Sie hatten sich das letzte Mal auf dem Schlachtfeld gesehen, inmitten eines Orkans aus Flüchen, schrillen Schreien und herumfliegenden Körpern; oder Teilen davon. Nur einen winzigen Moment, nicht länger als die Dauer eines Herzschlags, hatten sie sich in die Augen geblickt, den unbändigen Zorn wie lodernde Flammen aufblitzen sehen, das Verlangen niedergekämpft, ihrem derzeitigen Gegner den Rücken zu kehren und durch die verbissenen Duelle hindurch aufeinander zu zustürmen, um sich gegenseitig zu zerreißen, zu zerschmettern, zu töten. Ein winziger Augenblick, so lächerlich klein im Vergleich zur Dauer des schrecklichen Krieges, und doch so einnehmend. All die Menschen, die zu ihren Füßen in einer Lache aus eigenem und fremdem Blut lagen, die verstümmelten Körper, deren verbranntes Fleisch in Fetzen von ihren Knochen hing, der Gestank nach Verderben und Tod, nicht einmal die leblosen Hüllen ihrer Freunde, welche aus starren, trüben Augen in die sternenklare Nacht hinauf blickten, hatten den selben Effekt erzielen können - schlaflose Nächte, die von einem einzigen Augenpaar bestimmt wurden, von einer einzigen Person, als hätte es all die kämpfenden, sterbenden Menschen nie gegeben.

In jeder Nacht, die dem Ende des Krieges seither gefolgt war, wälzten sich diese beiden jungen Männer unruhig umher, in der Dunkelheit verfolgt von einer Idee, einer Vorstellung, dem Schatten eines Plans, der vielleicht nie zu einer Durchführung bestimmt gewesen war. Und doch waren sie besessen davon, den jeweils anderen bluten zu sehen, für das was er getan und nicht getan hatte. Der Gedanke an Rache hatte von ihnen Besitz ergriffen, schon lange bevor der Krieg überhaupt begonnen hatte und mit jedem Tag der verging, vergiftete er ihre Körper ein wenig mehr, bis nichts mehr von ihnen übrig geblieben war als blanker, unverfälschter Hass in einem Leben, das nur noch auf eines ausgerichtet war: Den Tag ihres erneuten Zusammentreffens, an dem einer von ihnen würde sterben müssen.


Harry hatte Hogwarts verlassen, noch am selben Tag, an dem Dumbledore beerdigt worden war. Wie sein Mentor es ihm vor seinem Tode geraten hatte, war Harry zu den Dursleys zurückgekehrt, um dort die letzten Tage abzusitzen, die noch zwischen ihm und seiner Volljährigkeit standen. Triste, langsam dahin schleichende Tage, die Harry alles an Geduld abverlangten. Noch eine Woche, dann würde er endlich siebzehn sein und mittels Magie von hier verschwinden können, weg von den Dursleys, die ihn mit Ignoranz für etwas straften, das er nicht getan hatte. Eine Woche – eine Nichtigkeit, gegenüber all den Jahren der Pein, die Harry in diesem Haus hatte ertragen müssen und dennoch hatte er sich nie schlechter gefühlt, als in den letzten drei Wochen. Definitiv war sein Zimmer komfortabler als der Schrank unter der Treppe, den er so lange seine Schlafstätte hatte nennen müssen, jedoch hatte er sich damals vergleichsweise frei bewegen können. All die Arbeiten, die Tante Petunia ihm auferlegt hatte, um ihn zu knechten, ihn leiden zu sehen, hatten für Harry ihre eigene, merkwürdig befriedigende Bedeutung gehabt. Er hatte sich nicht gelangweilt und war einer mehr oder minder sinnvollen Beschäftigung nachgegangen. Der kleine Spielplatz, dessen Schaukeln bei jedem Windstoß haarsträubend ächzten, war in gewisser Hinsicht ein Rückzugsort gewesen. Ein Ort an dem er allein war und die Geräusche der nahe gelegenen Straße, den Duft der von Abgasen durchzogenen Luft genießen konnte, wenn Dudley und seine Meute ihn nicht entdeckten, jagten und niederschlugen. Doch selbst das wäre Harry in diesem Moment lieber gewesen, als das stille vor-sich-hin Vegetieren in diesem Gefängnis - sozusagen in Ketten, die Dumbledore ihm wissentlich angelegt hatte - das ignoriert Werden und die verstohlenen, verachtenden Blicke seiner einzigen noch lebenden Verwandten, weil er es wagte, sich in einem Raum mit ihnen zu befinden, zu atmen, zu leben.

