Zwischen den Fronten

Töte mich!

„Autsch", stöhnte Harry, als er sich mühsam vom Boden hochrappelte.

Dudley hatte ihn grob aus dem Weg geschubst, als er an seinem Cousin vorbei gehen wollte. Harry hatte das Gleichgewicht verloren und war rücklings in die Kommode gekracht, die bedrohlich zu wackeln gefangen hatte. Ein Bilderrahmen war dabei herunter gefallen, zuerst auf Harrys Kopf und dann mit einem verdächtigen Klirren auf dem Boden.

Harrys Rücken und Kopf schmerzen zu sehr, als dass er mitbekommen hätte was genau geschah, aber er konnte Dudley laut und deutlich hören, der plötzlich zu heulen anfing. „Nein, das war mein Lieblingsfoto."

Es dauerte nicht lange, da kam Tante Petunia herbei gestürmt, um zu sehen was passiert war.

„Duddy Schätzchen, was ist los?" fragte sie sofort besorgt.

„Er hat das Foto kaputt gemacht!" heulte Dudley wie ein Baby und zeigte mit dem Finger auf den am Boden liegendem Bilderrahmen.

Harry folgte Dudleys Blick und hob den Rahmen hoch. „Der Rahmen hat nur einen kleinen Sprung, das Foto selber ist doch noch ganz!" erklärte Harry verwirrt über Dudleys babyhafte Verhaltens wegen eines Fotos. Er war fünfzehn! Dass ihm das nicht peinlich war, wie er sich aufführte.

„Du hast es kaputt gemacht", rief Dudley hasserfüllt.

„Du hast mich geschubst. Du bist selber schuld!" erklärte Harry wütend über die ungerechtfertigte Anschuldigung.

„Du bist mir im Weg gestanden!" erwiderte Dudley hitzig.

„Ist gar nicht wahr", verteidigte sich Harry.

„Ruhe!" ging nun Tante Petunia dazwischen. „Duddy Schätzchen, Mami wird dir einen neuen Rahmen besorgen. Und DU…" dabei wandte sich Petunia an Harry. „Geh in dein Zimmer und warte dort bis Vernon nach Hause kommt."

„Aber ich habe gar nichts gemacht!" rief Harry über die Ungerechtigkeit.

„Ich will kein Wort mehr hören. Geh jetzt!" zischte Petunia.

Wütend stampfte Harry davon. Er wusste, dass es keinen Zweck hatte, mit seiner Tante weiter zu diskutieren. Es war völlig egal, ob er schuld war oder nicht. Dudleys Wort war Gesetz und Onkel Vernon war der Richter.

Seufzend ließ sich Harry auf seinem Bett nieder. Wieso musste er immer wieder hier her zurück? Wieso tat ihm Dumbledore das immer wieder an? Wieso musste Sirius sterben? Bei den Gedanken an seinen Paten schnürte sich Harrys Herz schmerzhaft zusammen. Wieso war er so dumm gewesen, in Voldemorts Falle zu tappen? Seinetwegen war Sirius nun tot und die einzige Chance, jemals dieser Hölle hier zu entkommen, verschwunden.

Verzweifelt und wütend schlug Harry auf die Matratze ein. Es war einfach alles so unfair.

Harry lauschte nervös auf, als er Onkel Vernons Auto die Einfahrt hochfahren hörte. Er hatte keine Ahnung was Vernon mit ihm machen würde. Es war doch nur ein dummer Bilderrahmen gewesen.

Als Vernon ins Haus stapfte, konnte Harry hören, wie sich Tante Petunia und sein Onkel kurz unterhielten. Es dauerte nicht lange, da kam Vernon auch schon die Treppen hoch und mit einem lauten Knall sprang die Tür zu Harrys Zimmer auf.

„Du undankbarer nichtsnutziger Bengel!" brüllte Vernon und schmiss die Tür hinter sich zu.

Harry saß kerzengerade auf seinem Bett und sah seinen Onkel erschrocken an.

„Wir geben dir zu Essen und ein Dach über den Kopf und du dankst es uns, indem du unsere Sachen kaputt machst?"

„Aber Onkel Vernon, Dud-"

„Hör auf andere zu beschuldigen!" brüllte Vernon wütend.

Harry konnte seinen Onkel nur ungläubig ansehen. Merlin, es war doch nur ein einfacher Bilderrahmen! Was kann das Ding schon kosten?

