Dämmerung

Dämmerung

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Ich bin Anne Smart und das ist meine Geschichte. Ich schwöre, dass sich alles so zugetragen hat, wie ich es hier und jetzt aufschreibe. Meine Leben könnte man als durchschnittlich, normal, ja fast als langweilig bezeichnen.

Ich bin 27 Jahre alt und arbeite in einem Maklerbüro, in der Londoner Innenstadt. Jeden Tag fahre ich wie tausend andere mit der U-Bahn zu meinem Arbeitsplatz. Am Rande der Stadt, wohne ich in einem Zweizimmer-Apartment, das ich mir mit meinem Kater Ernest teile.

Er ist der einzige Mann in meinem Leben. Nicht das es nicht andere gegeben hätte, doch die gab es, nur sind sie alle auf die eine oder andere Weise aus meinen Leben verschwunden.

Ich saß wie jeden Montag morgen, eingepfercht in einem überfüllten Abteil, auf dem Weg zur Arbeit. Nur sollte das kein gewöhnlicher Arbeitstag werden, aber das wusste ich jetzt noch nicht. Gerade fuhr die Bahn eine Kurve und ich ließ mich monoton mittreiben.

An meiner Haltestelle trabte ich mit dem Schwung Menschen hinaus. Treppauf ging es zurück an die Erdoberfläche. Mein Büro lag noch zwei Strassen weiter. Dazwischen kam ein kleines Cafe, die auch Kaffee zum Mitnehmen anboten.

Wie in Trance führten mich meine Füsse in dieses Lokal und bewaffnet mit einem Becher dampfenden Kaffee und einem Schokocroissant betrat ich das Büro. Schwungvoll warf ich mich in meinen Sessel und schnüffelte genüsslich an dem Kaffee, bevor ich mir einen Schluck gönnte. Das war schon fast ein Ritual und gehörte für mich dazu.

Es war noch sehr früh, die meisten Mitarbeiter, sprich Immobilienmakler und Chef würden erst später eintreffen und so konnte ich mein Frühstück in aller Ruhe genießen. Ich biss herzhaft in mein Croissant, als das Telefon läutete. Na Großartig!

Mit vollem Mund griff ich nach dem Hörer und versuchte so gut es ging zu sprechen. Am anderen Ende meldete sich Phil Morris, unser bester Mann, wie der Chef immer betonte. Er war krank, scheinbar eine Lebensmittelvergiftung und konnte heute nicht kommen.

Phil hörte sich auch nicht gut an am Telefon, ich konnte direkt spüren wie elend er sich fühlte. Ich wünschte noch ihm gute Besserung und damit war das Gespräch beendet.

Im Terminkalender sah ich, dass Phil heute morgen einen Termin mit einem neuen Kunden außerhalb der Stadt hatte. Sogleich rief ich meinen Chef an, um mir, nachdem ich ihm das von Phil erzählt habe, ein paar deftige Flüche anzuhören.

Dann wurde er sehr Still, er schien nachzudenken, also wartete ich. Was dann kam ließ mir fast den Hörer aus der Hand gleiten. Er beauftragte mich, ja mich, den neuen Kunden aufzusuchen und ein Vorgespräch zu führen.

Da war sie, die Chance, die Chance ihm zu beweisen, dass ich genauso gut wie Phil war. Ich machte beinahe einen Freudensprung im Büro. Ich sah es schon deutlich vor mir. Neuer Stern am Maklerhimmel! Sekretärin entpupt sich als Verkaufsgenie!

Ich hatte noch große Träume, Träume die sich nie erfüllen würden. Doch vorher bekam ich ellenlange Anweisungen und Instruktionen, ich ließ alles über mich ergehen, ich hörte sowieso nur mit einem Ohr zu.

Kaum hatte er das Gespräch beendet, führte ich im Büro einen kleinen Freudentanz auf. Dann rannte ich in Phils Büro und schnappte mir den vorbereiten Folder für den Kunden von seinem Tisch.

