Harry Potter saß in einer Bar. Neben ihm saß Hermine Granger, keinen Deut besser gelaunt. Beide schauten missmutig in ihre Cocktailgläser, Harry rührte abwesend mit dem Strohhalm den Fruchtsatz linksherum. Aus den Lautsprechern schallte, wie immer in solchen Etablissements, viel zu laute, viel zu schlechte Musik, die an der trostlosen Stimmung auch nichts ändern konnte.
Rechts und links an den Tischen saßen ebensolch traurige Gestalten, in Gläsern rührend, verstohlen Blicke umher werfend, niedergeschlagen auf den Tisch starrend. Kurz um, es war grässlich – einer jener grässlichen Dienstage, an denen noch nicht einmal die Hälfte der Woche geschafft war und das Wochenende in weiter Ferne, und man trotzdem das Gefühl hatte, schon wieder zwanzig Tage durchgearbeitet zu haben.
Harry puhlte gerade sehr intensiv an einer Ritze an der Tischkante, als Hermine laut seufzte. „So kann das doch nicht weitergehen…", verstummte aber wieder, als ob sie plötzlich bemerkt hätte, was sie da eigentlich gesagt hatte, und schüttelte, nun wieder stumm, ihre braunen Locken.
„Ginny glaubt, sie ist schwanger." Schwer hang der Satz in der Luft. Harry unterbrach das Puhlen nicht, während Hermine von einem Schockzauber getroffen zu sein schien.
„Wie? Ich denke, ihr wolltet noch…?!" Warten, hatte Hermine sagen wollen, doch ein tödlicher Blick von Harry ließ sie verstummen.
„Ja, das hatte ich auch gedacht." Dann schwieg er wieder und als Hermine ihn heimlich von der Seite betrachtete, wirkte er plötzlich müde und ausgelaugt, beinahe verbraucht. Die Haare hingen ihm ins Gesicht, sie hätten sicherlich schon vor zwei Tagen gewaschen werden müssen und auch die dunklen Ringe unter den Augen trugen nicht dazu bei, das Gesamtbild zu heben. Harry Potter, Retter der Zaubererwelt, sah erbärmlich aus.
„Jetzt sieh mich nicht so an mit deinem Ich-würde-dir-helfen-wenn-du-mich-nur-lässt-Blick. Das kann ich jetzt auch nicht gebrauchen! Was denkt sie, wer sie ist? Ich meine, geht diese verdammte Entscheidung nicht uns beide an? Sie ist 22, wozu braucht sie ein Kind? Sie hat noch nicht mal dieses verdammte Studium abgeschlossen, wir wohnen in einer Einraumwohnung!! WO BITTE SOLL DA EIN KIND HIN??" Aufgebracht schlug er mit der Hand auf den Tisch.
„Harry, beruhige dich." Hermine wollte ihm beschwichtigend eine Hand auf den Arm legen, anscheinend schien diese Geste nur Öl ins Feuer zu gießen.
„Ich will mich aber nicht beruhigen. ICH WILL ES EINFACH NICHT! Es kotzt mich alles so an. Alles. Ich hasse es." Harry hatte das Bedürfnis etwas an die Wand zu werfen. Allerdings schien ihm nichts in greifbarer Nähe drastisch genug.
Hermine legte stumm eine Zehn-Pfund-Note auf den Tisch und zog sich langsam die Jacke wieder über, obwohl die Gläser noch nicht einmal halb leer waren. Jedoch starrten einige der Tischnachbarn schon sehr interessiert zu ihnen herüber.
„Komm, wir machen einen Spaziergang. Vielleicht tut dir etwas frische Luft gut." Eigentlich hatte Hermine einladend klingen wollen. Aufmunternd, ja ermunternd. Aber anscheinend wollte Harry heute alles in den falschen Hals bekommen.
„Versuchst du mich …. Willst du mir….? Du willst mir doch nicht etwas sagen, WAS ICH ZU TUN HABE??" Harry holte tief Luft. „Ich brauche hier nicht noch jemanden, der mir vorschreibt, was gut für mich ist. Das tut Ginny schon zur GENÜGE!!" Er riss seine Jacke vom Stuhl und stob aus dem Restaurant, die verdatterte Hermine einfach stehenlassend.
Er hatte einfach das Gefühl gehabt, keine Luft mehr zu bekommen, wenn er noch eine Minute länger mit Hermine zusammen gewesen wäre. Diese… diese … Harry fand nicht einmal ein Wort dafür. Sicherlich hätte sie wieder irgendeine seltsame Ausrede für Ginnys Verhalten gefunden, sie ihm eingetrichtert und damit wäre für sie alles erledigt gewesen.
Er war so wütend. Auf sie alle. Nicht nur auf Ginny, die ihm mit ihrem Kinderwunsch schon seit einem Dreivierteljahr in den Ohren lag, und Ron, der einfach nie Zeit hatte, sondern auch auf Hermine, die sein Selbstmitleid einfach nie akzeptieren konnte, sondern immer alles objektiv betrachten musste.