„Offensichtlich ist es mal wieder an der Zeit, dir deinen Platz in dieser Familie klar zu machen!" sagte Vernon kam auf Harry zu und zog den Jungen an seinem viel zu großem T-Shirt hoch. Dann setzte er sich aufs Bett und war dabei Harry über seinen Schoß zu ziehen, als der Junge sich losriss.

„Ich bin fünfzehn!" erklärte er entrüstet.

„Ach ja? Und du glaubst du bist zu alt für eine Lektion über meinen Knien?" fragte Vernon in einem eigenartigen Ton.

„Ja!" sagte Harry, unsicher wohin das führen wird.

„Dann soll ich dich also lieber deinem Alter entsprechend bestrafen?" fragte Vernon weiter.

Harry runzelte die Stirn. „Nein. Du sollst mich gar nicht bestrafen. Ich habe nichts gemacht! Dud-"

„Lass meinen Sohn da raus!" brüllte nun Vernon, sprang auf und bohrte seinen Zeigefinger schmerzhaft in Harrys Brust. „Er ist nicht daran schuld, dass wir uns mit dir abgeben müssen!"

Harry hatte nicht viel Zeit zu reagieren, bevor Onkle Vernon ihn bei den Haaren packte und zum Bett zog.

„Au. Lass los!" rief Harry.

Wenig später fand sich Harry bäuchlings auf seinem Bett wieder. Vernon saß auf ihn drauf. Harry bekam kaum Luft und entkommen konnte er noch weniger.

„Diese Lektion wirst du hoffentlich nicht so schnell vergessen!" schnaubte sein Onkel völlig neben sich.

Oxoxo

Lord Voldemort saß gelangweilt im Wohnzimmer vor seinem Kamin und streichelte Nagini, seiner Schlange, gedankenverloren über den Kopf. Severus, Lucius und zwei weitere Todesser waren gerade bei ihm, um die nächsten Schritte zu planen, aber aus irgendeinem Grund konnte sich Voldemort nicht richtig konzentrieren. Er wurde das Gefühl nicht los, dass etwas nicht stimmte.

Sein Gefühl sollte ihn nicht trügen, denn plötzlich gab es einen lauten Knall und eine am Boden liegende Gestalt tauchte in Mitten seines Wohnzimmersteppichs auf.

„Was zum-" rief Voldemort und sprang wütend auf. Wer konnte es wagen einfach in sein Haus einzudringen? Wer konnte einfach so durch seine Schutzschilde apparieren?

Doch plötzlich sah die Gestalt auf. Grüne Augen bohrten sich in die schlangenähnlichen von Voldemort. „Bitte…" hauchte die Person kraftlos, „…bitte, töte mich!"

Alle im Raum waren vor Schreck erstarrt. Diese gequälte Person war niemand geringerer als Harry Potter.

Wie lange war Voldemort nun schon hinter dem Jungen her? Und jetzt lag der Junge da, gebrochen und ungeschützt und flehte um sein Ende?

Das war einfach nicht richtig. So sollte es nicht ablaufen. Voldemort wollte immer einen schönen Endkampf, wo er allen zeigen konnte, dass er es noch drauf hatte. Dieser gebrochene Junge war kein würdiger Gegner.

„Bitte" rief Harry nun eindringlicher, „töte mich! Lass es zu Ende sein. Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Diese Welt hat keinen Platz für mich."

Voldemort fingerte mit seinem Zauberstab. Er kannte das Gefühl nur zu gut. Bevor er gelernt hatte, wer er war und wie er mit seiner Magie umgehen konnte, hatte er auch geglaubt, dass in dieser Welt kein Platz für ihn wäre. Aber das lag weit hinter ihm. Nun hatte er einen Platz in der Welt. Es gab immer noch einige, die ihn lieber tot sehen wollten. Aber keiner hatte den Mut ihn tatsächlich zu töten.

Angeblich sollte ja Harry ihn umbringen, aber wenn er sich den Jungen so ansah, konnte das wohl nicht ganz stimmen.

Die anderen im Raum wagten nicht sich zu bewegen. Gespannt warteten sie, was ihr Anführer tun würde.

Unter Stöhnen richtete sich Harry auf seine Knie. „Bitte!" keuchte er, bevor er einen Hustenanfall bekam und Blut spukte.

