Slave of the law

von Michelle Mercy

Was wäre geschehen, hätte es 1823 ein Gesetz gegeben, das den Staat gezwungen hätte, Waisenkinder in Obhut zu nehmen? Und der Vertreter des Staates muß sich leider auf einen Sträfling verlassen, da er keine Ahnung hat, wo das Waisenkind ist?

Slash, Javert/Valjean, M-Rated, AU

Fantines Verhaftung fand hier im Herbst 1823 statt…

AN: Was ich ja wirklich gebraucht habe, ist eine Horde Plotbunnies, die mich mit Gewalt zu einer zweiten Les Mis-Serie zwingen (derzeit als Trilogie angelegt) „Another road, another destiny". Danke, Jungs! ;-)

I.

Javert war ein wenig fassungslos, daß die frühere Fabrikarbeiterin, Hure und in seinen Augen auch Straftäterin Fantine durch sein Erscheinen und ein paar harsche Worte einfach aufgehört hatte, sich ans Leben zu klammern, und gestorben war. Für jemanden, der bereits seit vielen Wochen krank gewesen war, kam dieser Tod sicherlich nicht vollkommen überraschend, doch wenn man bedachte, daß diese Frau sich vor nicht allzu langer Zeit prostituiert und sogar einen angesehenen Bürger und Wähler körperlich attackiert hatte, war er zu diesem Zeitpunkt nicht zu erwarten gewesen.

Aber diese tote Frau war auch nicht der Grund, weswegen Javert das kleine Hospital betreten hatte. Er war schließlich hier, um den angeblichen Bürgermeister M. Madeleine, in Wahrheit Jean Valjean, Sträfling 24601, festzunehmen.

Dieser beugte sich über die Leiche der jungen Frau, faltete ihre Hände und flüsterte unverständliches Zeug, was sie schwerlich noch zur Kenntnis nehmen würde.

„Kommst du jetzt freiwillig mit, oder muß ich die beiden Polizisten von draußen hereinrufen?" fragte Javert, nachdem er sich eine Weile angesehen hatte, wie der Mann, der noch vor einigen Stunden sein Vorgesetzter gewesen war, sich bemühte, ein Straßenmädchen aufzubahren.

„Sie haben gehört, was sie gesagt hat." Valjean wandte der toten Frau den Rücken zu. „Sie hat eine Tochter."

„Ich habe von dieser Frau kaum jemals etwas anderes gehört", erwiderte Javert.

„Das Kind, es ist jetzt eine Waise."

„Das passiert, wenn die Mutter stirbt, und es keinen Vater gibt", entgegnete Javert sarkastisch.

„Jemand muß es holen und in Obhut nehmen."

„Ja, aber mit Sicherheit nicht du."

Valjean richtete sich vollends auf und hatte auf einmal jenen Ausdruck im Gesicht, den Javert zu verabscheuen gelernt hatte, nämlich den der falschen Autorität. „Nicht alleine, davon gehe ich aus. Aber gemäß Artikel 6, Absatz 2 des Gesetzes über die Versorgung von Waisenkindern ist ein verwaistes Kind von der Person in Obhut zu nehmen, welches von den Eltern als Vormund benannt worden ist."

Javert öffnete den Mund, um ihn gleich wieder zu schließen. Er liebte die Gesetze, und er kannte sie auswendig. Aber seine Kenntnisse beschränkten sich darauf, wie das Gesetz lautete, nicht, wie man es umgehen konnte. Und nach dem Wortlaut des Gesetzes hatte Valjean recht. Javert entschloß sich, die Frage zu stellen, auch wenn er die Antwort kannte. „Wer ist von ihr als Vormund benannt worden?"

„Ich", antwortete Valjean. „Deswegen habe ich um drei Tage Zeit gebeten, um das Kind zu holen."

