The last day

"Deine Schwester wurde schon als Glückskind geboren." Mit Verachtung schaute der große Mann auf den vor ihm knienden Jungen herab. Seine goldenen Augen starrten in die ebenso goldenen des Kindes. "Du hattest Glück überhaupt geboren zu werden."

Der 12-jährige zitterte am ganzen Körper, während sein Vater über ihm tauerte. Er hatte es schon oft erlebt. Sein Vater nutzte jede Gelegenheit, um ihn zu demütigen. Eigentlich war es nichts Besonderes mehr, es gehörte zur täglichen Routine. Trotzdem schmerzte diese Abweisung jedes Mal aufs Neue.

"Vater, ich gebe doch mein Bestes!" "Offensichtlich ist dein Bestes nicht gut genug. Wie sollte es auch anders sein. Seit deiner Geburt warst du eine Last für mich. Du solltest dich glücklich schätzen, dass ich mich dazu entschlossen habe dich großzuziehen, trotz deiner Unbegabung in jeglicher Hinsicht. Ich hätte dich schon früher loswerden sollen, aber nun kann dich deine Mutter nicht mehr beschützen. Du bist schwach. Genau wie sie. Und das ist euer Fehler." Ein selbstgefälliges Grinsen erschien auf dem Gesicht des Mannes. Seine Augen funkelten. Der Junge wagte nicht aufzusehen, doch er kannte seinen Vater gut genug. Er kannte diesen Blick. Es war seine gewöhnliche Reaktion. Sein Vater schien es zu genießen, als wenn es eine Genugtuung für ihn wäre.

Tränen schossen in die matten Kinderaugen. Er wollte nicht weinen. Nicht jetzt. Nicht vor ihm. Der Verlust seiner Mutter hatte ihn schwer getroffen. Sie war als einzige für ihn da gewesen. Jetzt war er allein und auch wenn er an dem Glauben, dass sein Vater ihm niemals etwas schreckliches antun würde, festhielt, fürchtete er doch die Skrupellosigkeit dieses Mannes.

"Vater, verzeiht, ich..." Das Grinsen verschwand und ein Ausdruck von Hass und Verachtung nahm seinen Platz ein. "Was soll ich verzeihen? Dass du eine Schande bist? Für mich? Für meine Familie? Du beschmutzt den ehrenhaften Namen, den wir tragen. Du hast diesen Namen nicht verdient. Und nun geh mir aus den Augen!" Der Junge folgte dem Befehl und verließ den Raum ohne sich noch einmal umzudrehen.

Als er sich sicher war, dass sein Vater ihn nicht mehr sehen konnte, fing er an zu laufen. Und mit ihm liefen die Tränen. Er konnte es nicht länger zurückhalten. Der Junge rannte in sein Zimmer, warf sich auf sein Bett und weinte in die Kissen. Es befreite ihn. Aber die Leere, die seine Mutter hinterlassen hatte, war noch immer da. Nichts und niemand könnte sie jemals schließen. Der Gedanke an sie ließ ihn noch tiefer schluchzen. So lag er lange Zeit, bis er nicht mehr weinen konnte. Es verstummte in ein leises Wimmern.

Schließlich stand er auf und holte eine Schachtel aus seinem Schrank. Der Junge legte sie vor sich auf den Tisch, ehe er sie behutsam öffnete. Er nahm einen Dolch heraus und las die Inschrift: 'Gib niemals kampflos auf' Er hatte gekämpft. Aber jetzt reichte es ihm. Es fehlte ihm die Kraft, um weiterzumachen. Er war nur ein Kind. Und dieses Kind konnte nicht mehr. Es brauchte Liebe. Bedingungslose Liebe. So wie sie ihm einst seine Mutter gab. Dafür hatte er gekämpft. Doch nun war der Kampf vorbei. Seine Mutter war weg. Sein Vater war ihm geblieben. Er hatte auf seine Liebe gehofft, doch nun hatte er eingesehen, dass diese Hoffnung zu nichts führte außer Enttäuschung.

Ein letzter Blick auf die Klinge. Danach schlossen sich die goldenen Kinderaugen. Die Augen eines Kämpfers.