupfte er die noch zarten Fäden, die ihr Kurzzeitgedächtnis schon mit dem Langzeitgedächtnis verwoben hatte und löschte systematisch alle Erinnerungen, die Auskunft über ihn gaben.
Es würde der jungen Miss vorkommen, als sei sie allein durch den Regen zu ihrem Haus gegangen, und hätte sich alleine einen Tee gemacht, um dann am nächsten Morgen mit zerknitterter Kleidung auf dem hässlichen Sofa aufzuwachen.
Es gab nur ein Problem. Der Abschnitt, in dem er sie von der Straße gezogen hatte. Er musste ihn ebenfalls komplett löschen. Die Verbindungen darüber waren in ihrem Gedächtnis viel zu kompakt. Wie ein Tumor saßen sie in ihrer Erinnerung. Es war unmöglich andere Erinnerungen am leben zu lassen. Sie hatte, kurz nach ihrer Ohnmacht verbissen versucht, sich an alles zu erinnern, an was sie sich nur erinnern konnte um die sowieso schon vorhandene Lücke aufzufüllen. Überhaupt würde nach seinem Zauber die gesamte letzte Zeit für sie nur sehr verschwommen abrufbar sein. Währe Blaise ein Spezialist im Bereich der Gedächtnislöschung gewesen, hätte er raffiniert vorgehen und sogar vorhandene Lücken mit neuen Erinnerungen auffüllen können. Doch im Gebiet des Obliviates bewegte er sich sowieso schon auf verdammt dünnem Eis, und er traute es sich nicht zu noch tiefer in ihr Unterbewusstsein vorzudringen.
Nach wenigen Minuten hatte er den Zauber gründlich ausgeführt und zog sich aus dem Gedächtnis der Muggelfrau zurück.
Unbewusst waren sie beide zu Boden gegangen.
Marlene lehnte mit schneeweißem Gesicht an der Haustür und wurde nur noch von Blaises Arm gehalten, der mittlerweile horizontal über ihren Schlüsselbeinen lag, damit sie während des Zaubers nicht zur Seite wegrutschte. Ihre Augen waren glasig und ihre Lippen zitterten leicht. Unter der hellen Bluse zeichnete sich deutlich eine Gänsehaut ab, dort wo die milchige Haut nicht von dem Top bedeckt wurde.
Plötzlich hatte Blaise ein eigenartiges Gefühl, über das er eigentlich lieber nicht nachdenken wollte. So etwas sollte er nicht für ebenbürtige und schon gar nicht für einen Muggel empfinden.
Mitleid.
Auch wenn sie weggetreten war, es konnte kaum angenehm sein, wenn einem ein fast gänzlich Fremder das Gedächtnis durchstöberte. Entschlossen verdrängte er den Gedanken. Es war für sie beide das Beste. Eigentlich hatte er doch wohl eher edel gehandelt! Auf die weise blieb sie im Haus und es entstanden keine Schwierigkeiten.
Nach kurzem überlegen schob er einen Arm unter ihren Rücken, den anderen unter ihre Kniekehlen und hob sie hoch. Unerwarteter Weise war sie gar nicht mal so leicht. Zwar sah sie schlank aus, aber sein noch leicht pochendes Schienbein erinnerte ihn daran, dass die Rothaarige ordentlich Kraft und wohl auch ein paar Muskeln hatte. Mit einem mürrischen Gesichtsausdruck trug er sie in das kleine Wohnzimmer und drapierte sie möglichst zufällig auf dem Sofa. Ihre Augen glänzten immer noch fiebrig und sie redete leise vor sich hin. Blaise beugte sich zu ihr hinunter. Sie nahm ihn gar nicht wahr.
Abermals zog er seinen Zauberstab und stupste ihr damit sanft gegen die Schläfe. „Dormitans*", sprach er leise, zog seinen Zauberstab wieder zurück und steckte ihn ein. Langsam bedeckten ihre Lieder die tiefgrünen Augen und ihr Atem wurde ruhiger. Sie schlief.
Abermals verweilten Blaises Augen auf ihrer Gestalt. Sie sah aus wie eine Irin. Ein paar Sekunden saß er so da, dann besann er sich und stand auf.
Geistesgegenwärtig zog er ihr die abgewetzten Schuhe aus und stellte sie ordentlich in der Diele unter die Garderobe, bevor er die Tasse säuberte und in die Küche zurückschweben ließ.
Ohne eine Spur zu hinterlassen oder zurück zu schauen öffnete er die alte Haustüre und trat hinaus in den späten Nachmittag. Der Himmel war noch von Wolken bedeckt und hüllte den Tag in eine beinahe nachtschwarze Dunkelheit.
Kurz überlegte er, dann entschied er sich erst einmal einige Kilometer zwischen sich und diesen unglückseligen Ort zu bringen bevor er disapparierte.
Doch schon nach einigen Schritten blieb er stehen und drehte sich langsam um. Die Atmosphäre war immer noch mit schwarzer Magie durchtränkt und schien mit kalten Fingern nach allem zu greifen, dass sich nicht wehren konnte.
Ihn beschlich das dunkle Gefühl, dass in nächster Zeit viele Menschen egal ob magisch oder nicht ihr Leben lassen würden.
Abermals zog Blaise seinen Zauberstab hervor und richtete ihn auf das windschiefe kleine Ferienhaus.
„Protego Horribilis", sprach er leise und wartete, bis sich der mächtige Schutzschild gegen schwarzmagische Flüche vollkommen um das Haus gelegt hatte.
Dann setzte er seinen Weg in die Düsternis dieses spätsommerlichen Tages fort.
*Dormitans = schläfrig (lat.) ist kein offizieller Zauberspruch.
