Wut
Es gab Momente, da rastete sie einfach aus. Da wurde ihr
alles zu viel. Da wurde ihr der Druck auf den Schultern einfach zu
groß. Es gab Momente, an denen Lily Evans die Fassung verlor und
einfach ausrastete.
Sie drehte einfach durch. Einfach so.
Lily,
ein siebzehnjähriges, mittelgroßes und schlankes Mädchen, dass
dunkelrotes, schulterlanges Haar hatte, welches sie immer offen trug,
und mandelförmige, smaragdgrüne Augen besaß, war froh, wenn in
solchen Momenten keiner ihrer Freunde in der Nähe war. Was wäre
geschehen, wenn sie sie gesehen hätten, wenn sie sie schreien hören
würden. Wenn sie hören würden, was sie wirklich über sie dachte?
Lily wollte sich gar nicht ausmalen, was geschehen würde, wenn
James Potter, Schulsprecher und einer ihrer Freunde, in einem solchen
Moment auf sie treffen würde. Sie würde sich nicht beherrschen
können; dann müsste sie ihm ihre Meinung und ihre Gefühle ihm
gegenüber ins Gesicht sagen. Einfach so.
Oder sie konnte gar
nicht daran denken, wenn Sirius Black, ihr bester Freund, kommen
würde.
Ihre Freunde würden das nicht verstehen. Sie würden
nicht verstehen, warum Lily allein sein musste, warum Lily dann
anfing zu weinen. Warum Lily schreien musste. Sie würden dass nicht
verstehen.
Denn Lilys Freunde waren zwar die durchgeknalltesten,
verrücktesten Personen, die Lily kannte, doch sie wusste, dass das
selbst für die Rumtreiber etwas zu unnormal sein würde. Wenn James
oder Sirius oder Peter schlechte Laune hatten, schlecht drauf waren,
dann verwandelten sie sich in ihre Animagi- Gestalt und verschwanden
für ein Paar Stunden im verbotenen Wald.
Doch das konnte Lily
nicht. Dafür war sie viel zu brav, viel zu gut erzogen. Viel zu Lily
Evans– mäßig. Sie hatte es schwerer als James, wenn sie ihre Wut
herauslassen wollte. James stieg in solchen Momenten auf seinen Besen
und drehte ein paar Runden ums Quidditchfeld, doch das konnte Lily
nicht. Ihre Wut konnte sie dadurch nicht loswerden.
Und Lily
war oft wütend. Oft wegen belanglosen Sachen. Weil Elena Petterson
mit James flirtete; das sollte Lily nicht wütend machen und sie
wusste das. Oder weil Petunia, ihre Schwester, ihr wieder mal durch
Missachtung einen Stich tief im Herzen verursachte. Einmal war sie
wütend, weil ihr bester Freund Sirius ihren Geburtstag vergessen
hatte, der in den Weihnachtsferien lag und von dem er wahrscheinlich
nicht einmal gewusst hatte. Wegen all diesen unwichtigen, belanglosen
Dingen wurde Lily Evans so wütend, dass sie sich richtig beherrschen
musste. Die Wut war in ihr angestaut, doch sie wollte heraus, wie die
Worte, die Lily auswendig kannte und noch nie gesagt hatte. Sie
konnte sie nicht herauslassen, wenn sie mit ihren Freunden zusammen
war und darüber reden wollte. Ja, sie wollte reden, doch sie konnte
nicht.
Dann war es, als wäre ihr Kopf leer, als könnte sie sich
an nichts erinnern. Ihre Wut war noch da, doch die Gründe dafür
kamen ihr so weit weg, so verschwommen vor, dass sie nicht mehr daran
dachte, ihre Freunde darauf anzusprechen.
Sie konnte nicht einmal
mit ihrer besten Freundin Nicole Williams darüber reden. Nicole war
nett, freundlich, zuvorkommend. Aber sie war eben auch eingebildet.
Lily mochte ihre beste Freundin. Doch über ihre Probleme und
Sorgen konnte sie nicht mit ihr sprechen, dazu kam es nie. Immer
redete Nicole, immer erzählte sie, immer regte sie sich auf. Lily
war das Kissen von Nicole. Und das half keinem. Lily am
allerwenigsten.
Sie saß im Verwandlungsunterricht ganz vorne. Von dort konnte sie dem Unterricht sehr, sehr gut folgen. Sie wollte dem Unterricht folgen, da sie in Verwandlung nicht die Stärkste war, doch heute hatte sich die ganze Welt gegen sie verschworen.