Harry wusste, dass es seinen Freunden verboten worden war, ihm Briefe zu schicken, dennoch fühlte er sich von ihnen im Stich gelassen. Wie damals, bevor man ihn zum Grimmauldplatz gebracht hatte.

'Diesmal wird dich niemand abholen kommen', hörte er sich selbst in Gedanken sprechen. Es klang geflüstert, obgleich es in seinem Kopf nachhallte, als hätte man ihn angeschrieen. Und so befremdlich, als hätte er seinen eigenen Namen in die Dunkelheit gesprochen. 'Diesmal bist du auf dich allein gestellt.' Mit zusammengekniffenen Augen rutschte Harry auf dem Bett sitzend nach hinten, bis sein nackter Rücken die kahle Wand hinter ihm berührte. Er sog scharf die Luft ein, als die steinerne Kälte auf seine warme Haut traf, doch er bewegte sich nicht fort, sondern presste sich noch stärker gegen die unnachgiebige Mauer. 'Diesmal wird niemand da sein, um dich zu retten.' Er zog die Beine an den Körper heran und umschlang sie mit den Armen, während sein Kopf kraftlos auf seine Knie sank. 'Diesmal nicht!'

"Das weiß ich", antwortete Harry sich selbst und versuchte, den vertrauten Kloß hinunter zu schlucken, der im Begriff war, sich in seiner Kehle festzusetzen und ihm die Luft abzuschnüren, so wie er es in den letzten Wochen ständig getan hatte. Immer dann, wenn Harrys trübe Gedanken an Form gewannen und sich in ein funkelndes Zwinkern aus himmelblauen Augen verwandelten, in einen langen, weißen Bart, der gerade so viel vom Mund offenbarte, dass man das wohlwollende, gütige Lächeln erkennen konnte und in eine dunkle, sanfte Stimme, welche ihn glauben ließ, dass er alles schaffen konnte; dass er ES schaffen konnte.

'Er ist tot', redete er in Gedanken auf sich selbst ein. 'Er wird nicht zurückkommen, finde dich damit ab.' Harry schüttelte den Kopf, als wolle er sich selbst widersprechen. 'Er ist tot', dachte er erneut, als der Kloß, den er nicht hatte bezwingen können, in zu ersticken drohte. "Tot", sagte er laut, während seine Augen anfingen zu brennen und Tränen aus den Winkeln seiner Augen traten. Schnell wischte er sich mit dem Handrücken über da Gesicht und zwang sich in eine aufrechte Position. Tief durchatmend fokussierte er seinen Blick auf das offene Fenster, durch das Hedwig vor einigen Stunden verschwunden war, und durch das die merkwürdig abgestanden riechende Luft, aufgeheizt durch die viel zu warmen Tage, in sein dunkles Zimmer drang. Lediglich die orangefarbenen Straßenlaternen, die Harry immer an Gefängnis erinnert hatten, spendeten ein wenig Licht. Der Mond war längst hinter dem Haus verschwunden. Nicht mehr lange, dann würde die Sonne aufgehen.

