Prolog: „Auch die längste Reise beginnt mit einem ersten Schritt"*

Noch ist die Morgensonne nicht zu sehen über den Bergen der Red Line und doch ist der Himmel über dem Tempel bereits in ein rot-goldenes Licht getaucht. Für die Mönche und Priester des abgeschiedenen Tempels hier ist es vollkommen normal, sehr früh aufzustehen und doch ist dieser eine Morgen für eine junge Priesterin etwas ganz Besonderes. Aiyana T'Soni sitzt meditierend im Garten des Tempels als ein alt-ehrwürdiger Shaolin-Priester stumm an sie herantritt. Es wirkt fast, als bemühe er sich, sie nicht zu stören. Eine kurze Weile lang beobachtet er sie nur, geduldig ihre Meditation abwartend, mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen und einem fast wehmütigen Ausdruck in den Augen. Die langen, dunkelbraunen Haare der jungen Frau fallen ihr sanft über die Schultern und glänzen im warmen Morgenlicht fast golden. Es ist die junge Frau selbst, die zuerst das Wort ergreift. Ihre Stimme klingt etwas tiefer und wärmer als man es von einem so jungen Mädchen erwarten würde. Sie spricht ruhig, ganz so als komme jedes Wort tief aus ihrer Seele und als würde sie daher in jedes von ihnen besondere Sorgfalt legen. Typisch, könnte man meinen, für einen alten Shaolin-Meister, aber ungewohnt bei einer solch jugendlichen Person.

Aiyana: (ohne sich umzusehen, mit geschlossenen Augen) „Meister Cale. Seid Ihr gekommen, um mir erneut von dieser Reise abzuraten?"

Meister Cale: (er atmet tief ein) „Nein, nicht heute, liebe Freundin. Dieser Tag gehört ganz Euch." (Aiyana atmet etwas erleichtert auf) „Der erste Schritt einer Reise, wie kurz oder lang sie auch sein mag, sollte immer mit positiven Gefühlen gemacht werden."

Aiyana: (lächelt beruhigt und öffnet die Augen)„Ich bin froh und erleichtert, dass Ihr das sagt." (sie richtet ihren Blick auf die Stelle, an der die ersten Sonnenstrahlen über den Berggipfeln glänzen) „Diese Entscheidung fiel mir nicht leicht, aber mein Herz sagt mir, dass es die richtige ist."

Meister Cale: „Und das...ist das Einzige, was zählt."

Aiyana: (steht langsam auf) „Ich sollte mich allmählich auf den Weg machen." (sie dreht sich zu Meister Cale um und geht auf ihn zu) „Ich danke Euch. Für alles."

Meister Cale: (legt ihr die Hände behutsam, fast väterlich, auf die Schultern) „Dankt nicht mir. Was Ihr in all den Jahren hier gelernt habt, ist ganz und gar Euer Verdienst. Und Ihr werdet auf Eurer Reise sicher noch viel mehr lernen."

Aiyana: (mit einem kindlich begeisterten, neugierigen Glänzen in den Augen) „Das hoffe ich sehr."

Meister Cale: „Und ich erwarte, dass Ihr alles niederschreibt und uns dann ausführlich davon berichtet." (er lächelt warmherzig)

Aiyana erwidert das Lächeln, nicht ohne auch ein wenig Wehmut in den Augen, und beide gehen durch den Garten zum vorderen Eingang des Tempels. Plötzlich kommt ein Mädchen mit Stupsnase, das etwas jünger als Aiyana erscheint, durch den Tempel hastig auf sie zu gerannt. Sie trägt ein farbenfrohes, kurzes Kleid mit Blumenmuster und einigen Rüschen, dazu hat sie Schleifen in den Haaren. In ihren Händen hält sie einen vollgepackten Seesack, den sie beim Laufen an sich drückt wie einen Schatz.

Aiyana: (schaut auf und entdeckt ihre langjährige Freundin) „Amy! Wie schön, dich zu sehen!"

Amy: „Aya!" (bleibt schlitternd vor den beiden Shaolin stehen, grinst breit) „Ich hab dir deinen Seesack mitgebracht." (streckt Aiyana feierlich den Seesack entgegen)

Aiyana: „Vielen Dank, Amy." (nimmt den Seesack) „Du bist nur für mich vom Dorf hier herauf gekommen?"

Amy: „Natürlich. Immerhin werd' ich dich eine ganze Weile nicht mehr sehen können. Da muss ich dich doch wenigstens verabschieden kommen." (zwinkert Aya frech zu)

Meister Cale: (schüttelt sanft lächelnd den Kopf; an Aya)„Die anderen möchten dir auch alles Gute wünschen. Sie haben sich alle versammelt."

Die quirlige Amy hakt sich kurzerhand bei Aiyana ein und zusammen verlassen die drei den Tempel durch den Vordereingang. Draußen sind sämtliche Mönche und Schüler des Tempels und zahlreiche Leute aus dem nahe gelegenen Dorf versammelt. Aiyana wirkt bei dem Anblick etwas gerührt. Sie wirft sich ihren Seesack über, trennt sich behutsam von Amy und steigt die Stufen des Tempels hinunter zu der versammelten Gemeinschaft. Dann grüßt sie die Versammelten mit dem üblichen Shaolin-Gruß, indem sie sich mit ihrer geballten rechten Hand in ihrer flachen linken Hand vor dem Brustkorb leicht verbeugt. Bevor sie spricht, holt sie erneut tief Luft.