Heute Morgen, als sie aufwachte, hatte die Sonne
sich erlaubt, sie mit ihrem warmen, unnachlässig scheinenden
Strahlen zu wecken. Das hasste Lily. Beim Frühstück wurde es auch
nicht besser. Ihren Tagespropheten lies die Eule in Lilys
Cornfalkesschüssel fallen, während sie sich mit Nicole unterhielt.
Nach diesem Zusammenfall war Lilys Stimmung schon auf dem
Tiefpunkt, die nur noch dadurch getrübt werden konnte, dass Nicole
ihr eröffnete, dass sie sich in James Potter verliebt hatte. Ob sie
ihr helfen würde, mit ihm zusammen zu kommen, hatte sie sie gefragt.
Dabei war Lily seit Monaten unsterblich in James verliebt und nur zu
schüchtern gewesen, es Nicole oder James zu erzählen.
Seitdem
war sie stink wütend auf Merlin und die Welt.
Wieso hatte sie
Nicole nicht erzählen können, dass sie James früher geliebt hatte?
Wieso? Sie begriff das alles nicht mehr.
Prof. McGonagall
erklärte gerade irgendetwas Wichtiges wegen den Prüfungen, doch
Lily hatte nicht zugehörte.
Sie sah auf dem Pergament vor ihr
die Worte "Hilfst du mir nun wegen der Sache mit James?"
erschienen. Sie blickte zu Nicole, die links neben ihr saß. Sie
nickte ihr aufmunternd zu, lächelte sie an. Da wurde alles zu viel
für Lily. Sie bekam kaum noch Luft zum Atmen, ihr ganzer Körper
begann zu zittern.
Sie musste hier heraus. Sie wusste, dass sie
die angestaute Wut einfach herauslassen musste. Langsam, wie in
Trance, stand sie auf, schnappte sich ihre Tasche und ließ eine
völlig verwirrte Klasse zurück.
Der Nordturm war ihr Ziel.
Das war er meistens, wenn sie ihre Wut nicht mehr unter Kontrolle
halten konnte.
Der angenehme, kalte Wind, der ihr die Haare aus
dem Gesicht wehte, tat gut. Sie fühlte sich lebendig.
Sie atmete
ein paar Mal tief durch. Das brauchte sie. Es war, als fiel die ganze
Last, die sie zu tragen hatte, von ihr ab.
Ein befreiender, lauter Schrei verlies ihren Mund, ohne dass sie richtig realisierte, dass sie das gewesen war. Sie schloss die Augen und sah schwarz. Da war nichts mehr. Gar nichts.
„Lily?" Schnell
öffnete sie ihre Augen. Sie wollte nicht, dass man sie so sah.
Verträumt, ruhig. Nicht wütend.
„Erde an Lily? Was is'n
passiert?" James tauchte neben ihr auf. Einfach so.
Lässig,
cool lehnte er sich an die Wand gegenüber von Lily, um sie besser
sehen zu können. Jedes andere Mädchen würde bei diesem Anblick
zitternde Knie bekommen, doch Lily wurde wütender.
Wie konnte er
einfach so ruhig da stehen und tun, als hätte er nichts bemerkt? Das
machte sie rasend.
„Das fragst du noch?" Völlig perplex
starrte sie ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Sie biss auf ihrer
Unterlippe herum, einer ihrer Ticks, die immer dann zum Vorschein
kamen, wenn sie wütend war. Und im Moment war sie sehr, sehr wütend.
„Ähm….ja?! Ich habe leider keine Ahnung, was los ist, also
würdest du mich bitte aufklären." Er sagte das freundlich, nicht
irgendwie böse oder verärgert. Es hörte sich aufrichtig an.
Lily
seufzte. Sie wusste, dass das, was sie gleich tun würde, nicht
richtig war, weil sie Nicole hintergehen würde, aber sie fand, dass
das okay war.
„Ich… war wütend… wegen Nicole."
„Wegen
Nicole? Warte, dass ist die Kleine, Blonde, die immer so viel redet,
nicht?" Pah, dass James nichts von Nicole wollte – Er wusste noch
nicht einmal richtig, wer sie war. Also konnte sie es ihm sagen.
„Na
ja… Nicole hatte mir erzählt, dass sie sich in dich verliebt hat."