Müde richtete Harry sich auf und schlich auf das Fenster zu, um sich mit verschränkten Armen am Sims anzulehnen und in die Nacht hinaus zu spähen. Der vertraute Anblick beruhigte Harry; leere Straßen, ausgetrocknete, gelbliche Vorgärten und dunkle Fenster, die das Licht der Straßenlaternen kaum reflektierten und wie blind wirkten. Es war friedlich, wenngleich er wusste, dass diese Erscheinung nur ein Trugbild war, wie alles hier nur aus Trugbildern zu bestehen schien. Vorgetäuschte Freundlichkeit den verhassten, beneideten Nachbarn gegenüber, das ewige Vorgaukeln einer heilen Familie, während man nachts das hysterische, weinerliche Geschrei vernahm, wenn der vermeintlich fürsorgliche Ehemann seine Frau schlug, während er sie wütend anbrüllte und die Kinder aus Angst und Sorge um ihre Mutter weinten, die teuren Autos in der Einfahrt, die mühsam zusammengespart worden waren, um seinen erträumten, jedoch nicht existierenden Status zu symbolisieren. Nur Täuschungen, die keinen Wert hatten.

Der Krieg würde kommen, auf leisen Sohlen unaufhaltsam näher rückend und mit jeder verschwendeten Sekunde in diesem Haus sah Harry seine Chancen schwinden, in der drohenden Schlacht bestehen zu können.


Schmutziges Wasser lief in schmalen Rinnsalen die grobe, moosbewachsene Wand hinunter und bildete kleine, grünlich schimmernde Pfützen auf dem steinernen Boden. Es war ungenießbar, doch es gab keine Alternative, wenn man nicht vor Durst vergehen wollte. Draco war dankbar für jeden Wolkenbruch, der ihm ein paar Schlucke des bitter schmeckenden Wassers aus hohlen Händen gewährte und ihn davon verschonte, wie ein Hund auf allen vieren umherkriechen zu müssen, um ein wenig Flüssigkeit von Boden oder Wand zu lecken. Der Gestank, der dem kleinen Raum anhaftete, war fast unerträglich - ein Gemisch aus Moorlandschaft und überfüllten Müllcontainern in einem schäbigen Hinterhof – und hatte sich sofort in Dracos Kleidern und seinem Haar festgesetzt. Mit jeder Sekunde wurde der Gestank penetranter, bildete Draco sich ein und versuchte, sich auf seinen eigenen Körpergeruch zu konzentrieren, den er niemals zuvor so deutlich wahrgenommen hatte. Der Schweiß, der immer wieder seine Haut benetzte, wenn tagsüber die Sonne schien und das alte Gemäuer aufheizte, trocknete kribbelnd, wenn die Nacht hereinbrach und das Verlies binnen weniger Minuten so stark abkühlte, dass Draco sich auf der kleinen Pritsche zusammenrollen musste, um nicht zu erfrieren. Für ihn war das im fensterlosen Kerker der einzige Unterschied zwischen Tag und Nacht.

Die immerwährenden Fackeln auf dem Gang warfen zuckende, verzerrte Schatten durch das kleine Gitterfenster, das in die hölzerne Tür eingelassen war. Manchmal verdunkelte sich der kleine Raum vollkommen, wenn eine gesichtslose Gestalt hineinspähte, ihm eine Krume Brot vor die Füße warf oder ihn mit hämischen Kommentaren traktierte, die er kaum mehr wahrnahm. Alles woran er in diesen Momenten denken konnte, waren die Schmerzen, die vielleicht erneut auf ihn zukommen würden, sollte ein gemurmeltes "Alohomora" die Tür öffnen und Draco als in Schmutz und Feuchtigkeit kauerndes Opfer preisgeben. Wehrlos musste er die Folter über sich ergehen lassen, bis es seinen Peinigern - Draco mutmaßte, dass es drei sein mussten - zu langweilig geworden war, ihn mit einem stupiden Cruciatus dazu zu bringen, die Knie krampfhaft an den Körper heran zu ziehen und Schmerzensschreie auszustoßen, die in vielen kleinen Echos an den Kerkerwänden abprallten und durch das gesamte Verlies zogen; wahrscheinlich als mahnende Vorbereitung für die anderen Gefangenen, deren Schreie und Gewimmer ihn nachts nicht schlafen ließen. Einer der 'Wärter', wie Draco sie insgeheim nannte, schien sich eine Art morbiden Sport daraus gemacht zu haben, ihn auf möglichst kreative Weise zu misshandeln. Seine rauchige, leise Stimme hallte oft noch Stunden später in Dracos Ohren wieder.