Ich rauschte zurück an meinen Schreibtisch und zog mir meine Jacke bereits über, als unser Praktikant das Büro betrat. Er bekam von mir eine Schnelleinführung für Empfang und die Kaffeemaschine und schon war ich zur Tür hinaus. Ich wollte es nicht riskieren, dass sich der Chef inzwischen anders besinnt.

Außerdem musste ich auf dem kürzesten Weg Nachhause und mein Auto holen. Schließlich konnte ich nicht zu Fuss in das Dorf Heaven, knapp 60 Meilen außerhalb der Stadt, gehen. Heaven das war mein Ziel. Hoffentlich brachte mir der Name Glück.

Ich rief mir ein Taxi und eine halbe Stunde später stand ich vor meiner Wohnung. Schnell düste ich hinauf, um ein paar Sachen einzupacken. Der Chef meinte es könnte passieren, das ich über Nacht bleiben muss.

Auch Ernest musste noch versorgt werden. Ich konnte ihn schlecht ohne Verpflegung einen Tag allein lassen. Ernest bestand auch noch auf seine Dosis Streicheleinheiten und dann lief ich auch schon los. In meinem uralten Opel kramte ich nach meiner noch älteren Strassenkarte.

Ich fand sie leicht zerknüllt unter einem Kaffeebecher. Vorsichtig zog ich sie an den Ecken auseinander und suchte den Ort Heaven. Ich ließ meinen Finger über ausgebleichte Stellen, braunen Rändern und anderes Undefinierbares gleiten.

Schon wollte ich resigniert aufgeben, als ich mit dem Finger zufällig auf die richtige Stelle tippte – Heaven.

Ich prägte mir die ganze Route ein und startete in mein großes Abenteuer. Zuerst musste ich aus London rauskommen. Zwar befand ich mich schon beinahe am Rande der Stadt, aber nur beinahe. Unzählige Ampel mussten noch passiert werden, Baustellen ausgewichen werden um dann auf die Autobahn und aus der Stadt zu gelangen.

Schwungvoll bog ich mit meinem moosgrünen Opel in die Hauptstrasse ein und dann ging gar nichts mehr weiter. Vor mir bildeten die Autos eine schöne Kette Morgenverkehr. Es würde eine Ewigkeit dauern, hier raus zu kommen.

Nie würde ich es rechtzeitig zu diesem Termin schaffen. Nervös schaltete ich mir das Radio ein. Ich drehte es auf volle Lautstärke und sang einen U2-Song mit – Where the streets have no name. Was für ein bezeichnender Titel für mein neues Leben, das ohne das ich es wusste schon bald beginnen würde.

Nun irgendwann ließ ich die letzten Häuser Londons hinter mir und fuhr zügig über die Autobahn Richtung Norden. Gut zwei drittel der Strecke konnte ich über die Autobahn fahren, der Rest ging auf Landstrassen dahin. Die Autobahn hatte ich bald hinter mir gelassen und dabei einige Songs völlig neu Interpretiert.

An der Raststation bei meiner Ausfahrt trank ich noch schnell eine Tasse Kaffee, da ich, trotz meiner Prognosen, gut in der Zeit lag und suchte auch die Waschräume auf um zu sehen wie mein Make-Up aussah und ob meine kurzen braunen Haare nicht wieder in alle Richtungen abstanden. Halbwegs Zufrieden fuhr ich von dem Parkplatz, von jetzt auf der Landstrasse dahin.

Die Gegend hier war im wahrsten Sinn des Wortes malerisch. Bäume, Hügelketten und schöne alte Häuser wechselten sich ab. Das Dorf Heaven war schön wie ein Stück vom Himmel.

Dicht aneinander gedrängt standen einige Häuser um eine kleine schiefergraue Kirche im Kreis. Es waren kaum Leute unterwegs und die Meisten die mich vorbei fahren sahen musterten mich misstrauisch. Fremden gegenüber wirkten sie nicht sehr aufgeschlossen. Ich verließ das Dorf und die Landschaft begann sich zu verändern.