Jetzt war es raus. Ganz leise hatte Lily das gesagt, sie hatte
gehofft, dass James sie nicht verstanden hatte.
Aber er hatte es
verstanden. Es dauerte ein wenig, bis er die Sprache wieder gefunden
hatte.
Dann räusperte er sich:„ Oh... okay, und was …. Was
stört dich jetzt daran?"
Er verstand einfach nicht. Er konnte
es auch nicht verstehen, Lily hatte ihm nie irgendetwas erzählt.
Sie seufzte noch einmal:„ James, ich… ich war wütend, weil
ich mich auch in dich verliebt habe." Sie hatte ihren Rücken zu
ihm gedreht; sie wollte seinen Gesichtsausdruck nicht sehen.
Er
stand da, völlig regungslos. James dachte, er hatte sich verhört.
Lily Evans, eine seiner besten Freundinnen und Schulsprecherin,
hatte sich in ihn, James Potter, Rumtreiber, verliebt? Das … war
unmöglich.
Sicher, James war in Lily verliebt, sogar schon sehr
lange, aber dann zu hören, dass sie sich, sie, die sich die ganze
Zeit gegen ihn gewehrt hatte, sich in ihn verliebt hatte… dazu kam
noch, dass sie sich anders verhielt, als sie es sonst tat.
„Aber…wieso?" vorsichtig sprach er das aus, er wollte
nicht, dass Lily anfing zu schreien.
„Ich weiß es nicht."
Dann schwiegen sie beide. Lily wusste nicht, was sie hätte sagen
sollen und James war noch zu geschockt, als das er irgendetwas hätte
sagen können.
„Rede mit mir, Lily." flüsterte James.
Lily
wusste nicht, was sie hätte sagen sollen. Hätte sie ihm erklären
sollen, dass sie gerne hier alleine war, dass sie ihn nicht brauchte,
dass sie das allein konnte?
„Verdammt, Lily, rede mit mir!"
Sie drehte sich langsam um. In seinem Gesicht erkannte sie so
vieles, was sie gehofft hatte zu sehen. Trotzdem konnte sie das alles
nicht zulassen.
Dann spürte sie die Arme von James, die
versuchten, sie zu beschützen. Einfach so.
Doch sie wollte das
nicht. Sie wollte diese Arme nicht spüren, sie wollte die Wärme von
James' Körper nicht spüren. Sie wollte nicht, dass er sie
beschützen musste. Das musste er nicht; sie war stark genug, um sich
selbst zu verteidigen.
„Lass mich los." murmelte sie
bestimmt.
„Nein."
„Lass mich los. Lass mich los!"
sagte sie nun bestimmter. Lily hasste es, wenn man sie umarmte, ohne
dass sie es wollte.
„Lass mich verdammt noch mal los!" Ihre
Stimme wurde lauter. Sie versuchte sich gegen James zu wehren, doch
er war zu stark für sie.
„Ich will aber nicht! Lass mich los!
Ich will nicht!"
Leise flüsterte James ihr ins Ohr, so dass
sie verstummte: „Ich liebe dich, Lily."
Das ließ Lily
verstummen. Sie wusste nicht, was in sie gefahren war. Die Wut, die
tief in ihr drinnen gewesen war und nicht an die Oberfläche kommen
sollte, hatte es dennoch geschafft.
Und dann, ganz langsam,
geschah etwas, was Lily für nie möglich gehalten hätte. James
küsste sie. James Potter küsste Lily Evans. Lily drückte sich ganz
dicht an ihn, um so nah wie möglich bei ihm zu sein, und erwiderte
den Kuss.
„Was war vorher los?" murmelte James, als er sich
von ihr löste.
„Ich war so wütend. Ich wusste nicht, was ich
tun sollte… es wurde einfach zu viel für mich."
„Wird es
das oft? Wird es dir oft zu viel?" Leicht schüttelte sie den Kopf.
„Manchmal. Nicht oft."
„Lils… wenn du noch mal wütend
bist… rede mit uns darüber; rede mit mir darüber."
Lily
nickte kaum merklich. Ja, dass würde sie.
Ja, es gab
Momente, in denen sie ausrastete. Ja, es gab Momente, in denen ihr
alles zu viel wurde. Ja, solche Momente gab es.
Aber Lily wusste,
dass es auch bessere Momente gab. Momente, in denen sie mit ihren
Freunden lachte, in
denen
sie glücklich war.
In denen sie Lily sein konnte.
