Prolog

1747
London. Eine unglaubliche Stadt; groß, beeindruckend, das Herz des britischen Imperiums. Jeder, der einmal diese Stadt gesehen hatte, erkannte, weshalb alle Macht über sämtliche Herrschaftsgebiete Englands von hier ausging.
Kleine, große, bürgerliche wie auch herrschaftliche Häuser standen eng beieinander, die Straßen waren erfüllt von lautem Pferdewiehern, gewaltigem Stimmengewirr, geschäftigem Treiben. So sorglos und so alltäglich, dass es beinahe unwirklich erschien. Viel zu lange ist es her, dass sie den großen Hafen, die laut pulsierende Stadt, ihre Heimat gesehen hatte. So lange, dass sie sich an all das hier kaum noch erinnern konnte. Jetzt kam es ihr wie ein riesiges Trugbild vor; so vollkommen falsch, nach all dem, was geschehen war. Was ihr widerfahren war.
Die Menschen hier hatten sich ebenfalls kaum verändert, genau wie alles um sie herum. Dieselben blasierten, hochmütigen Gesichter, dieselben höfischen und adeligen Verhaltensweisen, dieselbe laute, zivilisierte Stadt – nichts, rein gar nichts hatte sich geändert. Ein Umstand, der angesichts der Geschehnisse im so fernen Süden furchtbar verwirrend erschien.
Fünf Jahre war es nun her, dass Catherine ihre Heimat verlassen hatte. Fünf Jahre, die ihr jetzt, nach all den jüngsten Geschehnissen, schlagartig wie eine halbe Ewigkeit vorkamen. Wie der Dunst aus den zahllosen Kaminen sich über die ganzen Häuser legte… wie ein grauer Schleier der Trauer und Verzweiflung, der auch in ihrem schmerzenden Herzen herrschte.
Fahles Sonnenlicht durchbrach die weiße, wattige Masse aus Wolken, die sich im trügerisch-schönen blauen Himmel immer wieder vor die Sonne schoben wie kleine, wollige Schäfchen. Das Licht beleuchtete mit einem Mal die Häuser, die dicht gedrängt am Hafen standen, und das schmutzige Wasser glitzerte schwach wie ein stumpfer Edelstein, der jede Schönheit verloren hatte. In stärkeren Wellen schlug das Wasser träge gegen den grauen Stein der Hafenmauer, als das Schiff anlegte. Stimmen gaben lautstark Befehle und übertönten das aufgeregte Stimmengewirr an Land. Matrosen vertäuten mit angestrengt verzogenen Gesichtern die Empress am Hafen. Alles verlief nach Ordnung. Ordnung und Disziplin – das, was ihren Mann ausgemacht und er stets zu bewahren versucht hatte.
Der unbewusste Gedanke an ihn zerriss Catherine beinahe das Herz und trübte ihre Seele des unendlichen Schmerzes wegen. Nicht an ihn denken. Nicht, denk nicht daran… Aber wie so oft in diesen Tagen fiel ihr das unglaublich schwer. Ihn vergessen… Nein, das konnte Catherine nicht. Auch wenn jeder Gedanke an ihn wie eintausend Stiche in ihr Herz waren; schmerzhaft, gleichzeitig eine furchtbare Kälte auslösend, die ihre Seele einfrierte. Es ging einfach nicht, nicht in tausend Jahren.
„Mama!" Die kleine, bittende Stimme ihrer Tochter riss Catherine aus ihren trüben Gedanken. Ohne jeden Ausdruck in ihren Augen blickte sie hinab zu Juliet, die mit großen, funkelnden Augen an ihrem Kleid zupfte. Grau waren ihre Augen, obwohl sie so viel kindliche Neugier und Lebensfreude versprühten – grau wie Nebel, grau wie ein Regenhimmel, grau wie die seinen… Genau wie ihre Art… selbstbewusst, bestimmt … ganz genau wie ihr Vater.
Catherine spürte mit plötzlich wiederkehrendem Schmerz in ihrem Herzen die Tränen, die allmählich in ihre Augen traten. Gott, es tat weh, es tat so weh! So furchtbar weh!
Doch Catherine zwang sich zu einem mehr verkrampften Lächeln und nahm sanft die Hand ihrer Tochter. Ihr Gesicht war fast genau wie das ihre; das einzige, dass Juliet von ihr hatte, genau wie das lange, dunkle Haar.
Er hatte Catherines Haar geliebt; er hatte manchmal nur dagelegen und sein Gesicht darin versteckt, ständig gesagt, wie sehr er sie liebte…
Catherine schaffte es kaum, die Tränen zu unterdrücken, die sich unerbittlich ihren Hals heraufkämpften. Hatte sie in den letzten Wochen nicht schon jede einzelne Träne vergossen? Jeglichen Schmerz aus sich herausgeschrien? Sie schluckte schwer und drückte die Hand ihrer Tochter fester; wahrscheinlich, um eher sich selbst an irgendetwas festzuhalten. Tatsächlich war es so, dass gerade in diesen furchtbaren Tagen ihre Kinder Catherine mehr Halt gaben als alles andere auf dieser grausamen Welt.
„Ja, mein Schatz?" Ihre Stimme klang rau, krächzend wie eine Krähe, unendlich erschöpft von der langen Reise und der endlosen Trauer, die ihre Seele zu zerfressen schien.
„Holen wir Papa?" Juliets fragende, unbekümmerte Stimme klang voller Unschuld und Unwissen; sie wusste ja gar nicht, dass…
Catherines gezwungenes Lächeln erstarb auf ihren zittrigen Lippen, und sie spürte kaum die ersten Tränen, die ihr übers Gesicht rollten und ihre Augen zum Brennen brachten.