„Nein!" kam die plötzliche Antwort. Voldemort beugte sich neben Harry auf ein Knie hinunter. Er nahm Harrys Kinn und sah dem Jungen lange und tief in die Augen, ohne seinen Blick abzuwenden, wandte er sich an seine Untergebenen. „Severus. Sieh zu, was du an dem Jungen heilen kannst! Lucius, kümmere dich darum, dass das Gästezimmer für den Jungen hergerichtet wird. Der Rest, wegtreten!"

Harry war wie vor den Kopf gestoßen. Er war sich so sicher gewesen, dass Voldemort mit ihm kurzen Prozess machen würde. Verzweifelt sah er seinem Widersacher an. Er sagte nichts, doch konnte man in seinem verletzten Blick deutlich die Frage „Warum?" lesen.

Doch Voldemort konnte diese Frage nicht beatworten. Er konnte sich selbst nicht erklären, was ihn zu dieser Entscheidung trieb. Aber eines war ihm klar. Er konnte den Jungen nicht einfach so gehen lassen. Wenn Harry Potter an Dumbledores Seite keinen Platz hatte, dann würde sich ja vielleicht einer an seiner Seite finden. Mit ungewöhnlicher Zärtlichkeit strich er dem Jungen über die Wange, ehe er sich wieder aufrichtete und zurück trat.

So wie Severus sich dem Jungen genähert hatte, fiel Harry in endlose Dunkelheit. Das letzte Fünkchen Kraft hatte ihn verlassen.

Oxoxo

Als Harry aufwachte, fühlte er sich einfach nur leer. Sein Kopf pochte, aber ansonsten fühlte er keinerlei Schmerzen. Er hatte keine Ahnung wo er war, oder was passiert war. Er tat sich schwer sich auf irgendetwas zu konzentrieren.

Es fiel ihm sogar schwer, seine Augen einfach auf zu machen und als es ihm schließlich gelang, sah er nur sehr verschwommen. Zuerst wunderte er sich darüber, doch dann fiel ihm ein, dass er normaler Weise eine Brille hatte. Doch wo war diese?

Plötzlich hörte Harry Stimmen. Erschrocken schloss er seine Augen wieder und lauschte angespannt.

„Was denkst du, wie lange es dauern wird, bis er aufwacht?" fragte eine helle zischende Stimme.

„Mein Lord, das ist schwer zu sagen. Er hatte schwere innere Verletzungen, ebenso wie mehrmals heftige Schläge auf den Kopf bekommen. Die Frage die sich eher stellt ist, ob er wieder aufwacht. Was immer der Junge durchlebt hat, es war ein traumatisches Erlebnis. Es gibt Fälle, wo die Patienten nicht mehr aus ihrem Koma erwacht sind", antwortete eine tiefere Stimme.

„Er muss wieder aufwachen, Severus! Es darf nicht so enden!"

„Ich tue alles, was in meiner Macht steht, mein Lord!"

Nach diesen Worten entfernten sich die Schritte einer Person, während die anderen näher an die Tür kamen, welche schließlich geöffnet wurde.

Schritte näherten sich seinem Bett und Harry lag stockstill und hielt die Luft an, um nicht zu verraten, dass er wach war.

„Potter, Potter. Wo hast du dich da nur reingeritten?" flüsterte die Person, ehe sie wieder vom Bett weg trat. Kurz darauf wurde es plötzlich um einiges heller. Offensichtlich hatte jemand die Vorhänge vom Fenster zurück gezogen.

Das helle Licht tat selbst durch die geschlossenen Augenlieder weh und Harry brummte verstimmt.

Die Schritte kamen eilig wieder näher. „Mr. Potter? Kannst du mich hören?"

Noch ein unwilliges Brummen ertönte.

„Hast du Schmerzen?"

„Kopf!" stöhnte Harry schließlich heiser. Er wusste der Name Severus kam ihm bekannt vor, aber noch konnte er ihn nicht einordnen. Daher öffnete er langsam die Augen. Aber alles was er sehen konnte, war nur eine dunkle verschwommene Person, die neben seinem Bett stand.

Dann spürte er plötzlich etwas Kühles auf seiner Nase und der Blick war auf einmal glasklar. Harry runzelte die Stirn. Er hatte die Person in der Tat schon mal gesehen. Mehrmals würde er meinen.

„Weißt du, wer ich bin?" fragte Severus schließlich.

Harry seufzte, es fiel ihm immer noch schwer sich zu konzentrieren. „Ich denke, ja, aber… ich weiß nicht."

