Jäger des Schattens

Disclaimer: Mittelerde mit seiner Historie, seinen Legenden und Personen entstammt dem Geist und der Feder von John Ronald Reuel Tolkien und sei ihm ungenommen. Die Idee für diese Geschichte ist jedoch von mir.


Prolog

„Du bist eine Schande für unsere Sippe." Verärgert blickte Halbarad von seinem kargen Mahl auf. Vergifteten Speeren gleich zielte das Funkeln in seinen dunklen Augen zu seiner Tochter hinüber. Ihr Haupt gesenkt blickte Anraen auf ihre Hände hinab, ihre Suppe unberührt auf dem Tisch. Die Gedanken in ihrem Kopf gleichen einem dunklen Schleier und dumpf hallen die anklagenden Stimmen ihres Gewissens in ihm wieder. Nur wie durch eine Nebelwand gefiltert erreichen sie die Worte ihres Vaters.

Halbarad blickte resigniert aus dem Fenster. Von den Glasscheiben perlten die Wassertropfen hinab. Tiefschwarze Wolken hingen über dem Ort und der Regen verwandelte die Strassen in schlammige Pfützen. Einzelne Blätter wurden von den kleinen Bächen hinfort getragen und verschwanden in der Dunkelheit. Nur einige Lichter flackerten in der Nacht und suchten die Finsternis zu durchdringen, die sich über Bree gelegt hatte.

„Anstatt Deinen Träumerein nachzuhängen, solltest Du Dich auf Deine Pflicht besinnen." Die Stimme des Mannes taumelte zwischen Wut und Trauer. Maßlose Enttäuschung schwang in seinen Worten mit. „Deine Aufgabe war nicht schwierig. Die ganze Sippe widmet sich ihr seit Jahren, aber bisher hat Niemand so versagt wie Du." Er vergrub sein Gesicht in den Händen. „Meine eigene Tochter."

Tränen liefen über Anraens Wangen. Tiefe Furchen bildeten sich in ihrem noch von Schmutz bedeckten Gesicht. Nervös spielten ihre Finger mit dem Holzlöffel in ihrer Hand. Heiser, von Tränen erstickt, klang ihre Stimme. „Es lag nicht in meiner Absicht, Vater. Er hat mich einfach überrascht und im Handgemenge bin ich dann den Abhang hinuntergefallen. Vielleicht gehört er auch gar nicht zu ihnen und es war ein Missverständnis."

Kaum merklich schüttelte Halbarad den Kopf. Dann erhob sich der hochgewachsene Mann und schwer lehnte er sich gegen die lehmverputzte Wand des kleinen Hütte. Wieder suchte sein Blick die Dunkelheit der Nacht zu durchdringen. „Glaubst Du das wirklich, Anraen?" Am Abgrund zur Resignation wandelnd strömt seine Stimme durch die Stube. „Du scheinst Dir unserer Lage nicht klar zu sein. Du träumst von der Auferstehung längst vergangener Zeiten und vergisst die Gefahren der Gegenwart."

Die junge Frau schluckte ihre Antwort hinunter. Das Herumschleichen in Dornenbüschen und das verwahrloste Leben in den Wäldern Anors war nicht nach ihrem Sinn. Aus dem Süden vernahm man von den heldenhaften Kämpfen gegen den dunklen Herrscher und seinen Kreaturen. Von Orten, deren Klang aufhorchen ließen und an alte, glorreiche Zeiten erinnerte. Orte, an denen man Ruhm errang, anstatt in der nördlichen Einöde durch den Schlamm zu kriechen, wie ihr Schicksal es zu sein schien.

„Ich glaube Du bist hier fehl am Platz." Die Worte ihres Vaters ließen Anraen aufhorchen. Kurz keimte die Hoffnung in ihr auf, dass sich ihre Träume bald erfüllen mögen. „Nimm Deine Sachen und verlasse mein Haus." Halbarad suchte seine aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. „Erst wenn Du gelernt hast, welcher Platz in der Welt uns zugedacht ist, kehre zurück. Doch bevor Du noch mal Schande über unsere Sippe bringst, suche lieber den Tod."

Erst als die Tür ins Schloss fiel und sich die Schritte auf der schlammigen Strasse langsam entfernten, ließ Halbarad seinen Tränen freien Lauf. Tränen quollen auch aus den braunen Augen Anraens, während ihr Mantel immer schwerer wurde. Ihre Kleidung war schon vom Regen durchnässt, als sie das Stadttor von Bree passierte und in der Dunkelheit der Wälder verschwand.

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Die Kälte der Butzenscheiben drang an seine Haut und ließ den Mann aufschrecken. Das Prasseln der Tropfen an den Scheiben drang an sein Ohr, während er langsam in die Wirklichkeit zurückkehrte. Die muffige Luft, geschwängert von Rauch und den Ausdünstungen der Gäste, durchwogte den Schankraum. Müde rieb sich der Waldläufer die Augen. Vor ihm wurde ein Pint auf den Tisch gestellt.

Sein Blick schweifte durch den Raum, der im warmen Licht der Kerzen lag. Einige Gäste tranken, redeten und spielten an den Tischen. Mehr unbewusst, ohne dass es Jemand direkt hätte sagen können, mieden die anderen Gäste es ihn anzusehen oder gar seinem Tisch in einer Nische zu Nahe zu kommen. Er war Keiner von ihnen, ein sonderbarer Fremden. Ihm wohnte eine Andersartigkeit inne, die sie ihn auch spüren ließen.