Aiyana: „Ich danke Euch, meine Freunde. Aber ein solcher Aufwand wäre nicht nötig gewesen."

Priester: (tritt lächelnd zu Aiyana vor)„Jede noch so lange Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Folglich ist der erste Schritt der bedeutendste und wir möchten Euch bei ihm begleiten." (er nimmt Aiyana's Hände sanft zwischen seine eigenen) „Damit Ihr auch bei Euren weiteren Schritten nie das Gefühl haben werdet, allein zu sein."

Im Hintergrund lässt Amy ein kurzes, unterdrücktes Schniefen hören. Meister Cale legt ihr tröstend eine Hand auf die Schulter.

Meister Cale: „Besser hätte ich es nicht ausdrücken können." (er tritt vor Aya) „Sie haben sich alle heute hier versammelt, weil ihnen Euer Wohlbefinden auf Eurer Reise sehr wichtig ist. Weist die positiven Wünsche, die sie Euch mitgeben wollen nicht von Euch."

Aiyana: (flüsternd)„Natürlich nicht, Meister Cale."

Ihr wäre es persönlich lieber gewesen, ohne ein derartiges Abschiedskommando auf ihre Reise zu gehen. Im Tempel wussten alle bereits seit Tagen, dass Aya sich auf Wanderschaft begeben wolle. Doch nun zu sehen, was oder besser wen sie zurücklässt, fällt ihr schwer – sehr schwer. Aber vielleicht... - so denkt sie sich – vielleicht ist dies ja ihre erste Prüfung. Sie will endlich lernen, nicht aus Büchern oder alten Schriften oder von den Erzählungen anderer. Sie will die Welt sehen und neuen Leuten mit all ihren Kulturen und Glaubensrichtungen begegnen. Und eine Voraussetzung dafür ist dann wohl, dass man dem Schutz und der Sicherheit seiner Heimat vorerst entsagt, genau wie der Liebe und Geborgenheit seiner Freunde und Familie.

Aiyana atmet tief durch, ganz so als versuche sie die Energie um sich herum zu sammeln, sodass sie ihren Mut zu dieser Reise nicht verliert.

Aiyana: „Ich..." (ihre Stimme bricht kurz ab) „Ich fühle mich zutiefst gerührt und ich werde versuchen, mir diesen Anblick von euch – wie ihr hier vor mir steht – gut in mein Gedächtnis einzuprägen." Und in mein Herz., denkt sie noch für sich.

Sie und Meister Cale verabschieden sich mit dem Shaolin-Gruß, dann umarmt sie Amy herzlich, die nicht ganz erfolgreich versucht, ihre Tränen unterdrücken. Aiyana lächelt ihr aufmunternd zu, doch Amy erkennt, dass auch Aya das Lächeln schwerer fällt als sonst. Schließlich schreitet Aiyana durch die versammelte Menge und verabschiedet sich mittels Shaolin-Grußes von jedem einzelnen. Der letzte Priester, von dem sie sich verabschiedet, reicht ihr feierlich einen Priesterstab. Mit zitternden Händen nimmt Aya ihn entgegen und umklammert ihn so fest als würde er ihr zusätzliche Kraft geben. Und dann, ohne sich noch einmal um zusehen, folgt sie mit sicheren Schritten dem sandigen Pfad, der nach unten ins Dorf und schließlich zum Hafen führt. Auch in dem beschaulichen Küstendorf grüßen und verabschieden sie viele Bewohner, die zu dieser frühen Stunde schon auf sind. Am Hafen kommen einige Kinder stolpernd auf sie zu gerannt und binden ihr kichernd ein selbst gebasteltes, bemaltes Stoff-Armband um das Handgelenk. Nach einer innigen Gruppenumarmung besteigt Aiyana schließlich ein Handelsschiff, das sie zur nächst gelegenen Insel bringen soll. Knarrend legt es ab und segelt gemütlich aus der Bucht heraus auf die sanften Wellen des East Blue. Die kühle Morgenbrise weht ihr sanft die Haare aus dem Gesicht. Aiyana ist bereits viele Meter vom Festland entfernt, als sie Amy's winkende Silhouette im Hafen erkennt. Jetzt da sie niemand außer einige der Schiffsmannschaft sehen kann, schafft sie es nicht ihre Gefühle zu unterdrücken und einige Tränen kullern ihr über die Wangen. Lächelnd und energisch erwidert sie das Winken. Aus der Ferne hört sie nur noch ein verschwommenes „Ich werde dich vermissen!", auch wenn sie die Bedeutung der Worte mehr spürt als sie wirklich zu hören. Dann verschwindet die Küste auch schon im morgendlichen Nebel der See und aus ihren Augen. Vielleicht für immer.

~ Ende Prolog ~

* Titel-Zitat von Laotse