"Mal sehen, was ich heute für dich habe, Junior." Draco verschloss die Augen vor der in Schatten getauchten Gestalt vor ihm, die ihn immer an seinen Vater erinnerte, wenn er Draco mit in den Keller genommen hatte, um ihm zu demonstrieren, wie man möglichst effektiv und schmerzhaft einen Muggel foltert. Diesmal jedoch war er nicht nur der stumme Zuschauer in Form eines neun Jahre alten Kindes, diesmal war er derjenige, der die Folter würde erleiden müssen. Wieder und wieder. "Streck die Arme aus, Junior", befahl der Mann sanft. Draco tat es widerstandslos und ohne die Augen zu öffnen. Dicke Seile legten sich um seine Handgelenke und schnitten ihm schmerzhaft in die Haut.

Eine junge Frau mit dunklem Haar kniete an Händen und Füßen gefesselt vor seinem Vater auf dem schmutzigen, kalten Boden und flehte in gewimmerten Worten, man möge sie verschonen.

Mit einem schmerzhaften Ruck wurde Draco an den Handgelenken nach oben gerissen, sodass seine nackten Füße jeden Halt verloren und nutzlos in der Luft umherbaumelten. Ein schmerzliches Aufkeuchen unterdrückend, presste Draco die Zähne aufeinander, während sein Haar wie ein klebriger, strähniger Vorhang in sein Gesicht hing und die tiefen Falten auf seiner Stirn verbarg.

"Sieh mich an, Junior!"

"Sieh mich an", flüsterte sein Vater und legte seinen Zauberstab unter das Kinn der jungen Frau, um sie dazu zu zwingen, ihren Kopf zu heben. "Ich will, dass du mich ansiehst, wenn ich dir wehtue." Mit weit aufgerissenen Augen schüttelte sie den Kopf, während die letzten von Make-up geschwärzten Tränen an ihrer Wange hinunterliefen und eine Spur hinterließen, die Draco an ein zerstörtes Spinnenetz erinnerten. Es war das letzte, das Draco sah, bevor er die Lider schloss und die schrillen Schreie wie tausend kleine Nadelstiche in sein Bewusstsein drangen.

"Sieh mich an, habe ich gesagt!" Zögerlich hob Draco den Kopf und öffnete die Augen. Die schattige Gestalt kam näher. Von zuckenden Flammen beleuchtet, konnte Draco nur große, boshafte Augen und ein verzerrtes Grinsen erkennen, das weiße, gerade Zähne offenbarte. "So ist gut, Junior", flüsterte der Mann und legte den Kopf schief, um Draco zu betrachten. "Deine Nase sieht besser aus." Er ließ seinen Blick über die Brust gleiten, welche sich unter hektischem atmen schnell hob und senkte. Erneut grinste er, trat noch einen Schritt näher und riss Draco mit einer ruckartigen Bewegung das Hemd vom Leib, sodass die wenigen, noch übrig gebliebenen Knöpfe absprangen und klickend auf den steinernen Boden fielen. Erschrocken keuchte Draco auf und biss sich auf die bebende Unterlippe. "Haut, so makellos wie frisch gefallener Schnee." Fast zärtlich glitt eine Hand über Dracos Brustkorb und die spitzen, deutlich hervortretenden Knochen, bis hinunter zu seinem Bauch, den er unwillkürlich einzog, als wolle er sich noch dünner machen, als er Ohnehin schon war. "Angst, Junior?", fragte die Gestalt mit hörbarer Belustigung. "Angst, um deine Schönheit?" Draco schüttelte den Kopf, ohne zu wissen, wieso er das tat und was der Mann mit ihm vorhatte. Er wollte sich nur um jeden Preis stark zeigen. So stark, wie es in einer solchen Position eben möglich war. "Nein?", vergewisserte der Wärter sich und trat noch einen Schritt näher an Draco heran, sodass ihre Nasenspitzen nur noch einige Zentimeter von einander entfernt waren. "Keine Angst, unser Junior", lachte die Gestalt und legte eine Hand an jene Stelle von Dracos Brust, hinter der sein Herz wie wild raste. "Dann wird deine Strafe dieses Mal nicht sehr hart ausfallen."

