Auf der Überlandleitung versammeln sich die Vögel für den Flug in den Süden. Eine schwarze Perlenkette, kaum erkennbar im Nebel, der über der Landschaft liegt. Matter, feuchter Schleier. Melancholie der Vergänglichkeit. Der Sommer ist vorbei. Verblüffend gleichmässiger Abstand von Vogel zu Vogel. Wie Tau, der am frühen Morgen im Spinnennetz hängt. So regelmässig. Verborgene Gesetze im Hintergrund der Schöpfung. Die Vögel stehen unbewegt. Sie warten im Nebel. Kein Mensch weiss, worauf. Sie fliegen los, irgendwann, plötzlich, Impuls durch alle Sphären hindurch. Er reisst alle mit. Kraft geheimnisvoller Ordnung. Ein schwarzer Schwarm.
„Sie werden nicht allein sein, John", sagte Lestrade. „Die Kollegen von Bury St Edmunds werden Sie unterstützen. Und wir haben einen Mann in der Szene, der mit uns zusammenarbeitet. Er wird Sie in die entsprechenden Kreise einführen."
Sherlock schüttelte nachdenklich den Kopf. Sein Blick streifte den von John.
„Schicken Sie jemanden von IHREN Leuten, Lestrade", sagte er.
John zog ungläubig die Braue in die Höhe, sagte aber nichts.
„Ich habe niemanden, Holmes", sagte Lestrade, „deshalb wende ich mich an Sie. Die Undercover-Ermittlungen können lange dauern. Wir rechnen mit mindestens zwei Monaten. Ich kann niemanden von meinen Leuten so lange entbehren. Zudem ist John als Arzt geradezu ideal. Die Spur führt ins St Annas Hospital. John könnte dort arbeiten. Er wäre optimal getarnt."
„Was sind ‚entsprechende Kreise'?" fragte John.
„Die meisten Ärzte des St Annas verkehren in demselben Klub. Ein akademischer Männerklub alter Schule. Alle drei Opfer haben ihn regelmässig frequentiert. Die Kollegen aus Bury haben Hinweise, dass die Täterschaft dort zu suchen ist. Der Klub liegt in einem alten Landhaus etwas ausserhalb der Stadt. Sie nennen ihn ‚Luzifers Gärten'. Hier treffen sich die Ärzte und Chemiker mit den Wissenschaftlern der technischen Hochschule und den Literaten und Philosophen der nahen Universität. Leicht verzopft, nehme ich an, das Übliche. Akademiker-Dünkel. Diskutieren, debattieren, die Welt erklären, teuren Whisky trinken, lesen, Beziehungen pflegen."
Lestrades Stimme liess unschwer erkennen, was er von solchen Einrichtungen hielt.
„Ich brauche mehr Informationen um mich entscheiden zu können", sagte John.
„Es gibt nichts zu entscheiden", sagte Sherlock mit eisiger Stimme und stand auf. „Wir nehmen den Fall nicht an."
Und zu Lestrade gewandt:
„Suchen Sie sich ihren Mann für diese Mission anderswo, Lestrade. Wir sind die falsche Adresse."
Sherlock verliess das Büro ohne weiteren Kommentar. John blieb kopfschüttelnd sitzen. Erst als Sherlock von der Türe aus rief:
„Kommst du, John?" stand John auf und ging hinaus auf den Korridor, hielt Sherlock am Arm fest.
„Wir nehmen den Fall", sagte er bestimmend.
„Nein, das tun wir nicht!"
Sherlocks Augen funkelten verärgert.
„Wir brauchen das Geld Sherlock, das weisst du genau. Wir hatten schon eine Weile keinen Fall mehr und der ist wirklich lukrativ. Zudem ist Lestrade in Bedrängnis und ich kann ihm problemlos helfen."
„Problemlos? Es geht um dreifachen Mord, John. Der Einsatz ist gefährlich."
„Jeder Einsatz ist gefährlich".
Sherlock schnaubte.
„Du bist in Bury. Auf unbekanntem Terrain. Mit fremden Leuten. Ich bin weit weg. Ich kann dir nicht helfen, wenn etwas passiert. Ist dir das klar?"
„Ich war im Krieg, Sherlock. Und ich habe ohne dich überlebt."
„Ich weiss. Du gehst trotzdem nicht nach Bury."
„Warum nicht? Ich habe Zeit und ich bin der ideale Mann für diesen Auftrag."
„Ich brauche dich in London, John!"
„Wofür?"
