Ein ganz normaler Schultag
Laura
Alles begann an einem typischen Montagmorgen. Naja, es war nicht irgendein Montagmorgen, sondern der erste Montag nach den Ferien und wie immer nach den Sommerferien, verschlief ich und so kam es, dass ich nicht bemerkte, dass in dem leerstehenden Haus gegenüber Licht brannte und ein alter, blauer Geländewagen vor der Tür stand, weil ich im Stress war. Ich kam ohne vernünftiges Frühstück zwanzig Minuten vor Unterrichtsbeginn an der Schule an, weil ausgerechnet heute natürlich super Verkehr sein musste und die zusätzlichen zwanzig Minuten Wartezeit vor Ampeln und sonstigen Verkehrsbehinderungen für Fahrradfahrer natürlich heute mal frei hatten.
Genervt schob ich also mein Fahrrad zum Ständer und schloss es ab. Wie immer nach den Ferien musterte ich verschlafen das verrostete alte Schild, das die Schule als unsereauswies. Ich trottete ins innere des Schulgebäudes und holte mir beim Sekretariat meinen Stundenplan ab. Toll, erste Stunde Mathe. Warum auch nicht? Noch mieser gelaunt, als vorher machte ich mich zu meinem Raum auf. Ich hatte offenbar doch Glück, denn vor dem Raum standen meine Freunde Julian und Kara.
„Mensch, du bist pünktlich Laura!", freute sich Kara und umarmte mich.
Ich verdrehte nur die Augen und erzählte ihr von meinem miesen Tag.
„Das ist bitter", kommentierte Julian am Schluss.
Kara und ich warfen ihm einen unserer berühmten „Ach-ne!"-Blicke zu und er zuckte nur mit den Achseln.
„Wer ist das denn?", fragte Julian plötzlich und ich folgte seinem Blick.
An der Wand lehnten zwei Jugendliche, ein Junge und ein Mädchen.
Das Mädchen hatte Augen, die ständig die Farbe zu wechseln schienen und schokoladenbraune Haare, die sie zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden hatte. Ihre Haut hatte einen hellen Teint, war aber nicht blass.
Der Junge war sonnengebräunt, schwarzhaarig und hatte intensive meergrüne Augen. Die Beiden unterhielten sich leise und, und das war nämlich das komische, ich hatte sie hier noch nie zuvor gesehen. Julian richtete sich auf und ging auf sie zu. Kara und ich folgten ihm.
„Hi, seid ihr neu hier?", fragte Kara freundlich.
Sie nickten.
„Ich bin Kara und das sind meine Freunde Laura und Julian", machte sie unbeirrt weiter.
„Reyna und das ist Charlie", meinte das Mädchen, Reyna, und hob die Hand.
Julians Blick glitt unauffällig zu Charlie, aber Reyna bemerkte es.
„Charlie ist morgens oft ein wenig abwesend", grinste Reyna und knuffte Charlie kurz in die Seite.
„Was?", fragte dieser verwirrt.
„Was war es diesmal?", Reyna grinste noch breiter.
„Ich hab nur darüber nachgedacht, was die sechsundsiebzigste Stelle von Wurzel Zwei ist", seufzte er.
„Mhm, vielleicht fragst du heute Nachmittag einfach deine Mom", meinte Reyna gespielt nachdenklich, „So und jetzt mal ehrlich, woran hast du gedacht?"
Charlie lachte: „Ich hab mich gefragt, ob Mom mich heute surfen lässt, obwohl Schule ist."
„Bestimmt und wenn nicht, legt dein Dad bestimmt sein Veto ein", beruhigt Reyna ihn.
„Du surfst?", fragte Julian überrascht.
Er surfte ebenfalls und brauchte noch einen ‚Surfkumpel', weil Kara und ich so gut wie keine Ahnung davon hatten.
„Ja, schon seit ich laufen kann", sinniert Charlie.
„Cool, vielleicht können wir ja mal zusammen surfen", schlug Julian begeistert vor.
„Vielleicht", meinte Charlie achselzuckend.
In diesem Moment kam unser Mathelehrer Mr James um die Ecke und schloss die Tür auf, um uns in die Folterkammer, Verzeihung, den Unterrichtsraum zu lassen. Wir drei setzen uns wie üblich nebeneinander ans Fenster. Ich lies den Blick durch die Gruppe von Schülern schweifen und bemerkte, dass sich Reyna und Charlie nebeneinander nahe der Tür hingesetzt hatten.
„Wie ich sehe haben wir zwei neue Gesichter in unserer Klasse", fing Mr James an und fixierte Reyna und Charlie, „Würdet ihr euch vorstellen? Ihr könnt auch sitzen bleiben."
„Okay, ähm, Hi, ich bin Charlie Jackson", fing Charlie an.
„Und ich bin Reyna Grace", machte Reyna weiter.