Draco schrie. Er schrie all den Schmerz und das Leid heraus, als sengende Hitze seine Haut verbrannte.


Das Haus lag in völliger Stille. Lediglich Onkel Vernons sägende Schnarchgeräusche hallten dumpf durch den schmalen Flur, in den Harry mit zusammengekniffenen Augen spähte. Er lehnte sich aus seinem Zimmer, eine Hand am runden Türknauf, während er mit der anderen den hölzernen, weißen Rahmen umklammert hielt. Bald würden seine Verwandten aufwachen und den Tag beginnen, so wie jeden anderen Tag auch; ein ausgedehntes Frühstück und der Fernseher im Hintergrund, aus dem ein untersetzter Mann mit Schnurrbart die ersten Nachrichten des Tages verkündete. Dudley würde sich, wie jeden Morgen, darüber beschweren, dass das Programm langweilig sei und Onkel Vernon würde den Launen seines Sohnes, wie jeden Morgen, nachgeben und Tante Petunia anherrschen, den Kanal zu wechseln. Doch heute würde es ihnen versagt bleiben, Harry mit verächtlichen Blicken zu taxieren, wenn dieser, dazu gezwungen mit ihnen an einem Tisch zu sitzen, sein Brot hinunterschlang, um möglichst schnell wieder auf sein Zimmer verschwinden zu können. Diesmal würde er nicht hier sein, um mit anhören zu müssen, wie seine Verwandten über ihn sprachen, als befände er sich nicht im selben Raum. "Wir hätten dir längst einen neuen Computer gekauft, Dudders, hätten wir nicht diesen sonderbaren kleinen Bastard in unserem Haus, der sich hier breit macht, als wäre er erwünscht."

'Heute nicht und nie wieder', dachte Harry und schlich sich mit einer ausgefransten Stofftasche auf dem Rücken, die mit all seinen Habseligkeiten bepackt war in den Flur hinaus. Er verharrte kurz am Treppengeländer und genoss den Augenblick, in dem er sich frei bewegen konnte und seine schlafenden Verwandten nichts davon mitbekamen. Harry wusste, dass es nur die Ruhe vor dem Sturm war und er sich etwas einfallen lassen musste, sollte er das Haus erst einmal verlassen haben. Er war sich bewusst, dass man ihn beobachtete. Der Orden musste schließlich dafür sorgen, dass ihre wichtigste Waffe in diesem Krieg unbeschadet blieb. Zumindest so lange, bis Voldemort endlich vernichtet war. Ein unterdrücktes Schnauben begleitete Harrys Schritt die erste Stufe hinunter, wobei er sich mit dem Rücken an die Wand drückte, weil die alten Stufen die dumme Angewohnheit hatten, zu laut zu knarren.

'Es ist besser so', redete er sich immer wieder ein, seit er den Entschluss gefasst hatte, von hier zu verschwinden. Sich allein auf die Suche nach den Horkruxen zu begeben.

'Es ist besser so.' Er würde seine Freunde nicht in unnötige Gefahr bringen und in eine mögliche Schlacht hineinziehen, für die sie nichts konnten und mit der sie nichts zu tun hatten. Und er würde nicht das Werkzeug des Ordens spielen, der mit aller Kraft versuchte, ihm neue Informationen vorzuenthalten, um ihn dann im richtigen Moment auf das Schlachtfeld zu schicken, damit er seine 'Bestimmung' erfüllten konnte.

Die letzten beiden Stufen übersprang Harry lautlos.