Häuser wurden immer seltener und bald fuhr ich nur mehr durch einen wie es schien schier endlosen Wald. Bei einer Ausweichstelle hielt ich an und besah meine Karte genau, denn die Abzweigung zu dem Haus musste bald kommen. Das dachte ich jedenfalls. Der Blick auf die Karte brachte mich nicht weiter.

Ich fuhr auf gut Glück los. Meine Uhr zeigte bereits 2 Uhr Nachmittags. Der Termin war in einer halben Stunde. Schön langsam fühlte ich meine grandiosen Karriereträume wie eine Seifenblase platzen.

Wie aus dem Nichts tauchte auf der linken Seite ein halb verwittertes Holzschild auf. Wie ein morscher Finger wies es auf einen schmalen Weg, halb versteckt unter Bäumen. Ohne zu wissen warum, folgte ich diesem Pfad. Sanft schlängelte er sich durch den dichten Wald. Scheinbar endlos fuhr ich ihn entlang.

Doch plötzlich lichteten sich die Bäume und gaben die Sicht frei auf ein altes graues, riesiges Haus. Es gab eine kreisförmige Zufahrt, mit einer grünen Insel in der Mitte, gekrönt von einem Springbrunnen, doch dieser war nicht angestellt oder funktionierte nicht mehr.

Direkt vor dem Haus blieb ich stehen und stieg aus nicht rührte sich. Ich sah an der Fassade hoch, das Haus schien auf mich herabzublicken und genau zu mustern. Mit seiner steinernen, grauen Fassade, den beiden Türmen auf dem Dach und den vielen Erkern und Mauervorsprüngen, wirkte es feindselig und abweisend.

Eigentlich sollte ich mich hier nicht weiter aufhalten. Galt es doch einen Termin einzuhalten und der Zeiger der Uhr rückte gnadenlos auf Halbdrei zu. Doch wie magisch angezogen musste ich heraus finden, wer hier wohnte.

Ich schritt auf die Eingangstür zu. Aus der Nähe wirkte es wie ein Portal in eine andere Welt. Ein großer silbernfarbener Türklopfer forderte dazu auf in zu betätigen. Wie aus einem inneren Zwang heraus nahm ich ihn in die Hand und schlug kräftig gegen die Tür. Im inneren hörte man den Klang weit hallen.

Doch sonst rührte sich nichts. Hier heraußen summten die Bienen um mich, es war ein sonnig, warmer Tag. Die Baumkronen waren vom Sonnenlicht durchflutet und es war warm wie schon lange nicht mehr. Ein herrlichere Sommertag, wie es sie in England nur selten gibt. Und doch begann ich leicht zu frösteln und die Härchen auf meinem Arm stellten sich auf.

Schon überlegte ich diesen fremdartig anmutenden Platz zu verlassen und nie mehr hierher zurück zu kommen, als sich beinahe lautlos die Tür hinter mir öffnete. Ein eigenartiges Gefühl bemächtiget sich mir, das ich nicht zu ordnen konnte.

Es war eine Mischung aus Fluchtgedanken und Nachhausekommen. Angst und Freude alles auf einmal stürmte auf mich ein. Ich schluckte und begann mich langsam umzudrehen. Ich bewegte mich fast in Zeitlupe, wollte dem was mich hinter meinem Rücken in der Tür auf mich wartete nicht zu schnell begegnen.

So als müsste ich mir diesen Moment für die Ewigkeit einprägen. Mühsam schluckte ich einen Klos in der Kehle hinunter. Meine Hände waren Schweißnass. Mein Herz begann wie ein kleiner Vogel in meiner Brust zu flattern. Mit gesenktem Kopf stand ich vor der Tür, immer noch zögerte ich den Blick zu heben. Langsam wanderten meine Augen nach oben.

Was ich sah ließ mich beinahe vergessen zu atmen und meine Augen wurden riesengroß.