Verschiedene Nachnamen also. Ich hatte die Beiden für Geschwister gehalten.
„Seid ihr irgendwie verwandt oder so?", fragte Jim laut.
„Unsere Väter sind Cousins und wir sind zusammen aufgewachsen", antwortete Reyna.
„Warum seid ihr hergezogen?", fragte Jim weiter.
„Wegen dem Job meines Dads", meinte Charlie.
„Und was arbeitet der?", fragte nun Hannah.
„Er ist Meeresforscher", seufzte Charlie und warf Reyna einen genervten Blick zu.
„Oh, okay", murmelte Hannah verlegen.
„Und was hat das mit dir zu tun, Reyna? Ich meine, wenn seine Familie umziehen muss, muss deine ja nicht mit", stellte Henry fest.
„Meine Eltern wollten sowieso schon lange umziehen und da sie flexible Jobs haben, war das kein Problem", erklärte Reyna.
„Nun, da das nun geklärt worden ist, wie waren eure Ferien?", fragte Mr James.
Ein paar hoben die Hand und wir verbrachten den Rest der Doppelstunde damit, auszutauschen, was wir in den Ferien gemacht hatten.
Die nächste Stunde hatte ich Geschichte, genau wie Reyna und Charlie. Wir hatten Mrs McHagon abbekommen, die uns sofort in der allerersten Stunde mit Unterricht plagte.
„Wir werden als erstes Unterrichtsthema dieses Jahr die Überquerung der Alpen Hannibals durchnehmen", verkündete sie freudestrahlend, „Wer kann mir etwas dazu erzählen?"
Charlie und Reyna hoben bei die Hand.
„Ja, äh?", Mrs McHagon deutete auf Charlie.
„Charlie. Der karthagische Feldherr Hannibal überquerte im zweiten punischen Krieg 218 v. Chr. mit 50.000 Soldaten, 9000 Reitern, manchmal werden auch 25.000 Soldaten und 12.000 Reiter angegeben, und 37 Kriegselefanten die Alpen. Er startete von Karthago, um einem Angriff der Römer auf Spanien und Nordafrika zuvorzukommen. Sein Widersacher war der römische Konsul Publius Cornelius Scipio. Trotz deutlicher Unterzahl schaffte es Hannibal mit seinem geschwächten Heer Scipio zu schlagen. Auch die darauffolgenden Schlachten konnte Hannibal für sich entscheiden. Der zweite punische Krieg war eine peinliche Niederlage der Römer", schloss er.
„Sehr gut, Charlie", lobte ein verblüffte Mrs McHagon.
Charlie zuckte nur mit den Schultern und förderte aus seinem Rucksack ein teuer aussehendes, dickes Notizbuch hervor. Es hatte einen marineblauen Umschlag, der mit feinen grauen Linien überzogen war. Auf dem Deckel stand etwas, aber ich konnte nicht lesen was, weil es nicht unser Alphabet war. Charlie murmelte etwas und öffnete dann das Buch. Es hatte dicke Seiten aus Pergament und war mit ähnlichen Schriftzeichen bedeckt wie der Titel. Auf der ersten Seite konnte ich ein Foto erkennen. Es zeigte fünf Personen: Eine blonde Frau, einen schwarzhaarigen Mann, der wie eine ältere Version von Charlie aussah, Charlie selbst mit vielleicht zwölf Jahren, ein blondes und ein schwarzhaariges Mädchen, die gleich alt wirkten. Charlie blätterte etwa zur Mitte des Buches, wo die Schrift endete und holte einen teuer aussehenden Füller heraus, der ebenfalls das Muster des Buches hatte. Er fing an die Seite mit den komischen Schriftzeichen zu füllen, lauschte aber trotzdem noch dem Unterricht und konnte jede Frage richtig beantworten, die Mrs McHagon ihm stellte.
Am Ende der Stunde verließ er mit Reyna in Windeseile den Raum und ich sah ihn erst nach einer langweiligen Doppelstunde Englisch in Latein wieder. Unser Lehrer war Mr Kamon. Er hatte die Angewohnheit, seinen Unterricht zu machen, egal welcher Tag war oder was davor passiert war und so natürlich auch nach den Sommerferien.
Er ging nicht mal auf Reyna und Charlie ein. Wir mussten wie immer einen lateinischen Text ins Englische übersetzen und ihn dann abgeben. Eigentlich mochte ich Latein, aber direkt nach den Sommerferien hatte ich keine Lust mich durch Homers Odyssee zu quälen. Der Text war eineinhalb Seiten lang und normalerweise bekamen wir ihn auch als Hausaufgabe auf, aber ich war mir meinem Status als schnellste Übersetzerin in Latein, ich war nämlich immer schon vor Stundenende fertig, später doch nicht mehr so sicher, denn Reyna und auch Charlie gaben ihre fertigen Übersetzungen nach einer Viertelstunde ab.