Das orangefarbene Licht der Straßenlaternen warf durch das kleine Fenster der Eingangstür einen schmalen Streifen auf den grau gefliesten Fußboden. Verzerrte Schatten lagen auf der mit Familienfotos behängten Wand. Harry war natürlich auf keinem der Bilder zu sehen. Es war still, dunkel und auf eine seltsame Art und Weise unheimlich. Es war nicht wie die Angst, die er wegen Voldemort und seiner Todesser verspürte, nicht wie der prickelnde Adrenalinstoß, der immer dann in ihm aufgewallt war, wenn er sich nachts aus dem Gryffindorturm geschlichen hatte und nicht wie das Ziehen in seinem Bauch, wenn er wusste, dass etwas nicht stimmte. Es war vielmehr so, wie ein Dieb sich fühlen musste, wenn er seinem ersten Raubzug entgegen sah. Die Furcht erwischt zu werden, das Verlangen es durchzuziehen und das geduckte Umherschleichen, das dieses hartnäckige Schuldgefühl in der Magengegend optisch zu untermalen schien. Mit dem ersten Schritt hinaus würde er seine Freunde verraten, die ihm die Treue geschworen hatten und ihn um jeden Preis begleiten wollten; ob nun aus Sorge oder weil sie etwas von dem Ruhm erhaschen wollten, der Harry zukommen würde, sollte es ihm gelingen, Voldemort zu besiegen.

"Du wirst es schaffen", "Wir glauben fest an dich", war unter vielen Umarmungen und festen Klopfern auf die Schultern an seine Ohren gedrungen; Aufmunterungen, Vertrauensbekundungen und Glückwünsche, als wäre all das, was auf ihn zu kam, eine Ehre für ihn, als hätte er es sich das alles selbst ausgesucht. Die Wahrheit aber war, dass er nie geglaubt hatte, es schaffen zu können und nun, da Dumbledore tot war und der letzte seiner großen Beschützer nicht mehr hier war, um über ihn zu wachen, hatte er mehr denn je das Gefühl, einer unüberwindbaren Aufgabe entgegentreten zu müssen; in ein diffuses Machwerk mehrerer Menschen mit miserablem Humor hineingestoßen worden zu sein, die allesamt nichts anderes wollten, als ihm von oben herab dabei zu zusehen, wie er in Slapstickmanier durch die große weite Welt taumelte, auf der Suche nach den Horkruxen, die so endlos weit weg zu sein schienen. Er hatte ja noch nicht einmal den Hauch einer Ahnung, wo er anfangen sollte zu suchen.

Vor der Hintertür in der Küche hielt er noch einmal inne und spähte durch das mit rosa Vorhängen dekorierte Fenster. Der Garten lag in schummrigem Licht da und nicht der kleinste Windstoß fuhr durch das Geäst des großen Apfelbaumes, um die Blätter zum erzittern zu bringen. Ein negatives Gefühl machte sich in Harry breit, ganz so, als wüsste er bereits, was auf ihn zukommen würde, hätte er es erst einmal gewagt, die Tür zu öffnen. In Wirklichkeit aber lag seine Vorstellung von dem, was nach dem Öffnen der Tür geschehen würde, in völliger Dunkelheit. Vielleicht würde sich der Orden auf ihn stürzen, ihn zurück in das Haus befördern oder auf direktem Wege zu den Weasleys bringen. Harry wusste, dass sie ihm nichts zutrauten. Oder er würde direkt in die Arme einer Horde Todesser laufen, die nur darauf warteten, ihn endlich ihrem Meister vor die Füße zu werfen - buchstäblich. So oder so waren die Aussichten beschissen und in Harry keimte der Verdacht auf, dass er wohl ziemlich dämlich war, sich so auszuliefern. Doch das würde ihn nicht davon abhalten, durch diese Tür zu treten und wenigstens den Versuch zu wagen, von hier zu verschwinden, um endlich zu demonstrieren, dass er es allein schaffen konnte selbst dann, wenn er bei dem Versucht sterben musste.