Es gab wenig, was Javert mehr haßte, als Menschen, die das Gesetz brachen. Eines davon waren Verbrecher, die das Gesetz für ihre Zwecke mißbrauchten. „Du mußt mich wirklich für einen ausgemachten Idioten halten, wenn du denkst, daß ich darauf eingehe. Du wirst ins Gefängnis gehen, und ich werde dafür sorgen, daß dieses Kind geholt wird, von wo auch immer es ist."

„Ich habe dieser Frau versprochen, für ihre Tochter zu sorgen."

„Das Versprechen eines Diebes, Lügners und Betrügers!"

„Ich werde dieses Versprechen nicht brechen."

Javert verschränkte die Arme vor der Brust. „Und wie gedenkst du das zu tun? Soll das jetzt die Ankündigung eines Fluchtversuches werden? Der wievielte wäre das? Selbst wenn du an mir vorbei kämst, stehen noch immer zwei Wachen vor dem Haus."

„Oh, ich habe nicht vor zu fliehen." Um Valjeans Lippen war der Anflug eines grimmigen Lächelns zu erkennen. „Nur befürchte ich, daß Sie bei Ihrem Plan, das Kind zu holen, bislang eine Kleinigkeit übersehen haben dürften."

Statt einer Antwort gab Javert nur ein verächtliches Schnauben von sich. Er übersah nichts, vor allem keine Kleinigkeiten!

„Im Gegensatz zu mir haben Sie keine Ahnung, wo das Kind sich aufhält." Der leise Triumph in Valjeans Stimme bestätigte Javert, daß all das gütige Bürgermeistergetue nur Fassade gewesen war.

Andererseits ärgerte es Javert maßlos, daß er den völlig nebensächlichen Umstand, daß er schwerlich auf der Suche nach einem Waisenkind ganz Frankreich absuchen konnte, tatsächlich übersehen hatte. Daß ihm Valjean dies unter die Nase rieb, ließ ihn diesen nur noch mehr verabscheuen. „Es wird Mittel und Wege geben, dich dazu zu bewegen, den Aufenthaltsort dieses Kindes preiszugeben."

„Glauben Sie das wirklich?" Wenn möglich wurde Valjeans Lächeln noch grimmiger und entschlossener. „Womit, denken Sie, können Sie mir drohen? Mit meiner Bestrafung? Die folgt sowieso. Ich habe nichts zu verlieren, ich weiß, was mich erwartet. Und gerade Sie werden schwerlich zu ungesetzlichen Mitteln greifen, um mir eine Information zu entreißen."

Javert konnte sich nicht erinnern, jemals einen anderen Menschen so sehr gehaßt zu haben wie diesen Sträfling. Er konnte es anerkennen, wenn ihm eine hochgestellte Persönlichkeit überlegen war, nicht jedoch, wenn er von seinem Straftäter in seiner Autorität in Frage gestellt wurde. Energisch klimperte er mit den Handschellen, die er die ganze Zeit in seiner rechten Hand gehalten hatte. „Hände auf den Rücken. Wenn du Widerstand leisten willst, wird das für dich nur schlimmer werden."

Jetzt wirkte Valjean tatsächlich alarmiert. „Sie verhaften mich? Aber was ist dann mit dem Kind? Es wäre gegen das Gesetz, es zu lassen, wo es ist."

Javert packte Valjeans linken Arm und legte die Handschelle dort um, ohne daß der ältere Mann Anzeichen sehen ließ, sich zu wehren. „Ich kann beides tun, dich verhaften und das Kind holen." Zum ersten Mal fühlte Javert sich überlegen, seit diese Konfrontation begonnen hatte. „Du wirst mich zu dem Kind führen und es mir übergeben."