Eine Welle der Verblüffung und Unsicherheit flackerte durch Sherlocks helle Augen. Sie schauten sich an. Schweigend. Sherlock antwortete lange nicht. Dann sagte er:
„Ich dachte, wir sind ein Team."
John holte tief Luft, senkte den Blick, überrascht von der Enttäuschung, die in Sherlocks Stimme mitklang. Dann schaute er auf in die Augen des Freundes.
„Sherlock", sagte er mild. „Wir SIND ein Team. Und ich bin ein Teil dieses Teams. Deshalb lass mich diesen Fall übernehmen."
Sie schauten sich an. Sherlock haderte. Er stiess die Luft aus, ging ein paar hektische Schritte hin und her, drehte sich um die eigene Achse. Dann blieb er direkt vor John stehen.
„Ich will nicht, dass du alleine dorthin gehst", sagte er.
„Es geht diesmal nicht anders, Sherlock. Ich werde Undercover unterwegs sein. Ich werde für diesen Auftrag alle Verbindungen nach London kappen müssen."
Sherlock schnaufte.
„Genau das", sagte er aufgebracht, „genau das ist der Punkt!"
„Ist es so schwierig, mir zu vertrauen?" fragte John. „Mich für zwei Monate aus den Augen zu lassen?"
Sherlocks durchdringender Blick. Für lange Momente. Dann verspiegelten sich seine Augen unvermittelt. Sein Mund war ein schmaler Strich.
„Du willst den Fall unbedingt", stellte er fest. „Auch ohne mich."
„Nein. Nicht ohne dich, Sherlock. Aber unabhängig von dir."
"Und, habt ihr euch entschieden?" fragte Lestrade aus seinem Office heraus.
John und Sherlock schauten sich an. Dann ging Sherlock ohne ein Wort ins Büro des Inspectors zurück, steif, die Hände auf dem Rücken, gefolgt von John. Er setzte sich wieder auf den Stuhl. John liess sich daneben nieder.
„Das heisst dann wohl ja, oder?" fragte Lestrade und schaute von einem zum anderen.
„Ich gehe nach Bury", sagte John. „Und ich wäre dankbar für mehr Information."
Lestrade strahlte.
„Danke, John!" sagte er, erleichtert und voller Freude. „Dann stelle ich Ihnen jetzt Phil Salisbury vor, wenn es Ihnen recht ist. Phil ist Chirurg am St Annas Hospital und arbeitet mit uns zusammen. Sie, John, werden bei ihm im Krankenhaus arbeiten und er wird Sie in den Klub einführen. Er kann Ihnen alle nötigen Informationen geben."
Lestrades Blick ging zu Sherlock, der stumm und mürrisch auf seinem Stuhl sass und keinerlei Anstalten machte, auf das Angebot zu reagieren. Lestrade schaute zu John, der seufzend nickte. Erleichtertes Lächeln. Lestrade winkte ins andere Büro hinüber.
Nach wenigen Sekunden ging die Türe auf und ein Beamter brachte Phil Salisbury in den Raum. John stand spontan auf, beeindruckt. Auch Sherlock erhob sich, resigniert vielleicht, vielleicht überrascht. Phil Salisbury war ein Mann, der sofort alle Blicke auf sich zog. Eine schlanke, hochgewachsene Gestalt, graues Haar, ebenmässig schönes Gesicht. Er war älter als erwartet, mochte gegen 60 gehen. Er war schlicht aber geschmackvoll gekleidet, Jeans, weisses Hemd, Sakko. Er ging auf die Männer zu, ungekünsteltes offenes Lächeln, natürliche Anmut in jeder seiner Bewegungen. Er strahlte Gelassenheit und Präsenz aus. Stille. Ungeteilte Aufmerksamkeit. Er musterte John und Sherlock freundlich. Lestrade stellte zuerst Sherlock vor, dann John.
„Dr. John Watson. John ist Arzt", sagte Lestrade „er wird für uns ermitteln."
Phil gab John die Hand. Fester kühler Händedruck.
„Ich freue mich, mit Ihnen zusammen zu arbeiten", sagte er höflich.
Warme, sonore Stimme. Ein Lächeln aus klaren Augen von auffällig hellem Rehbraun, fast Gelb, wild gemischt mit grünen und braunen Sprenkeln. Ein Streumuster. Dahinter tiefe Ruhe. Phil war in jeder Hinsicht ein schöner Mann.
„Phil kann Ihnen detailliert Auskunft geben über das St Annas und den Klub", sagte Lestrade, nachdem sie sich wieder hingesetzt hatten.