Mr Kamon las sich beide Texte sichtlich verwirrt mindestens drei mal durch, um dann vor der ganzen Klasse stotternd zu verkünden, dass sie fehlerfrei waren. Charlie und Reyna tauschten daraufhin verschwörerische Blicke aus und grinsten.
„Wie soll man das denn übersetzen?", stöhnte Kara, die wirklich grottenschlecht in Latein war und es glaube ich nur mit zuliebe noch nicht abgewählt hatte. Ich packte kurz vor Ende der Stunde meine Sachen und schaffte es tatsächlich Charlie und Reyna vor dem Raum abzupassen.
„Was glaubst du will sie von uns?", flüsterte Charlie Reyna gut hörbar zu.
„Vielleicht will sie wissen, warum wir so umwerfend gut aussehend?", grinste Reyna.
„Du verbringst eindeutig zu viel Zeit mit Leo!", stellte Charlie fest.
Ein Brummen seitens Reyna war die Antwort.
„Wie habt ihr das gemacht?", fragte ich.
„Naja, also du bewegst deinen Mund und dann benutzt du deine Stimmbänder und dann...", Charlie grinste mich frech an.
„Nicht das Sprechen, das in Latein. Wie konntet ihr das so schnell übersetzen?", fragte ich entnervt.
„Wir haben die Odyssee schon mit zehn übersetzt, Laura. Das war für uns nichts neues, außerdem können wir sie auswendig und das Ende ist sowieso bekannt", stöhnte Reyna.
„Wieso konntet ihr die Odyssee schon mit zehn übersetzen?", wunderte ich mich.
„Familiengeheimnis", lächelte Reyna und sie und Charlie zogen in Richtung Mensa, schließlich war Mittagspause.
Ich starrte ihnen noch eine ganze Weile verwirrt nach, bis mich Kara aus meiner Starre riss: „Willst du noch lange so rumstehen? Ich hab nämlich Hunger!"
Ich schüttelte nur den Kopf und folgte immer noch in Gedanken meiner Freundin zur Mensa.
Da ich reichlich lange Löcher in die Luft gestarrt hatte, war die Mensa schon so gut wie voll und Kara, Julian und ich beschlossen, uns nach draußen zu setzen. Es war wie immer im Spätsommer angenehm warm draußen und heute schien sogar die Sonne. Wir ließen uns mit unserem Essen bei den Bäumen nieder und beobachteten die Sportler, die gerade Lauftraining hatten. Matt, einer meiner Mitschüler schnaufte mit hochrotem Kopf an uns vorbei.
„Gib Gas Matt!", feuerte Kara ihn scherzhaft an, aber Matt schien tatsächlich noch einmal schneller zu werden.
Es war kein Geheimnis, dass er und Kara mal ineinander verliebt waren, was keiner der Beiden je zugegeben hatte. Das war schon längst vorbei, doch Kara hatte immer noch eine andere Wirkung auf Matt.
Ich lies meinen Blick über unseren kleinen Schulhof wandern und entdeckte Reyna und Charlie, die nebeneinander auf dem Rasen saßen. Beide aßen Sandwiches, wobei das von Charlie irgendwie komisch aussah, denn es hatte einen blauen Belag.
„Bist schon mit Latein fertig, Laura?", fragte Kara mich.
„Warum fragst du das eigentlich noch?", murrte Julian, „Sie ist immer mit Latein fertig."
„Stimmt, also kannst du mir helfen?", Kara setzte ihren Hundeblick auf und so verbrachte ich die Mittagspause damit, Kara mit Latein zu helfen.
Am ersten Schultag nach den Sommerferien hat die ganze Schule nach der siebten Stunde frei und so musste ich mich nur noch durch eine langweilige Biostunde quälen bevor ich nach Hause fahren konnte. Auf dem Parkplatz der Schule sah ich schon wieder Charlie und Reyna. Ich schloss mein Fahrrad auf und schob es an ihnen vorbei. Kara und Julian gingen neben mir her.
„Hey Charlie, auf wen wartete ihr?", fragte ich ihn.
„Auf unsere Geschwister", brummte dieser. Drei Jugendliche kamen auf uns zu.
„Mensch Charlie, musst du so versteckt parken?", rief ein schwarzhaariges Mädchen ihm zu.
„Hier sind wir doch heute morgen auch ausgestiegen", wunderte er sich.
Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern und stieg mit den anderen Beiden in den Wagen ein, während Charlie sich kopfschüttelnd hinters Steuer setzte. Ich verabschiedete mich von meinen Freunden und fuhr nach Hause. Dort erwartete mich ein Buch und mein weiches Bett, was meine Laune erstaunlich hob. Abends ging ich noch am Strand joggen, wo mich eine kleine Überraschung erwartete.