Es störte ihn nicht. Sei es aus Gewöhnung, sei es aus dem Wissen heraus, dass er anders war. Älter als die Ältesten unter ihnen war er unter Elben aufgewachsen, hatte unter den Fahnen Rohans und Gondors gekämpft und Länder bereist, die hier nur noch in Sagen und Legenden lebendig waren. Er, Aragorn, Arathorns Sohn und Isildurs Erbe, hatte schon mehrfach gegen Sauron gekämpft, einem dunklen Schatten in Heldengeschichten, die man Kindern zum Einschlafen erzählte.

Zuweilen beneidete er diese Menschen, die ohne den Ballast des Wissens über die Vorgänge in der Welt, sich ihr eigenes beschauliches Leben in ihrer kleinen Welt eingerichtet hatten. Ohne die Last an Verantwortung, die ihm sein Erbe, die ihm seine Ahnen aufgebürdeten. Er hatte versucht dieser Verantwortung gerecht zu werden, doch wie kein Anderer wusste er auch um seine Schwächen. Die Schwäche, die sein Geschlecht schon vor langer Zeit offenbart hatte.

Mit einem leisen Seufzen griff der Dúnedain in seine Wildledertasche und beförderte eine langstielige Pfeife hervor. Geduldig und ganz im Augenblick begriffen stopfte er sie mit Tabak aus dem Auenland, bevor er sie mit einem Docht entzündete. Entspannt lehnte Aragorn sich zurück und versuchte auf dem harten Holz der Eckbank eine bequeme Sitzposition zu finden. Bemüht nicht einzunicken wartete er.

Ein sanftes Rütteln an seiner Schulter riss ihn aus dem sanften Schlummer. Instinktiv fuhr seine Hand zum Griff seines Schwertes, bevor er sich zu orientieren vermochte. Es war leiser geworden im Schankraum „Zum tänzelnden Pony", die Uhrzeit mochte weit fortgeschritten sein. Doch sein Blick fiel in ein Augenpaar, das mehr Tiefe offenbarte, als es menschlichen Augen möglich gewesen wären.

„Entschuldige, dass ich Dich so lange warten ließ." Ein Lächeln zeigte sich auf dem von tiefen Falten zerfurchenen Gesicht des Mannes. Gekleidet in einen weiten Mantel streckte sich der Alte, bevor er gegenüber des Waldläufers Platz nahm. Aragorn setze sich auf und ein freudiger Ausdruck zeigte sich auf seiner Miene. „Gandalf, alter Freund, Du brauchst Dich nicht zu entschuldigen. Auch Dein Weg wird weit gewesen sein."

Der Istari nickte leicht, während er sich eine Pfeife entzündete. „Aber kein Weg, den ich nicht schon zuvor gegangen wäre, und ich glaube dass unsere Wege nicht weit voneinander entfernt gelegen haben." Fragend hob Aragorn eine Augenbraue, doch der Zauberer winkte ab. „Erst erzähle Du, mein Freund. Deine Neuigkeiten werden wohl von größerem Interesse sein, als meine." Er lehnte sich vor und blickte Aragorn aus seinen hellen Augen an. „Was gibt es Neues über Gollum?"

Der Waldläufer presste die Lippen vor Enttäuschung zusammen. „Es ist mir nicht gelungen, seiner habhaft zu werden. Und wegen diesem Versagen wird wohl noch großes Übel entstehen." Mit ruhiger und unbewegter Miene nahm Gandalf die Worte Aragorns auf. Mit einer leichten Handbewegung forderte er ihn auf weiterzusprechen. „Ich habe seine Spuren verfolgt, durch die Täler des Anduin und im Düsterwald, durch ganz Rhovanion und durch die Wälder Ithiliens."

Aragorn stockte und nahm einen Schluck von seinem Bier. Derweil lag der unergründliche Blick des Zauberers auf seinem rauen Gesicht, bis der Dúnedain mit seinem Bericht fortfuhr. „Seine Spur verliert sich am Pass von Cirith Ungol. Gollum ist nach Mordor gegangen." Gandalf schien kurz in sich zusammen zu sacken und sein Blick trübte sich. Tief atmete er durch, bevor er die unleugbare Tatsache aussprach. „Also ist Gollum in der Hand des Feindes."

Der Waldläufer nickte langsam und bestätigend. „Davon müssen wir ausgehen." Er wendet den Blick ab und schaut hinaus in die dunkle Nacht. „Es tut mir leid, dass ich ihn nicht schnell genug gefunden habe. Wenn ich mich der Aufgabe mehr gewidmet hätte, ich hätte ihn vielleicht vor den Schergen Mordors finden können." Tiefe Schatten der selbst verschuldeten Sorge und Falten der lastenden Verantwortung grub der flackernde Schein der Kerzen in sein Gesicht.

„Auch ich müsste mir diesen Vorwurf machen, Aragorn." Bedächtig klopfte Gandalf seine Pfeife aus. „Aber Niemand vermochte zu sagen, welche Rolle Gollum zu spielen hat. Und noch heute vermag ich dies nicht zu prophezeien. Doch wir brauchen Gewissheit." Der Blick des Istari ruhte auf dem Erben Isildurs, seiner Stimme lag eine seltsame Endgültigkeit inne. „Wenn er Mordor verlässt, müssen wir ihn finden. Suche weiter nach ihm, denn unsere Hoffnung darf nicht schon jetzt dem Schatten zum Opfer fallen."