Als Kili die Augen aufschlug, musste er erst überlegen, was ihn geweckt hatte. Doch nach einigen Momenten in diesem Stadium zwischen wachen und träumen fiel es ihm wieder ein: Heute würden er und sein Bruder losziehen, um den Erebor zu befreien. Sie würden nach Osten gehen, um sich mit ihrem Onkel, der schon vor drei Monaten aufgebrochen war, und ein paar anderen zusammen zu schließen und dann immer weiter, bis sie die Spitze des Einsamen Berges erreicht hätten. Er sprang auf, kleidete sich an und lief in die Küche, in der seine Mutter und sein älterer Bruder bereits saßen. Fili hatte sein Frühstück schon fast beendet, aber der Teller von Dís war unberührt. Kili holte sich ein Stück Brot sowie Käse und Schinken aus der Vorratskammer und setzte sich zu ihnen. Die nächsten Minuten blieb es Still, jeder hing seinen eigenen Gedanken nach und Fili, der sich seit Monaten so auf die Reise gefreut und mit Inbrunst alles vorbereitet hatte, schaute Wehmütig im Raum umher.

Schließlich war es unwahrscheinlich, dass sie dieses Haus noch einmal betreten würden. Wenn sie den Berg erreichten und ihr altes Königreich wieder aufbauen würden, käme ihre Mutter bald mit einem großen Trupp nach und wenn nicht… Nein daran wollte er jetzt nicht denken, schließlich war das ein Tag der Freude, auf den sie lange hingearbeitet hatten! Aber dann sah er in das Gesicht seiner Mutter und die Schuldgefühle kehrten zurück. Darüber, dass sie sie hier allein ließen, darüber, dass sie sich auf diese nahezu unmöglich erscheinende Reise begaben. Aber er wusste, dass er das tun musste, schließlich war er nach Thorin der Thronerbe des siebten Königreiches der Zwerge und er wusste auch, dass seine Mutter das wusste.

Nach einiger Zeit standen sie alle auf, Dís räumte auf, und die beiden Brüder liefen durchs Haus, um letzte Vorkehrungen zu treffen und um einige kleine Sachen zusammen zu suchen, die in der Eile gestern liegen geblieben waren. Eine halbe Stunde später standen sie alle an der Tür. Dís hatte sich dagegen entschieden, ihre Söhne zu den Ställen zu begleiten, sie wusste, dass sie den Abschied schon so kaum ertragen konnte, ohne die voll beladenen Ponys zu sehen, die die beiden immer weiter weg von ihr bringen würden. Zuerst wandte sie sich Kili zu, ihrem Jüngsten. „Pass auf dich auf mein Kleiner! Versuch nicht ganz so waghalsig zu sein und dich dem Drachen direkt ins Maul zu stürzen, ok?" Natürlich wusste sie, dass das lange nicht die erste Gefahr sein würde, auf die sie treffen würden, aber auf diese Weise versuchte sie, ihre Angst zu überspielen. „Oh Gott, ich weiß noch genau wie besorgt ich war, als ihr zwei zum ersten Mal gemeinsam auf die Jagd gegangen seid. Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen und als ihr wiedergekommen seid, musste ich dem Drang wiederstehen, auch den kleinsten Kratzer zu verarzten. Wie trivial mir das jetzt vorkommt!" Sie drückte ihm etwas in die Hand. Staunend betrachtete Kili den schwarz-blauen Stein, der glatt und rund in seiner Hand lag und schaute auf die Runen. „Du musst mir versprechen, dass du wieder zu mir zurück kommst!" Dís nahm ihren Sohn feste in den Arm und unterdrückte ein Schluchzten. „Besser noch, du wirst hinterher kommen und endlich die Hallen unserer Väter wieder sehen!" Er lächelte sie traurig an, auch er wusste, dass es nicht unwahrscheinlich war, dass er seine Mutter nie wieder sehen würde. „Aber ja, ich verspreche es dir. Du wirst uns wieersehen." Vorsichtig löste er ihre Arme und schob sie zu seinem Bruder. Sie schaute Fili traurig an. Obwohl er fünf Jahre älter war als Kili, überragte dieser ihn mittlerweile um ein ganzes Stück. „Pass auch du auf dich auf! Es ist deine Pflicht, mit deinem Onkel zu reisen, ich weiß, und ich wusste auch immer, dass dieser Tag kommen würde. Ich hätte ihn nur gerne noch etwas länger aufgeschoben. Du weißt, wo ihr euch mit dem Rest trefft?"

„Ja, natürlich." Er musste fast grinsen, wäre er nicht so wehmütig gewesen.

„Ich habe euch lieb, euch beide!" Nun konnte die Zwergenfrau ihre Tränen kaum noch zurückhalten. „Nun lauft los, ich bin sicher der Stallmeister erwartet euch schon." Sie öffnete die Tür und umarmte beide noch einmal. „Macht es gut!" Fili und Kili drehten sich zögernd um und gingen langsam die Straße hinab. Als sie grade um die nächste Ecke biegen wollten, rief Dís noch einmal: „Fili! Pass auf deinen Bruder auf, versprich mir das!" Er drehte sich um und nickte. „Ich werde mein bestes geben!" Damit drehte er sich um und verschwand um die Ecke.

Dís schloss die Tür hinter sich und lehnte sich gegen die Wand. Plötzlich schienen ihre Beine ihr Gewicht nicht mehr tragen zu können und sie rutschte an dem harten Putz nach unten, bis sie auf dem Boden saß. Dort begann sie hemmungslos zu weinen. Wieso mussten die beiden sie schon jetzt verlassen? Es kam ihr doch so vor, als wäre es gestern gewesen, dass sie Kili am Kamin gefüttert hatte, während Fili ihr stolz erzählte, wie er zum ersten mal ein echtes Schwert halten durfte oder das die beiden sich unglaublich darüber gestritten hatten, wer jetzt ihrem kranken Onkel das Essen bringen durfte. Ihre Söhne hatten Thorin schon immer vergöttert, der wie ein Vater für sie gewesen war, nachdem ihr Ehemann von einer Orkjagd nie wieder gekommen war. Da ihr Bruder keine eigenen Nachkommen hatte, wurde Fili als Thronfolger ausgebildet und hatte sowohl von Thorin als auch seinem kleinen Bruder jede mögliche Unterstützung bekommen. Als Thorin ihr dann vor einigen Jahren von seinem Plan berichtete, den Erebor zurück zu erobern, war sie zunächst begeistert gewesen, sie wollte gerne wieder in ihr zuhause zurückkehren und sie ging davon aus, dass es noch lange dauern würde, bis dieses Vorhaben umgesetzt werden konnte. Bis ihr Bruder dann vor einem halben Jahr von einer besonders langen Reise zurückgekehrt war und ihr erzählte, dass er eine Truppe Zwerge gefunden hatte, mit der er so bald wie möglich zum Einsamen Berg aufbrechen wollte. Als ihr klar geworden war, dass er ihre Söhne mitnehmen würde, hatte sie versucht, ihn davon abzubringen, aber er war eisern geblieben und hatte ihr klar gemacht, dass sie ihre Söhne würde ziehen lassen müssen. Sie hatte den beiden nichts davon erzählt, aber sie wusste, dass diese Quest so gut wie unmöglich zu bewältigen war. Smaug war ein ausgewachsener Feuerdrache, der seinen Schatz bis zu seinem Tod beschützen würde, und der war bei Drachen nun einmal nur sehr selten und schwer zu erreichen. Aber mehr als hoffen konnte sie nun nicht mehr.