„Wieso glauben Sie, daß ich das tun würde?" Trotz dieser Frage legte Valjean seine rechte Hand ebenfalls auf den Rücken, damit ihm auch der zweite Ring der Handschelle angelegt werden konnte. Er hatte für einen Moment tatsächlich darüber nachgedacht zu fliehen, doch die schnelle Abwägung seiner Möglichkeiten hatte ergeben, daß, selbst wenn es ihm gelingen sollte, an Javert vorbeizukommen, die beiden Polizisten, die den einzigen Ausgang bewachten, ihn mit Sicherheit aufhalten würden. Und einen Sprung aus dem Fenster hinunter auf die Straße aus mindestens dreieinhalb Metern Höhe zu wagen, wäre in Betracht gekommen, wenn es nur um ihr gegangen wäre, aber was nützte er dem kleinen Mädchen, dessen Vormund er jetzt war, wenn er sich die Knochen brach? Er war viermal aus dem Bagno ausgebrochen, es gab keinen Grund, warum es ihm nach diesen Erfahrungen kein fünftes Mal gelingen sollte, zumal der wachsamste aller Aufseher nicht mehr dort sein würde…

„Weil ich dich lange genug kenne, um zu wissen, daß du mit Sicherheit nicht zulassen wirst, ein Kind einem ungewissem Schicksal zu überlassen, weil es dein Ansehen beschädigen würde." Javert schob Valjean grober, als es notwendig gewesen wäre, in Richtung der Treppe.

„Ich muß zugeben, daß ich seit Wochen jeden Tag darauf gewartet habe, daß Sie kommen, um mich zu holen. Ich hätte das kleine Mädchen vorher holen müssen."

„Das hätte uns allen sicherlich diverse Unanehmlichkeiten erspart", meinte Javert grimmig. „Ich kann mir einen besseren Zeitvertreib vorstellen, als mit dir durch das Land zu ziehen."

Sie verließen das Haus, und Valjean sah sich erneut der Erfahrung gegenüber, in Ketten durch eine Stadt geführt zu werden, nur waren dieses Mal die Blicke der Bewohner nicht gleichgültig, sondern von neugierigem Entsetzen. Noch wußten nur wenige Menschen, warum man den Bürgermeister festgenommen hatte; in wenigen Stunden würde jeder die Wahrheit oder eine Variante davon kennen.

In der Polizeistation, wo vor einigen Monaten der Bürgermeister den Polizeichef gedemütigt hatte, gab letzterer mit großer Genugtuung den Befehl, ersteren in die Zelle zu sperren, und ihn keinen Moment aus den Augen zu lassen. Javert war nicht bereit, sich seinen Triumph durch eine Flucht des Gefangenen zerstören zu lassen.

XXX

Valjean hatte vergebens versucht, in seiner Zelle trotz der Handschellen etwas Schlaf zu finden. Aber wie konnte er an Schlaf denken, nachdem Fantine diesen traurigen Tod gestorben war, wo ein kleines Kind ein ungewisses Schicksal erlebte? Und wie sollte er Schlaf an einem Ort finden, dem er acht Jahre lang geglaubt hatte, entkommen zu sein, auch wenn die Angst davor immer über ihm geschwebt hatte wie das sprichwörtliche Damokles-Schwert?

So war es kein Wunder, daß Valjean alles andere als munter war, als der Polizist, der die ganze Zeit die Tür zur Zelle bewacht hatte, sich hörbar erhob und mit den Schlüsseln klimperte. Ein Blick aus dem Fenster bestätigte Valjean, daß Javert offensichtlich seine Ankündigung tatsächlich in die Tat umzusetzen gedachte. Der Polizist, der die Nacht in klirrender Kälte vor dem Fenster der Zelle hatte Wache halten müssen, hielt nun zwei gesattelte Pferde am Zügel.

Kein Wagen, ein Pferd! Valjeans Verstand begann, trotz der durchwachten Nacht darauf hinzuarbeiten, wie er bei der ersten Gelegenheit entfliehen, das Kind abholen und einen kurzen Abstecher in einen gewissen Wald machen könnte. Er mußte nichts weiter tun als den überaus wachsamen Augen Javerts zu entkommen, und unter diese Augen nicht mehr zu kommen. Natürlich würde Javert ihn verfolgen, aber es würde nicht allzu kompliziert sein, ihn irgendwo in einem dunklen Wald zumindest vorläufig abzuhängen. Wenn er dann erst das Kind und die versteckte Kiste hatte, gab es keine Beschränkungen mehr, wohin eine Flucht führen konnte. Sie würden in Paris untertauchen, oder vielleicht auch das Land verlassen; letzteres war vielleicht vorzuziehen, denn falls Valjean Javerts Jagdeifer richtig einschätzte, würde der eine solche Niederlage mit Sicherheit nicht hinnehmen.