Wahrscheinlich war das der Grund, weswegen er darauf verzichtet hatte, die einzigen Hinweise auf die Horkruxe, die Dumbledore ihm hinterlassen hatte, in seinen Rucksack zu packen. Mit vor Nervosität feuchten Händen fasste er nach dem runden Türknauf und drehte ihn herum. Quietschend schwang die Tür zur Seite, während Harry erschrocken aufkeuchte, überrascht von der unerwartet kalten Nachtluft, die ihm plötzlich entgegen schlug. Die Augen zu winzigen Schlitzen verengt starrte er in die Stille hinaus, bereit, seinen Zauberstab zu ziehen, sollte sich auch nur ein Zweiglein der großen Hecken verräterisch krümmen. Doch nichts geschah. Nichts.

Irritiert trat Harry auf die ausgetrocknete Rasenfläche hinaus, zog seinen Zauberstab und schloss die Tür hinter sich. Und noch immer regte sich nichts um ihn herum. Etwas enttäuscht ließ Harry die Schultern fallen und ging einige Schritte auf den Apfelbaum und die darunter liegende Bank zu. Er drehte sich einmal im Kreis, inspizierte seine Umgebung, fuchtelte mit seinem Zauberstab herum, trat auf einen heruntergefallenen Zweig, der knackend zerbrach und wartete erneut auf irgendeine Reaktion, egal von wem. Nichts.

Resigniert streckte er den Zauberstab zurück in seine Hosentasche und disapparierte.


Die Luft schien zu stehen, irgendwo ein paar Zentimeter oberhalb Dracos schmutzigem Haarschopf. Bei jedem zitternden Atemzug, den er schmerzerfüllt auf dem feuchten Boden kauernd tat, spürte er, wie die abgestandene Luft von oben herab durch seine verstopfte Nase angesogen, zu ihm hinunterströmte, dort wo es kalt und nass war. Er hustete immer wieder keuchend, spuckte Galle, würgte und hielt sich unter enormer Anstrengung davon ab, den wenigen Mageninhalt, von dem er sich sicher war, dass er ihm am Leben erhielt, auf den steinernen Boden zu spucken. Mit dem nassen Ärmel seines Pullovers wischte er sich über die trockenen Lippen und verzog das Gesicht. Seine Mundwinkel waren aufgerissen und hin und wieder schmeckte Draco Blut, welches sich immer wieder unter seiner Zunge ansammelte. Zwischen all den Schmerzensschreien musste die empfindliche Haut eingerissen sein, womöglich sogar, als der in Schatten getauchte Mann an seinen Haaren gerissen hatte, sodass er den Kopf in den Nacken hatte pressen müssen. Draco fragte sich, wie um alles in der Welt er seinen Verstand noch nicht verloren hatte und schluckte das viele Blut in seinem Mund angewidert herunter. Es fühlte sich warm in seiner Kehle an und wenn Draco sich darauf konzentrierte, spürte er sogar, wie es sich den Weg, irgendwo hinter seinen Rippen in den Magen bahnte.

"Hey, Kleiner. Dein Essen", ertönte eine schnarrende Stimme. Draco hatte keine Kraft sich zu rühren, deshalb blieb er einfach flach auf dem Boden liegen, den Kopf auf seine Arme gelegt. "Kleiner! Hey!", rief die Gestalt vor dem vergitterten Fenster nun lauter und klopfte einige Male dumpf gegen das massive Türblatt. "Bist du wach? Was ist los?" Noch einmal klopfte er, dann war es still. Draco grinste in sich hinein, wie ein trotziges Kind, das sich vor seinen beunruhigten Eltern versteckte. Es war eine merkwürdig grimmige Genugtuung, auch wenn er sich darüber bewusst war, dass er im nächsten Moment für diese Dreistigkeit gefoltert werden könnte.