„Ich bin Professor Snape. Zaubertranklehrer in Hogwarts."

„Hogwarts" wiederholte Harry nachdenklich, dann keuchte er erschrocken und riss die Augen auf, „Professor Snape!"

Severus musste schmunzeln. So einfach war er wohl nicht zu vergessen.

„Weißt du, wo du hier bist, oder wie du hier her gekommen bist?" fragte Severus weiter.

Doch Harry schüttelte verneinend den Kopf. „Wo bin ich denn?" fragte er schließlich. „Das hier sieht nicht nach Hogwarts aus."

„In der Tat. Das hier ist der Landsitz des Dunklen Lords. Merlin alleine weiß, wie du es geschafft hast dich in deinem Zustand hier her zu apparieren."

„Der Dunkle Lord?" fragte Harry nachdenklich. „Was für ein Lord…" Harry verstummte plötzlich. Man brauchte kein Legilementik anwenden um zu sehen, dass der Junge anfing sich zu erinnern.

Voldemort? Er war in Voldemorts Haus und lebte noch? Wieso sollte er hier her appariert sein? War er denn lebensmüde? Und dann fiel ihm alles wieder ein. Jegliche Farbe entwich seinem Gesicht und er begann zu zittern. „Er hätte mich töten sollen!" murmelte Harry, doch dann blickte er verzweifelt zu Professor Snape, „Wieso hat er mich nicht einfach getötet? Wieso haben Sie mich nicht sterben lassen? Hat dieser Horror denn nie ein Ende?"

Severus war im ersten Moment sprachlos, doch als der Junge sein Gesicht in seiner Armbeuge vergrub fragte er schließlich „Harry. Was ist passiert?"

„Wen interessiert es?" murmelte Harry.

„Mich. War es dein Onkel?" fragte Severus weiter.

„Was wissen Sie schon?" zischte Harry und ließ seinem Arm weit genug sinken, um seinen Professor finster an zu funkeln.

„Ich habe dich wieder zusammen geflickt, daher weiß ich was du in etwa durchgemacht hast, aber ich weiß nicht, wer es war", erklärte Severus schlicht.

Harry schloss schmerzgequält seine Augen. Tränen fingen an zu rinnen. „Ich will zu meiner Mutter", flüsterte er, ehe er den Kopf zu Seite drehte, sein Gesicht im Polster vergrub und komplett in Tränen ausbrach.

Planlos sah Severus den Jungen zu. Er wünschte sich auch Lily wäre hier. Wie viele Tränen hatte er damals für sie vergossen? Damals wollte er auch am liebsten sterben, um Lily wieder sehen zu können. Nie hatte er jemals darüber nachgedacht, dass diesem Jungen dieselbe unglaubliche Frau entrissen wurde. Niemals hatte er sich auch nur einen Gedanken darüber gemacht, wie Lilys Junge aufwuchs.

Dumbledore hätte doch etwas gesagt, oder getan wenn Harry daheim missbraucht worden wäre, oder etwa nicht? Manchmal war sich Severus nicht ganz sicher, welche Motivation wirklich hinter Dumbledores Handeln stand. Dumbledore hatte ihm damals geholfen, als man ihn nach Askaban schicken wollte, aber nicht ohne eigenen Nutzen. Oft fühlte Severus sich nur wie eine Schachfigur.

Der Dunkle Lord hingegen sah ihn immer als ganze Person. Er achtete Severus für das was er war. Dumbledore lächelt oft über Severus hinweg. Es war schwer sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden, da Dumbledore auch nicht gerade der Inbegriff des Guten war.

Severus stand zurzeit auf keiner der beiden Seiten. Er mochte weder Dumbledore noch den Dunklen Lord sonderlich. Seit er wieder als Spion im Einsatz war, fand er immer mehr Ähnlichkeiten zwischen den beiden. Doch als Doppelspion war er geschickt genug, die jeweilige Seite von seiner Treue zu überzeugen. Doch was geschah nun mit Potter?

Nachdem Harry immer noch herzzerreißend weinte, überkam Severus plötzlich der Impuls, den Jungen in die Arme zu nehmen. Und genau das tat er dann auch. Er setzte sich an den Bettrand und zog den Jungen in seine Arme.

„Können Sie mir nicht helfen diese Welt zu verlassen?" fragte Harry mit gebrochener Stimme.

„Wenn es so einfach wäre", murmelte Severus vor sich hin.