Nur einen Augenblick später drehte sich der Schlüssel im Schloß der Zellentür. Die Tür öffnete sich, Javert stand mit verschränkten Armen neben der Tür und bedeutete Valjean mit einer gereizten Kopfbewegung, die Zelle zu verlassen. Valjean leistete dem stummen Befehl Folge.

Draußen bei den Pferden streckte Valjean seine noch immer auf den Rücken geketteten Hände aus.

„Oh, nein", Javert schüttelte den Kopf, „ich werde dich mit Sicherheit nicht losmachen. Wenn wir dieses Kind holen, dann nach meinen Regeln. Und diese Regeln besagen, daß du die Handschellen anbehalten wirst – Tag und Nacht."

„Dann werden Sie mich füttern müssen, wir werden insgesamt mindestens drei Tage pro Strecke unterwegs sein", erwiderte Valjean trocken. „Und reiten kann ich in dieser Weise auch nicht. Ich werde vermutlich ständig vom Pferd fallen."

Javert gab einen undefinierbaren Laut von sich. Die Vorstellung, einem Sträfling Nahrung löffelweise einzuflößen, war ebensowenig erbaulich wie ihn alle paar Meter vom Boden aufzulesen. Andererseits mußte der Sicherheit der Allgemeinheit Genüge getan werden. Er erwog einen Moment lang, einen weiteren Mann mitzunehmen, entschied sich jedoch dagegen. Die Stadt mußte schon mit dem Verlust ihres Bürgermeisters und Besitzers der größten Fabrik fertigwerden, da wäre es unpassend, wenn er auch noch die Polizeikräfte dezimierte. Schließlich mußte man damit rechnen, daß es vielleicht doch zu Schwierigkeiten kommen würde, wenn die Bevölkerung die Autorität fort wähnte. Nein, er mußte zu einer anderen Lösung kommen. „Mach ihm die Handschelle an einer Seite auf", befahl Javert einem der Polizisten, welcher der Anweisung Folge leistete.

Valjean zog instinktiv beide Arme nach vorne und rieb sich das nunmehr freie Handgelenk.

Ohne ein weiteres Wort zu sagen, griff Javert nach der freien Hand und ließ die Handschelle einrasten – diesmal vor Valjeans Körper. „So, nachdem wir dieses Problem gelöst haben, 24601, steig auf. Ich habe nicht die geringste Lust, den ganzen Tag hier herumzustehen."

Valjean stellte einen Fuß in den Steigbügel und packte mit den zusammengeketteten Händen den Sattelknauf. Es war nicht ganz leicht, auf diese Weise in den Sattel zu kommen, aber schließlich gelang es doch. Valjean fröstelte. Es war immerhin Winter, und er trug lediglich Hemd, Rock und Weste. Sehr unzeremoniell warf ihm jemand seinen Mantel um die Schultern. Er zog den Stoff enger um sich herum. Wenn er ihn über die Arme herabzog, konnte er sogar vielleicht die Handschellen verbergen, bis er sie endlich loswerden konnte.

Im nächsten Moment schränkte Javert mit einer Bewegung die Auswahl an Fluchtplänen ganz erheblich ein. Der Inspektor war in den Sattel seines eigenen Pferdes gestiegen, griff nach den Zügeln von Valjeans Pferd, die er an seinem eigenen Sattel befestigte. „Also, ich höre. Welche Straße soll ich einschlagen?"

Valjean seufzte. Einfach Javert davon zu galoppieren, war keine Option mehr. Er mußte zunächst kooperieren. „Es geht zunächst Richtung Paris."

2. AN: Ich schwöre, ich habe keinen Handschellen-Fetisch. Und wenn, ist es nur ein ganz, gaaaanz kleiner…