Er beschloss heute erstmal nicht nach Hause zu gehen. Er würde im Büro übernachten. Wenigstens dazu war es gut, wenn auch schon zu nichts anderem. Manchmal hasste er die vier Wände, in denen er Tag für Tag Papierkram erledigen musste. Auror sein war an und für sich nichts Schlechtes… aber der Papierkram. Selbst jetzt musste Harry bei dem Gedanken daran die Augen verdrehen. Morgen war Mittwoch. Dienstbesprechung. Falls es möglich war, fühlte er sich dadurch noch schlechter.
Er begann sich zu fragen, an welchem Punkt sein Leben angefangen hatte, den Bach runterzugehen. Das siebte Schuljahr nach dem Fall Voldemorts war grandios gewesen. Prüfungen ja, aber Partys hatte es genug gegeben. Wilden Sex mit Ginny im Raum der Wünsche. Quidditch. Auch seine Ausbildung als Auror war im durchweg in guter Erinnerung. Trinken mit den Jungs. Skatabende.
Und dann war die Schonzeit vorüber. Ja, mit dem Ende der Ausbildung war alles bergab gegangen. Shacklebolt hatte ihn ins Ministerium berufen, obwohl er zwei Austauschjahre beantragt hatte für den italienischen Aurorendienst. Unmissverständlich war ihm klargemacht worden, dass er sich nicht noch länger vor der Öffentlichkeit würde drücken können. Ein Posten im Ministerium sei das Mindeste. Anwesenheit bei jeder wichtigen Konferenz. Es tue ihm leid, hatte Shacklebolt damals gesagt. Als ob das etwas geändert hätte! Scheiße, scheiße, scheiße. Wenigstens einmal hatte er selbst entscheiden wollen. Einmal, aber es war ihm nicht vergönnt gewesen.
Noch dazu lief die Beziehung zu Ginny alles andere als… gut. Und das war noch untertrieben. Er unterbrach seinen nächtlichen Spaziergang für einen kurzen Zwischenstopp in der Tankstelle, um sich eine Flasche Whiskey zu organisieren, besseres gab es nicht, und machte sich dann weiter auf den Weg in sein Büro.
Harry hatte nach dem dritten Glas aufgehört zu zählen und augenscheinlich war in der Flasche nur noch eine Pfütze, also musste das schon das …sehr vielte Glas sein. Sein Kopf begann zu dröhnen und die Uhr zeigte gerade erst einmal 01.00 Uhr. Diese bescheuerten Bürostühle waren auch alles andere als bequem. Harry versuchte sich krampfhaft auf Verwandlungen zu konzentrieren. Doch als er nichts zustande brachte als eine Farbänderung von braun zu lila, ließ er es lieber bleiben, um es am Ende nicht noch schlimmer zu machen.
Vielleicht ist die Tischplatte bequemer. Dachte Harry und versuchte seinen Kopf auf seinen Armen abzulegen. Allerdings begann in dieser Position sein Rücken schon nach wenigen Minuten zu schmerzen und ein paar Papiere drückten unbehaglich gegen seine Hände. Genervt stieß er den Stuhl vom Schreibtisch ab. Möglicherweise war es doch das Beste zu Ginny zurückzukehren.
Falsch. Gerade als er sich wieder Ginnys Namen in Erinnerung rief, brodelte die Wut erneut in ihm hoch. Nicht nur das er diesen verdammten Job hier machen musste, ob er wollte oder nicht. Nein, nun fragte nicht einmal mehr seine eigene Freundin nach seiner Meinung. SCHWANGER! Ja, er hatte sich Kinder gewünscht, aber doch nicht so, nicht jetzt. Es war einfach… unerträglich. Er würde es nicht ertragen können, sie jetzt zu sehen. Seine Wut würde ihrer Beziehung noch mehr schaden und er würde ihr sicherlich Dinge an den Kopf werfen, die nicht einmal in so einer Situation verzeihlich wären.
Das Beste wäre, er würde für ein paar Tage verschwinden. Urlaub, raus aus dem Ganzen, einen klaren Kopf bekommen. Das wiederum erinnerte ihn quälend an seinen eigenen schmerzenden Kopf. Merke: Eine Flasche Whiskey auf nüchternen Magen ist keine gute Idee.
Aber wohin? Er begann gerade erst damit Geld zu verdienen und das Vermögen seiner Eltern hatte sich sozusagen in Wohlgefallen aufgelöst mit seinem Studium. Ein teurer Urlaub war jetzt einfach noch nicht drin. Ron oder Hermine besuchen konnte er nicht, sie würden Ginny sofort informieren. Ähnlich sah es mit Neville oder Luna oder dem Rest der Weasley-Familie aus, auch wenn er Charlie gerne in Rumänien besucht hätte.
Wer nur, wer nur, wer nur… es muss doch eine Möglichkeit geben….!
Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Natürlich! Wie wild kramte er auf seinem Schreibtisch herum. Erst vor kurzem hatte ihn wieder ein Schreiben erreicht, ob er nicht Lust hätte ein paar Tage auf Malfoy Manor zu verbringen. Das war die Lösung! Narzissa bedrängte ihn schon seit Ewigkeiten, der Familie einen Besuch anzustatten. Sie würde ihn sicher nicht an Ginny verraten. Wie denn auch? Das war der perfekte Plan…