Harry seufzte und lehnte sich an Professor Snapes Schulter. „Es will mich doch sowie so keiner", flüsterte er vor sich her.

„Das glaub ich nicht. Du hast doch viele Freunde."

„Hab ich die wirklich? Sie können sich jederzeit von mir abwenden, wenn sie wollen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann sie erkennen, dass ich es nicht wert bin. Offensichtlich bin es nicht einmal mehr wert von Voldemort getötet zu werden."

Severus schwieg. Er wusste auch nicht, welches Spiel der Dunkle Lord nun trieb. Er verstand es auch nicht, warum er Harry heilen durfte. Wenn der Dunkle Lord den Jungen nur quälen hätte wollen, dann hätte er einfach nur abwarten müssen, bis Harry seinen Verletzungen erlag. Aber so, hatte Harry kaum mehr Schmerzen. Zumindest keine physischen mehr. Wie sehr Harrys Seele zerrissen war, war zurzeit nicht absehbar.

Oxo

Harry saß in seinem Bett, mit dem Rücken ans Kopfende gelehnt und starrte vor sich her, als er plötzlich ein leichtes Prickeln in seiner Narbe spürte. Überrascht sah er zur Tür, durch die eben jemand herein gekommen war.

„Hallo, Harry!" zischte die Stimme.

Harrys Herzschlag verdoppelte sich. Mit großen Augen starrte er sein Gegenüber an.

„Ich wusste, dass du wieder aufwachen würdest", fuhr Voldemort fort.

„Was willst du von mir?" fragte Harry schließlich leise und kraftlos.

„Die Frage ist eher, was willst du von mir?" entgegnete Voldemort amüsiert. „Als du zu mir kamst, wolltest du den Tod. Willst du das immer noch?"

Harry fühlte sich etwas überrumpelt. Doch nach einigen Minuten der Stille meinte er: „Ich weiß es nicht."

Nachdem Voldemort ihn nur interessiert ansah, ohne weiterzusprechen, fragte Harry schließlich, „Wieso hast du es nicht getan?"

Falls Voldemort darüber verärgert gewesen war, dass Harry ihn einfach per du ansprach, dann ließ er sich jedenfalls nichts anmerken, denn er fuhr gelassen fort: „Ich gestehe, ich weiß es nicht genau. Es kam mir nicht richtig vor."

Daraufhin musste Harry freudlos auflachten, „Du willst mich seit fünfzehn Jahren umbringen und jetzt, wo du die Gelegenheit hast, kommt es dir nicht richtig vor?"

„Verrückt, nicht wahr?" Voldemort gab ein Geräusch von sich, das an ein Kichern erinnerte, doch dann wurde er wieder ernst: „Sieh mal, ich habe das Gefühl, dass die Prophezeiung geplatzt ist!"

Harry runzelte verwirrt die Stirn. Also fuhr Voldemort fort. „Es heißt, der eine muss durch die Hand des anderen sterben, aber du kamst zu mir, nicht um zu kämpfen, sondern um aufzugeben und ich habe beschlossen, dich leben zu lassen. Nichts davon kommt in der Prophezeiung vor. Also wer sag, dass wir uns gegenseitig umbringen müssen?"

„Du hast alle umgebracht, dich ich geliebt habe!" rief Harry zornig. „Deinetwegen musste ich mit meinen Verwandten aufwachsen. Weißt du wie beschissen mein Leben ist? Alles wegen dir, alles wegen dieser blöden Prophezeiung. Und jetzt willst du mir erklären, dass du nicht mehr daran glaubst. Jetzt, nach fünfzehn Jahren?"

Voldemort kicherte erneut. „Wie ich sehe hast du deinen Kampfgeist immer noch nicht verloren!"

Harry knurrte, „Ich hasse dich. Was willst du von mir?"

„Ich will dir einen Platz in dieser Welt geben", erwiderte Voldemort gelassen.

„An deiner Seite, ja?" fragte Harry hitzig.

„Ist es für dich so undenkbar? Bedenke, auch wenn ich für den Tod deiner Eltern verantwortlich sein soll, tagein tagaus gequält haben dich deine Verwandten von sich aus. Darauf hatte ich keinen Einfluss. Sie haben dich gefürchtet, weil sie ignorant und verbohrt sind. Was meinst du, wieso ich die Muggeln in dieser Welt zu Recht weisen möchte? Weil sie immer noch nicht verstehen, dass wir Zauberer auch unseren Platz hier haben!

