Chrome hatte sich wie immer in einen der Räume im zerstörten Hauptgebäude von Kokuyo verkrochen. Ken hatte mal wieder rumgebrüllt und sie auf das Übelste beleidigt. Chikusa hatte zwar versucht seinen Freund zu beruhigen, aber natürlich hatte es nicht funktioniert. Jedes Mal wenn er Chrome zu Gesicht bekam rastete er vollkommen aus. Warum wusste sie nicht. Aber er schien immer etwas zu finden, dass ihn an ihr aufregte. Manchmal war er die Art und Weise wie sie sprach, dann wieder ihre bloße Anwesenheit und nicht mal wenn sie sich so wie jetzt von ihm fernhielt war es ihm recht.

Natürlich hatte sie sich schon lange daran gewöhnt. Sie hatte ihr ganzes Leben ohne Freunde verbracht. Niemand hatte sie je gemocht. Nicht einmal akzeptiert. Sogar ihre Eltern schienen sie nicht geliebt zu haben. Sie war damit aufgewachsen, von jedem als unfähige Göre dargestellt zu werden. Seit sie denken konnte war sie allein. Die einzige Freundin, die sie je gehabt hatte, war eine kleine Katze gewesen. Aber auch sie war eines Tages abgehauen. Und dann hatte sie diesen Unfall.

Verschwommen tauchte die Erinnerung an das Krankenhaus auf, in dem sie gelegen hatte. Die Maschinen, an die sie angeschlossen war, piepten im immer gleichen Rhythmus. Es war beinahe hypnotisierend. Ab und zu kamen Krankenschwestern, um nach ihr zu sehen und die Werte auf den Monitoren zu überprüfen. Nagi, wie sie eigentlich hieß, ignorierten sie dabei gekonnt. Am liebsten hätte das Mädchen geschrien, doch es ging nicht. Sie wusste inzwischen, dass sie eigentlich ohnmächtig war, aber dennoch nahm sie alles um sich herum so unglaublich genau war. Nicht einmal im Wachzustand hatte sie ihre Umwelt so gestochen scharf gesehen, die Geräusche so klar gehört, die Gerüche so deutlich in der Nase gehabt. Es war so, als würde sie zum ersten Mal wirklich leben.

Doch in diesem Zustand hatte sie auch das Gespräch ihrer Eltern mit dem Arzt mitbekommen. Wenn sie keine Spenderorgane bekommt, würde sie sterben, so hatte es der Doktor klar und deutlich ausgedrückt. Ihre Mutter jedoch meinte nur: „Seit sie klein war hatte sie nicht einen Freund. Sie scheint sich für niemanden zu interessieren. Vielleicht wäre es ja besser für alle, wenn sie stirbt."

Alles in Chrome hatte geschrien. Am liebsten hätte sie geweint. Aber natürlich tat sich gar nichts. Wie konnten ihre Eltern nur so denken? Schließlich war Nagi ihre Tochter! Liebten sie den wirklich gar nicht? Ihre letzte Hoffnung war ihr Stiefvater. Doch auch der widersprach nicht. In diesem Augenblick zerbrach etwas in ihr. Sie spürte, wie sie auf einmal unendlich müde war. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie starb. Dann würde sie niemandem mehr eine Last sein. Alle wären glücklicher. Sie musste nur loslassen…

Eine Träne rollte Chrome über die Wange als sie an diese Zeit zurück dachte. Sie ließ sich mit dem Rücken an der Wand des verwüsteten Raumes hinuntergleiten und zog ihre Knie dicht an den Körper. Ihre Arme umklammerten eine Tasche. Sie legte den Kopf darauf und weinte still. Eine Weile verharrte sie in dieser kauernden Stellung ohne dass etwas geschah. Das einzige was sie spürte waren ihre heißen Tränen, die glänze Spuren über ihre Haut zogen.

„Aber warum weinst du denn, meine liebe Chrome?"

Langsam hob die Angesprochene den Kopf. Sie trug nicht länger die Schuluniform der Kokuyo-Schule. Jetzt war sie nur mit einem weißen Nachthemd bekleidet. Ihre Haare, die sie damals abgeschnitten hatte, waren wieder länger, fielen über ihre Schultern und verdeckten ihr eines Auge. Auch hockte sie nicht länger in dem dunklen, kalten Zimmer. Stattdessen befand sie sich am Rande eines Sees in einem Wald. Helles, beinahe gleißendes Licht fiel auf sie. Sie kannte diesen Ort inzwischen sehr gut. Er erfüllte sie mit einer wohltuenden Wärme und strahlte eine wundervolle Harmonie aus. Hier war sie zum ersten Mal Mukuro Rokudo begegnet, ihrem Meister.

Nach dem Nagi, wie sie damals noch hieß, ihren Lebenswillen aufgegeben hatte, war sie zum ersten Mal hier gewesen. Einen Augenblick war sie mehr als verwirrt. Doch dann hörte sie zum ersten Mal Mukuros Stimme.

