Loslassen bedeutet nicht, den Dingen gleichgültig gegenüberzustehen. Es bedeutet vielmehr, dass wir uns in kluger und den Umständen angepasster Weise um die Dinge kümmern.

(Jack Kornfield)

Vor drei Jahren:

„AAAAAAAAHHHHHHHHHH!"

Jeder Anwesende blickte auf und wandte seinen Blick zu einem Tisch, an dem ein Mädchen saß, das bis eben noch Zeitung gelesen hatte. Ihre Kaffeetasse lag in Scherben auf dem Boden, der Inhalt hatte sich während des Falls auf die aufgeschlagene Seite entleert. Lange hellblonde Locken hingen in ihr bleiches Gesicht, dessen hilfloser Ausdruck sofort in unendliche Raserei umschlug.

„Dieser Kerl…" Sie hielt einen Steckbrief in beiden Händen. Sie zitterte am ganzen Leib und ihre sonst so klare Stimme hörte sich an wie ein tiefes Brummen. „Wie kann er mir das antun?" Nein, Anne wollte nicht weinen. Tu es nicht, die Leute gucken schon. Du bist doch keine Memme. Wie konnte er nur? Er wusste doch sicher was los war und doch wagte er es, sie auf diese Art zu verletzen. Ihre nackten Füße verkrampften sich schmerzhaft. Ja, sie war wütend. Zähneknirschend betrachtete sie das kaffeebefleckte Foto des Mannes, der sie so sehr auf die Palme brachte. Fing er jetzt auch schon so an? Ich vermisse dich schon so lange… Und bin schon völlig verzweifelt, dass ich dich nie wieder sehen kann… Wie lange ist das jetzt her? Die fünf Jahre, die sie ihn nun nicht mehr gesehen hatte, waren langsam vergangen. Sehr langsam. Fünf quälende Jahre, in denen sie sich gefragt hatte, ob sie ihn je wieder umarmen könnte… Seine Stimme hörte sie jede Nacht in ihren Träumen. So vertraut… So irreal… So fern… Es brodelte immer noch in ihr doch ein Teil der Wut schlug in tiefe Wehmut um und nun fand doch die eine oder andere Träne ihren Weg in die Kaffeeflecken. Es war einfach unfair, dass sie sich so sehr für ihn ins Zeug gelegt hatte und so dankte er es ihr. Na vielen Dank, das konnte die Siebzehnjährige überhaupt nicht gebrauchen. Sie musste diesen Typen suchen. Hoffentlich würde sie ihn bald finden. Sie schlief seit ihrer Festnahme damals kaum und war ständig mit den Nerven am Ende. Nur weinen, das wollte sie nicht. Normalerweise tat sie das nur wenn sie alleine war aber heute… Heute war es besonders schlimm und die abgehärtete Verbrecherin konnte nicht anders. Sie hatte einen neuen Steckbrief gefunden. Der Erste, den sie von ihm sah, also konnte er noch nicht so lange unterwegs sein. Sie nahm das Fahndungsfoto, steckte es in ihre einzige Hosentasche mit einem Reißverschluss und schloss diese sorgfältig, während sie die Worte „Bald, sehr bald schon" flüsterte. Das Mädchen stand auf, faltete die Zeitung zusammen, zupfte sein enges, bauchfreies, grünes Top zurecht und zog seine weite dunkelgraue Dreiviertelhose, die etwas heruntergerutscht war, wieder auf die richtige Höhe. Ich habe wieder abgenommen. Das kann doch nicht sein, an mir ist doch sowieso schon nichts dran.

Das Mädchen strich über seine riesige metallische Armbrust, die es neben sich geparkt hatte und deren Gurt schon die ganze Zeit über seinem Arm hing. Die Waffe war aus einem Metall, dessen Namen Anne schon wieder vergessen hatte. Jedenfalls war es ein leichtes aber trotzdem stabiles Material, das ihr erlaubte diesen Koloss von einer Schusswaffe, dessen Bogen sie auf einer Seite zu einer Klinge geschliffen hatte, mit sich herumzutragen. Sonst hätte sie sich wohl schon längst mehr als einen Bruch an dem Ding gehoben. „Monsieur le Bourreau", wie sie ihr Schätzchen höflich nannte, war ihr ständiger Begleiter. Sie legte ihn nur ganz ab wenn sie schlief oder sich wusch und nicht einmal dann tat sie es gerne. Diese Waffe war der Anker ihres Lebens. Sie hatte diese Gerätschaft schon seit sie alt genug war, etwas Größeres zu führen als einen Dolch, den sie trotzdem immer noch mit sich herumschleppte. Anne nahm ihren Monsieur le Bourreau, hängte ihn über ihre schmalen Schultern, legte etwas Geld auf den Tisch und als sie die Scherben der Kaffeetasse aufgehoben und deren verschütteten Inhalt aufgewischt hatte, verließ sie die Kneipe mit den Worten „Das sollte auch für die kaputte Tasse reichen! Schönen Tag noch!".

Als sie auf die Straße trat, musste sie erst einmal die Augen zukneifen, bevor sie sich an das helle Licht gewöhnte. Sie blinzelte vorsichtig und machte sich dann auf den Weg. Ein paar Häuser weiter blieb sie stehen und drehte sich zu einem jungen blonden Mann um, der dort stand und scheinbar auf sie gewartet hatte. Er trug eine lange blaue Hose und ein schwarzes offenes Hemd. Dazu einen blauen Zylinder, an dem eine Brille befestigt war.

„Wir müssen los, kleiner Waldschrat. Ace hat Mist gebaut."

Sabo sah sie an und nickte. „Das habe ich heute auch erfahren. In der Stadt hängt sein Steckbrief aus."