Ein leises Klicken ließ Draco zusammenfahren. Anscheinend hatte die Gestalt beschlossen, sich den augenscheinlich bewusstlosen Draco genauer anzusehen. Unter unverständlichem Gegrummel schob er die Tür auf und trat in die Zelle. "Hey!", rief er Draco zu, der sich noch immer nicht bewegte, nicht, weil er sein kleines Spielchen an die gefährliche Spitze treiben wollte; ihm war eine Idee gekommen, so simpel, dass er sich vor sich selbst dafür schämte, sie nicht schon früher gehabt zu haben. Ein Fuß trat gegen seine Rippen und erneut schmeckte Draco Blut, als er sich in die ohnehin schon rissige Lippe biss, um einen schmerzliches Aufkeuchen zu unterdrücken. "Verdammt, diesmal ist er zu weit gegangen", hörte er die Gestalt sagen und im nächsten Moment entfernten sich die stapfenden Schritte und polterten eine Treppe hinauf. Draco verharrte noch eine Weile in seiner Position und richtete sich dann langsam auf. Die Tür stand offen und zum ersten Mal seit Jahren, so kam es ihm vor, konnte er einen Hauch frischer Luft riechen. Auf wackligen Beinen trat er in den steinernen Flur hinaus. Die Fackeln blendeten und hinterließen gelbe Flecken, die vor seinen Augen umhertanzten. Mit einer Hand an die grobe Mauer gestützt stolperte er vor sich hin, weg von dem steinernen Aufgang und dem Luftzug entgegen, als ziehe er ihn magisch an. Zu seiner Rechten waren dutzende von Türen mit kleinen, vergitterten Fenstern jene, hinter welcher Draco die letzten Tage, Monate, Jahre - er wusste es nicht zu sagen - verbracht hatte. Hin und wieder erhaschte er einen Blick auf schmutzige, blutverschmierte Finger, die sich an die kurzen Gitterstäbe klammerten, hörte leises Wimmern, das nicht selten kindlich klang, Hilferufe, gerichtet an irgendjemanden. Doch Draco lief weiter, dem Luftzug und den gelben Lichtern vor seinen Augen entgegen.

Fast blind rannte er um eine Kurve, schien die aufgeregten Stimmen der Wärter nicht zu hören und stieß schließlich gegen Widerstand. Einen grauenvollen Herzschlag lang glaubte Draco in einer Sackgasse gelandet zu sein, bis er sich einen Schritt entfernte und eine verrottete Holztür erkannte, durch deren Ritzen der sanfte Windstoß drang. Mit zittrigen Fingern griff Draco nach dem morschen Holz und rüttelte daran, erst zaghaft, dann mit fast wahnsinniger Entschlossenheit, bis ein splitterndes Geräusch ihn innehalten ließ. Eine Latte war herausgebrochen und gab die Sicht auf Moos bewachsene Stufen frei. Lediglich der Mond spendete ein wenig Licht und tauchte das steinerne Geländer der Treppe in bläulichen Schimmer. Dracos Herz raste schmerzhaft hinter seiner Brust, als er ein Bein durch den Spalt steckte und betete, dass er dünn genug war, um hindurchschlüpfen zu können. Vorsichtig tastete er mit dem Fuß nach festem Grund und schob sich noch ein Stück weiter hindurch, als nahende Geräusche vieler hastiger Schritte ihn erneut zusammenzucken ließen. Mit zusammengekniffenen Augen stieß sich mit einem Bein vom Boden ab, sodass er durch den Spalt fiel und hart auf dem bemoosten Boden auf der anderen Seite der Holztür landete. Keuchend rappelte er sich auf ohne noch einmal zurück zu sehen, stürzte die rutschigen Stufen hinauf, hörte Schreie und Flüche und lief weiter, immer weiter, ohne einen einzigen Blick zurück, ohne sich zu vergewissern, dass er nicht jede Sekunde von einem tödlichen Fluch getroffen werden, oder schlimmer, zurück in den Kerker gebracht werden könnte, und lief um sein Leben, den Schmerz ignorierend, der seine Muskeln in Brand setzte und seine Lungen zu zerreißen versuchte. Warme Tränen liefen über seine ausgekühlten Wangen, seine Kehle war vollkommen ausgetrocknet, er musste husten, während er immer noch rannte, weg von den wütenden Schreien, die ihn verfolgten, weg von dem Loch, das er so lange sein Zuhause hatte nennen müssen, irgendwo in einen Wald hinein und schließlich, mit unbestimmtem Gedanken, disapparierte er und verschwand ins rettende Nichts.