„Diese Muggeln sind so feige. Sie nehmen es nicht mit erwachsenen Zauberern auf, sie versuchen die Kinder klein zu kriegen. Kinder die oft nicht wissen, wie sie sich wehren sollen, denen die Magie außerhalb der Schule verboten wird.

„Dieses System, was sich das Zaubereiministerium und das Ministerium der Muggeln ausgedacht haben, funktioniert nicht. Magische Kinder, die mit Muggeln aufwachsen, werden fast immer unterdrückt. Aber tut jemand was dagegen? Nein."

Harry sah Voldemort verwundert an. Es kam ihm vor, als ob sein Gegenüber aus eigener Erfahrung sprechen würde.

„Aber wieso bringst du dann auch unschuldige Zauberer um?"

„Unschuldig…" Voldermort schnaubte, „Wer kann schon mit reinem Gewissen von sich behaupten, dass er völlig unschuldig ist? Davon abgesehen, im Krieg muss man Opfer lassen. Zauberer wie Dumbledore, glauben an das Rechtssystem. Deine Eltern taten dies auch. Sie haben nie miterlebt, wie sehr manche Zauberer unter den Muggeln leiden. Sie dachten, ich liege falsch und muss gestoppt werden. Dabei sind es die Muggeln, die gestoppt werden müssen.

„Wozu gibt es ein Geheimabkommen? Warum dürfen minderjährige Zauberer nicht zaubern? Doch nur, weil es die Oberhäupter der Muggeln so gefordert haben. Die Muggeln haben Angst vor uns, deswegen wollen sie den größten Teil ihres Volkes im Dunklen lassen und unsere Existenz geheim halten.

„Ich bin der Meinung, dass das falsch ist. Sie sollten ihre Augen nicht verschließen vor uns. Sie sollten uns akzeptieren, wie wir sind und lernen zwischen uns zu leben. Und wenn sie das nicht können, dann müssen sie eben weichen. Warum müssen wir uns geheim halten? Genauso könnten wir den Spieß umdrehen. Wo steht geschrieben, dass Muggeln mehr Rechte haben als Zauberer?"

Harry war verwirrt von Voldemorts Rede. So wie Voldemort sich alles zu Recht drehte, schien sein Kampf irgendwie Sinn zu machen. Aber Harry wusste nicht viel von Politik, und es widerstrebte ihm Voldemort zuzustimmen. Doch durch seine Erfahrung mit den Dursleys wusste er, dass Voldemort zumindest zum Teil Recht haben musste.

„Weißt du", fing Voldemort nach einer langen Pause fort, „Dumbledore war auch einmal der Meinung, die Welt solle von Muggeln befreit werden. Erst als er mitbekommen hatte, wie mühsam so ein Kampf gegen das Rechtsystem werden würde, hat er seinen Träume zurück gedreht und sich auf die Seite des Ministeriums geschlagen.

„Aber er ist wahrlich keine Heiliger. Er ist früher mit Grindelwald umhergezogen und ich habe oft das Gefühl, er will gar nicht wirklich gegen mich kämpfen. Ich meine sieh ihn dir doch an, er ist so mächtig, aber er hat mich noch nie heraus gefordert. Er hat zwar im Ministerium gegen mich gekämpft, aber es ist nie gefährlich für mich geworden. Stattdessen setzt er seine Hoffnung in einen Teenager? Kommt dir das nicht auch komisch vor?"

Harry nickte unbewusst. Er hat sich dieselben Fragen auch schon mehrmals gestellt. Er verstand auch nicht wieso ausgerechnet er Voldemort umbringen sollte. War die Prophezeiung vielleicht eine Fälschung?

„Harry, ich stelle es dir frei auf welcher Seite du stehen möchtest. Du kannst die Prophezeiung in den Wind schlagen und an meiner Seite versuchen für die Zaubererrechte zu kämpfen, oder wir sehen uns eines Tages als Feinde wieder. Severus wird morgen nach Hogwarts zurück kehren, nachdem das neue Schuljahr in drei Tagen anfängt. Du kannst mit ihm gehen, wenn du willst, ich werde dich nicht festhalten. Aber behalte dir eines im Kopf. Ich muss nicht dein Feind sein."

Mit diesen Worten verließ Voldemort Harrys Seite und ließ den Jungen völlig verwirrt zurück.