„Ein Ende… ist nur der Beginn eines neuen Kreislaufs."

Erschrocken sah sie sich um, doch konnte sie auf den ersten Blick niemanden sehen. Als sie sich erneut umwandte, stand mit einem Mal dieser Junge vor ihr. Er war groß, ein paar Jahre älter als sie, und trug ein weißes Hemd und eine dunkle Hose. Schuhe hatte er keine an. Seine Haare waren dunkel und wirkten bläulich. Er hatte sie zu einem Mittelscheitel gekämmt und sie hinter hochgesteckt. Doch das markanteste waren seine Augen. Eines war tief blau, das andere leuchtend rot. Er betrachte sie mit einem Lächeln. Nagi wusste nicht was sie davon halten sollte, dass ein gutaussehender Junge sie am Waldrand anlächelte, während sie nur ein Nachthemd trug.

„Oh? Hast du mich gehört? Kufufu, sieht so aus, als hätte mich mein Spaziergang zu etwas geführt."

Immer noch unsicher richtete sie sich im Bett etwas mehr auf und fragte misstrauisch, beinahe ängstlich: „W-Wer? Was bist du?"

Sein Lächeln wurde nur breiter. Eine leichte Brise wehte ihm einige Strähnen ins Gesicht. Dann sagte er, ohne auf ihre Frage einzugehen: „Vielleicht sind du und ich die gleiche Art von Person."

Seit damals war viel passiert. Mukuro hatte ihr mit einer Illusion ein weiteres Leben ermöglicht. Und nicht nur das. Er hatte ihr sogar gezeigt, wie sie sie selbst erzeugen konnte. Er war ein wahrer Meister, aber sie hatte noch viel zu lernen. Eines Tages hatte er ihr den Trident gegeben. Zuerst hatte sie nicht gewusst, was sie damit anfangen sollte.

„Du musst gut auf ihn aufpassen, Chrome. Er wird dir dabei helfen, Illusionen zu erschaffen. Aber er ist auch ein wichtiges Verbindungsglied zwischen dir und mir. Also verlieren ihn nicht, sonst kann ich nicht mehr Kontakt zu dir aufnehmen."

„Mukuro-sama…", flüsterte sie und wischte sich ihre mit der Hand die Tränen weg.

„Ist etwas nicht in Ordnung mit dir?"

„Es geht mir gut, Mukuro-sama. Ich… ich musste nur an etwas denken…"

Mukuro runzelte dir Stirn und sah das Mädchen nachdenklich an. Sie wich seinem Blick aus und betrachte stattdessen die Oberfläche des Sees, der in dem hellen Licht schimmerte.

„Ist es wegen Ken und Chikusa?"

Sie schwieg. Ken war nur der Auslöser gewesen, aber es war nicht seine Schuld. Schließlich hatte sie weder ihm noch dem Brillenträger von ihrer Vergangenheit erzählt. Ziemlich schnell hatte sie gemerkt, dass sie bei den Jungs unerwünscht gewesen war, aber sie hatten sie in ihrer Nähe akzeptiert, weil Mukuro sie akzeptierte. Und das war vollkommen in Ordnung für sie. Mehr konnte sie nicht erwarten.

„Ich weiß dass die beiden manchmal etwas grob sein können, besonders Ken, aber nehme es dir nicht so zu Herzen, meine kleinen Chrome. Er meint es nur gut."

Chrome nickte nur. Noch immer mied sie den Augenkontakt mit Mukuro, der immer noch nicht ganz überzeugt davon war, dass es ihr gut ging und seinen nächsten Verdacht äußerte.

„Wenn es das nicht ist, muss etwas mit dem Vongola vorgefallen sein. Hat er dich in Schwierigkeiten gebracht? Oder behandelt er dich schlecht? Du brauchst es nur zu sagen und ich werde mich um ihn kümmern."

Heftig den Kopf schüttelnd sagte sie: „Nein, der Boss ist wirklich immer sehr nett zu mir. Einmal hat er mir sogar selbstgemachte Reisbälle gebracht. Er mir nie etwas antun."

Dieses Mal sah sie dem Blauhaarigem direkt in die Augen um ihm klar zu machen, dass sie nicht log.

Tatsächlich waren der Boss und seine Freunde die einzigen, die sie mit offenen Armen bei sich aufzunehmen versuchten. Es irritierte sie jedes Mal, wenn sie bei ihnen war. Sie wusste, dass keiner von ihnen eine böse Absicht hatte, aber sie konnte sich einfach nicht an diese Freundlichkeit ihr gegenüber gewöhnen. Obwohl alle sich bemühten, ihr das Gefühl zu geben, willkommen zu sein, flüchtete sie doch immer wieder. Es war nicht so, dass Chrome sie nicht mochte. Im Gegenteil. Sie hatte einfach nur Angst, dass sie sie eines Tages genauso im Stich lassen würden wie ihre Eltern und jeder andere aus ihrem früheren Leben. Diese Unsicherheit, die sie beherrschte, wenn sie beim Boss war, ließ sich nie wirklich abschütteln. Doch mit jedem Mal, dass sie sich der Familie anschloss, wurde sie etwas sicherer und fasste Vertrauen.