„Mama? Warum weinst du?", fragte nun auch ihr Sohn voller Sorge, und Juliet zupfte wieder fordernd an ihrem Kleid.
Catherine zwang sich, unbesorgt und beruhigend zu klingen, und sie schenkte ihren Kindern ein selbst für sie erstaunlich überzeugendes Lächeln. „Es ist nichts, mein Schatz. Ich bin nur so froh, dass wir wieder zu Hause sind." Sie nahm sanft Thomas´ Hand und drückte seine Finger leicht. Wie erschöpft ihre Finger sich doch anfühlten... „Wir werden Nana und die anderen gleich besuchen, was sagt ihr dazu?"
Juliets kleine Augen begannen vor Freude zu glitzern, und mit allem Enthusiasmus eines achtjährigen Kindes rief sie: „Ja! Aber vorher wollen wir noch Papa holen, oder?"
Catherine ertrug es nicht, wenn sie ihre Kinder anlügen musste. Ihr fiel es unendlich schwer, wo sie doch das Risiko einging, ihre Kinder früher oder später zu enttäuschen, zu verletzen; Catherine konnte es allerdings einfach nicht. Sie brachte es nicht übers Herz, ihnen die furchtbare Wahrheit zu sagen. Sie konnte es nicht!
Juliet sprang vor und versuchte, über die Reling hinweg in die Stadt zu sehen, und laut lachend winkte sie den Menschen zu, die dort unten standen. Doch Thomas stand immer noch da und hielt die Hand seiner Mutter. Er drückte sie fester und blickte immer noch ein wenig besorgt zu Catherine hinauf. „Mama, ich will nicht, dass du weinst."
Dieser kleine Satz, so ernst und bittend ausgesprochen, brachte Catherine dazu, beinahe wieder in Tränen auszubrechen. Ach, Thomas verstand sie so gut! Er war kaum elf Jahre alt, und doch wusste er, wenn etwas nicht stimmte. In dieser Hinsicht war er fast genauso wie sie, selbst wenn sein Aussehen beinah exakt nach seinem Vater kam. Und gerade deswegen liebte Catherine ihre Kinder mehr als ihr eigenes Leben, so viel mehr…
Thomas sah sie aus großen, dunklen Augen an. In diesem Moment hätte Catherine ihm beinahe alles gesagt. Sie konnte nicht in diese warmen, ruhigen Augen schauen und ihn gleichzeitig anlügen; dazu wäre sie niemals fähig. Nicht, wenn Thomas sie ruhig an der Hand hielt und sanft drückte – und sie voller Unwissenheit anblickte.
Es tut mir Leid…, dachte Catherine und spürte, wie ihr alles weh tat vor Schmerz und Trauer. Ich will euch doch nicht wehtun…
In dem Moment, in dem Catherine alles ihrem Sohn gebeichtet hätte, sie all ihre Sorgen ihm anvertraut hätte; da war die kleine Juliet ihre Rettung. Lachend rannte sie über das Deck zurück, mit funkelnden Augen, und rief voller kindlichem Glück: „Ich habe gerade Nana gesehen! Mama, wir gehen doch zu ihr, oder?!" Vor Freude quietschend zupfte sie wieder strahlend an Catherines Kleid.
Sie hob den Blick und versuchte, die bekannten Gesichter zu entdecken; der einzigen, von denen sie wusste, dass sie immer für sie da sein würden, zusammen mit ihren Kindern. Es kam ihr irgendwie wenig beruhigend vor, aber Catherines Stimme klang erleichtert, als sie sprach.
„Dann werden wir sie mal nicht warten lassen, hm?" Müde lächelnd nahm sie Juliet in ihre Arme, die bittend ihre kleinen Hände zu ihr hochgestreckt hatte, obwohl ihre Arme bleischwer waren vor Erschöpfung. Die letzten Wochen hatte sie eher schlaflos zugebracht. Schlaflos, aus Angst vor furchtbaren, nie enden wollenden Albträumen.
Juliet schlang ihre kleinen, kindlichen Arme um Catherines Hals und lachte befreiend. „Ich bin so froh, dass wir wieder zuhause sind!"
Catherine seufzte müde, aber lächelte leicht. Der Gedanke an alte Bekannte erweckte in ihr mit einem Mal doch so etwas wie Erleichterung und einem hoffnungsvollen Gefühl, endlich Trost finden zu können. „Ich freue mich auch, mein Liebling."
„Holen wir dann noch Papa?" Juliet schaute sie unschuldig und voller Erwartung an. Sie sah so hoffnungsvoll und optimistisch aus; kein Wunder, Juliet liebte ihren Vater doch mindestens genauso sehr wie sie es tat.
Catherine war froh gewesen, ein halbwegs überzeugendes Lächeln zustande bekommen zu haben. Jetzt jedoch rutschte es wieder von ihren Lippen, und Catherine schluckte wieder ihre Tränen hinunter.
Sie wollte vor ihren Kindern keine Schwäche zeigen. Nicht vor Thomas und Juliet. Und so zwang sie sich wieder ein schmerzhaftes Lächeln auf die Lippen, drückte Juliet fest an sich und nahm Thomas wieder an die Hand. Ihr Blick jedoch war leer. „Er kommt bald nach, mein Schatz. Euer Vater kommt bald nach."
Sie konnte ihnen einfach nicht die Wahrheit sagen.