Es war um das Jahr 1280 des dritten Zeitalters als Thranduil, Sohn Orophers und Herrscher über das Waldlandreich des nördlichen Grünwaldes, mit seinem Gefolge zur Jagd ritt.
Der angebrochene Frühherbstmorgen war kühl, doch die Sonne, die in den letzten Tagen hinter einer dichten Wolkendecke verschwunden war, schnitt mit ihren frischen Strahlen durch das Blätterdach der Bäume und erhellte den Wald ungewöhnlich. Der Nebeldunst über dem Moosbedeckten Boden schimmerte hier und da auf, wog und wellte sich in der schwach bewegten, nach Harz riechenden Luft und verblasste allmählich.
Der Elbenkönig sah diesen Anblick gerne. Die Morgenfrische schärfte seinen Verstand. Neben ihm ritten die Brüder Glandur und Arandur, zwei treue Begleiter, die er seit jeher kannte. Arandur war der ältere und hatte, zweitausendsiebenhundert Jahre zuvor, gemeinsam mit dem jungen Thranduil und dessen Vater die Küsten Lindons Richtung Osten verlassen.
Die drei Elben ritten nun tiefer in den Wald, die Augen offen für jede kleinste Bewegung zwischen den unendlichen Reihen an geraden Kiefernstämmen. Sie hielten Ausschau nach Hochwild. Jeder ihrer Rücken war geschmückt mit einem großen, verzierten Bogen aus weißem Holz und einem Köcher, gefüllt mit rot befiederten Pfeilen.
Thranduil war unverkennbar. Er trug einen silbernen Umhang aus edlem Stoff, mit einer Blattförmigen Brosche und auf seinem Haupt eine Krone aus Herbstblumen und buntem Laub. Seine langen, goldenen Haare waren in einen Zopf geflochten.
Die Reiter trennten sich. Der König wandte sich auf wohlbekanntem Pfade nach Nordwesten, Glandur folgte ihm zunächst, bog dann aber weiter ab nach Westen. Arandur ritt gerade Richtung Norden. Das Prozedere war nicht neu. Das Elbenpferd Thranduil's hieß Beleg. Es war jung und schnell. Die Hufen schlugen dumpf auf dem Waldboden auf, während es hier und da geschickt den Bäumen auswich.
Pferd und Reiter überquerten eine Lichtung und einen kleinen Bach, der, wie der Elb wusste, im nahen Waldfluss mündete. Er ritt weiter. Die Gegend war ihm noch bekannt, doch ein ungutes Gefühl überkam ihn. Er hatte die Stille bemerkt, kein Vogel war zu hören. Er zügelte sein Pferd und wurde langsamer. Im trab huschte Beleg fast lautlos durch die Bäume.
Die Ered Mithrin lagen noch fern, doch Thranduil hatte bereits vorher schon mit Besorgnis wahrgenommen, dass sich der Schatten des grauen Gebirges immer weiter über den Grünwald zog. Der Wind rauschte durch die hohen Baumkronen und schüttelte einige Nadeln herunter. Das Sonnenlicht drang hier für gewöhnlich großzügiger in den Wald ein, sodass besonders hier viele Jungbäume zu wachsen begannen. Diese verhinderten eine weite Sicht in den Wald hinein.
Thranduil nahm seinen Bogen. Etwas war in der Nähe, das spürte er. Er legte einen Pfeil an. Ein Reh? Aufmerksam bewegten sie sich durch das Gestrüpp an Ästen und Nadelholz. Das war der Nervenkitzel der Jagd... Gleich musste er blitzschnell Handeln.
Hinter einem Baum erkannte er zwischen dem dunkelgrünen Moos gerade die Spiegelungen eines kleinen Waldteiches, als sich direkt neben ihm plötzlich etwas bewegte!
Der Elbenkönig reagierte schnell, drehte sich um und schoss. Der Pfeil traf in einen Baumstamm. Und fünf Zentimeter daneben erstarrte das bleiche Gesicht einer jungen Frau.
Ihre Augen waren vor Schreck geweitet. Auch aus Thranduil's Gesicht wich jede Farbe. Einen Augenblick brauchte er, um die Situation zu erfassen. Da saß er auf seinem Pferd, hatte auf ein Geschöpf geschossen, eine Elbin war sie, und es verfehlt. Sie stand keine drei Meter von ihm entfernt, war an den mächtigen Baumstamm zurückgewichen und hatte eine Schüssel mit Wasser fallengelassen.
Sie war sehr hübsch, doch sie hatte etwas Fremdes an sich. Sie passte nicht zu den Elben der Wälder, zum Volk der Nandor. Vielleicht kam sie aus Imladris, dem Reiche Elronds? Sie trug ein leichtes Gewand, welches blau aufschimmerte, ihre braunen Haare waren mit goldenen Strähnen durchzogen und fielen ihr ins Gesicht. Ein kleines Perlendiadem schmückte ihre Stirn.
Erst jetzt fiel Thranduil eine Verletzung an der rechten Schulter auf. Eine kürzlich zugefügte Wunde, die ihr Kleid bis zum Busen in ein frisches Rot tränkte. Sie musste unbedingt versorgt werden. Aber er wusste, die ungewöhnliche Situation erlaubte dennoch keine Fehler. Er durfte nicht unvorsichtig sein.
Er stieg vom Pferd und näherte sich ihr. In diesem Moment löste sie sich aus ihrer Schreckstarre, wandte sich um den Stamm herum und verschwand im Dickicht. Kurz darauf vernahm der Waldkönig ein leises wiehern und ein sich entfernendes Hufgetrappel. Er sprang auf sein Pferd und trieb es voran, an dem Baum vorbei, die Verfolgung aufnehmend. Sie ritten Richtung Osten. Thranduil sah schon bald ein weißes Pferd vor sich, es wurde langsamer. Nach einigen Minuten verfiel es in ein leichtes Traben und wandte sich mal hierhin, mal dorthin, scheinbar ziellos. Und als der Elb sie eingeholt hatte, erkannte er, dass die Frau, den Kopf vornüber gebeugt, ihre Hände in die Mähne des Tieres gegraben, scheinbar Ohnmächtig geworden war.
Er griff nach den Zügeln des Schimmels und blies in sein Horn, um seine Gefährten zu rufen.
Arandur erschien als erster. Der Anblick, der sich ihm bot, war nicht der, den er erwartet hatte. Fragend blickte er zu Thranduil. „Wir werden sie mit uns nehmen", sprach dieser. „Wir werden ihr helfen und dann womöglich Antworten erhalten." Arandur nickte. In diesem Moment stieß auch Glandur, die Wangen gerötet von der Hast, mit der er dem Rufe des Horns gefolgt war, zu ihnen. Er hatte zwei erlegte Hasen dabei.
„Mein Herr?", fragte er luftholend. Sein älterer Bruder stieg von seinem Pferd, trat zu dem weißen hin, flüsterte ihm etwas ins Ohr und schwang sich auf seinen Rücken. Mit dem einen Arm hielt er die Zügel, mit dem anderen, die blasse Gestalt der jungen Frau. Ihr, von dunklen Haaren umrahmte, Gesicht sah aus, als sei sie in einem tiefen Schlaf. Friedlich.
„Wir reiten zurück in die Hallen!", befahl Thranduil und die Gruppe machte sich auf den Weg. Das treue Pferd von Arandur folgte ihnen.