„Na schön. Aber solltest du jemals ein Problem haben, zögere nicht es mir zu erzählen. Ich bin immer für dich da, vergiss das nicht. Und wenn es etwas ist, dass du mir nicht sagen kannst, dann rede mit dem Vongola. So ungern ich es auch zugebe, aber er scheint eine Person zu sein, der man vertrauen kann. Und er bisher hat er auch gut auf dich aufgepasst. Also denke ich, dass es in Ordnung ist."

„Mukuro-sama…"

Eine leichte Röte schlich sich auf Chromes Wangen und sie wandte erneut den Blick ab. Dieses Gefühl, was war das? Immer, wenn Mukuro so etwas zu ihr sagte, spürte sie dieses Kribbeln in der Bauchgegend. Sie fühlte sich immer unglaublich wohl, wenn sie mit ihm redete. Aber leider hatte sie ihn noch nie in Fleisch und Blut gesehen. Ihre Treffen hatten sich bis jetzt immer auf diese Zwischenwelt beschränkt. Deswegen war es Chromes größter Wunsch, ihrem Meister einmal im richtigen Leben zu begegnen und sich bei ihm zu bedanken. Ohne ihn wäre sie jetzt tot. Nie hätte sie die Chance bekommen, noch einmal von vorne anzufangen. Nie hätte sie solche Freunde wie Tsuna und die anderen gefunden. Nie hätte sie Ken und Chikusa kennengelernt. Nie hätte sie diese Macht entdeckt, die die ganze Zeit über in ihr geruht hatte. Sie verehrte ihn dafür, ohne Frage. Aber das war nicht alles. Sie machte sich auch Sorgen um ihn. Sie wusste, dass er in diesem Gefängnis war und dort festgehalten wurde. Er hatte ihr erzählt, dass er nicht genügend Kraft hatte, sich zu befreien oder ohne sie Kontakt zur Außenwelt herzustellen. Darum brauchte er sie.

Plötzlich spürte sie, wie ihr Kinn angehoben wurde. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass Mukuro näher gekommen war. Das Blut schoss ihr erneut in die Wangen und sie den Älteren mit großen Augen an. Der lächelte sanft und murmelte: „Du bist mir wirklich wichtig, kleinen Chrome. Also pass auf die auf…"

Ein lautes Krachen beförderte das Mädchen zurück in die Realität. Sie blinzelte und flüsterte Mukuros Namen, als Ken in das Zimmer gestürmt kam.

„Hier bist du also. Ich hab dir doch gesagt, dass du hier nicht alleine rumlaufen sollst!"

„Entschuldigung…"

„Jaja, schon gut. Ich und Chikusa gehen einkaufen. Mir sind die Süßigkeiten ausgegangen."

„Wie oft muss ich eigentlich noch wiederholen, dass du dich nicht nur von diesem Süßkram ernähren kannst? Spätestens wenn du Karies hast, wirst du es bereuen", meldete sich der Brillenträger, der nun ebenfalls den Raum betrat.

„Sei ruhig! Ich esse was ich will!"

„Schrei nicht so rum. Chrome, willst du mitkommen?"

„Huh? Ich?"

„Was, wieso sollen wir sie denn mitnehmen?", beschwerte sich Ken und starrte seinen Freund an.

„Wieso nicht? Sie wird weniger Ärger verursachen als du, das steht fest. Außerdem sollen wir doch auf sie aufpassen. Und das heißt auch, sich um sie zu kümmern. Ich weiß nicht, wie es bei dir aussieht, aber ich weiß nicht, was Mädchen so brauchen. Mal ganz davon abgesehen denke ich nicht, dass sie so wie du unbedingt ihre Zähne ruinieren will."

„Hey!"

„Also, was ist nun? Willst du mit oder nicht?"

Chrome lächelte, nickte und stand auf. Sie freute sich über Chikusas Geste. Vielleicht mochten die beiden sie ja doch und hatten nur eine seltsame Art das zu zeigen.

„Na schön, aber geh mir nicht auf die Nerven, hast du verstanden? Sonst gibt's Ärger!"

„Wenn es hier jemanden gibt, der nervt, dann bist du dass Ken."

„Was war das, Brillenschlange?"

„Du hast mich schon verstanden."

Streitend verließen die beiden den Raum und Chrome folgte ihnen, immer noch mit einem Lächeln auf den Lippen. Ja, es war wirklich schön zu leben.