Im ersten Moment sagte niemand etwas. Phils Blick ruhte ein paar Sekunden wohlwollend auf John. Dann schaute er lächelnd weg, als er Sherlocks Reaktion wahrnahm.
„Ich denke, ich werde mich zuerst vorstellen, damit Sie wissen, auf wen Sie sich einlassen", sagte er.
Sein Lächeln erzeugte ein Bouquet von Fältchen in seinen Augenwinkeln.
Phil war Chefarzt und Leiter der Neurochirurgie im St Annas. Kleine Abteilung, nur zwanzig Leute, drei davon Chirurgen. Er operierte selber. Häufig. Seine Leidenschaft. John hatte die Möglichkeit, bei ihm zu arbeiten als Assistenz. Oder als etwas anderes. Das hing davon ab, was John konnte und wollte. Das war noch zu besprechen. Phil war flexibel und richtete sich ein. Das Krankenhaus war klein aber top. Gutes Arbeitsklima, hervorragende Leitung. Die Crew hing eng zusammen. Die meisten trafen sich regelmässig im Klub. Der Klub war darauf ausgerichtet, Wissen auszutauschen, Freizeit mit Freunden zu geniessen und ein interdisziplinäres Netzwerk zu pflegen.
„Darf ich Sie fragen, welches Interesse Sie daran haben, mit der Polizei zusammen zu arbeiten", fragte Sherlock.
Es war eine für ihn ausgesprochen respektvoll formulierte Frage, die John innerlich grinsen liess. Auch Sherlock war beeindruckt von diesem Mann, ungeachtet dessen, dass er bereits wieder betont lässig auf seinem Stuhl sass und sich ungerührt cool gab.
„Mein Lebenspartner war eines der Mordopfer", sagte Phil einfach.
Es klang sachlich. Er schaute in Sherlocks Augen, hielt dem prüfenden Blick stand.
„Gibt es Hinweise, dass die Morde etwas mit der sexuellen Ausrichtung der Opfer zu tun haben?" fragte Sherlock, richtete die Frage allerdings an Lestrade.
„Es gibt Vermutungen", antwortete Lestrade. „Von den beiden anderen ermordeten Männern lebte einer mit einer Frau, der andere war Junggeselle. Beide hatten keine definierten Beziehungen zu Männern – zumindest nicht offiziell. Da sie allerdings intensiv im Klub verkehrten, ist anzunehmen, dass sie zumindest Interesse an Männern hatten, wie immer geartet dieses Interesse auch gewesen sein mag."
Aha. Sherlocks Blick streifte Johns.
„Können Sie uns hinsichtlich dieser letzten Aussage genauer über den Klub aufklären?" fragte Sherlock.
Diesmal ging seine Frage an Phil.
„Selbstverständlich. ‚Luzifers Gärten' ist ausschliesslich für akademisch gebildete Männer zugänglich und Freundschaft – in jedem Sinne, auch im romantischen – ist ein zentrales Thema. Der Klub ist explizit offen gegenüber jeder Art und Form von Beziehung zwischen Männern, lässt sie zu und fördert sie. Es geht um Männer-Kultur. Um die Wahrnehmung männlicher Grundwerte und männlicher Identität. Sie finden in diesem Klub jede Art von Männer-Beziehungen, von erbitterten Konkurrenzkämpfen über fachlich definierte Freundschaft, sexuelle Affären bis hin zu platonischer Liebe und seelischer Lebenspartnerschaft."
„Wie romantisch", spottete Sherlock.
John warf ihm einen bitterbösen Blick zu. Phil lächelte. Dann schaute er zu John, noch immer lächelnd, ganze Aufmerksamkeit, ruhig.
„Ich denke, das dürfte kein Problem für Sie sein, John. Es geht im Klub nicht um die sexuelle Ausrichtung. Es geht um Beziehung. Jeder akademisch gebildete Mann ist willkommen. Es gibt keine Auswahlkriterien ausser Offenheit und Toleranz."
„Ja", sagte John einfach.
Er nahm den Blick aus den verblüffend klaren und stillen Augen und starrte für ein paar Sekunden vor sich auf den Boden um sich dessen bewusst zu werden, was auf ihn zukam. Dann richtete er sich auf. Er schaute zuerst in Sherlocks Augen, sah das Irrlicht der Unsicherheit und der Angst darin. Aber überraschenderweise, überraschenderweise fühlte er sich sicher. Sicher und ruhig. Er schaute zu Phil und sagte:
„Das ist ok. Ich komme damit klar".
