1. Kapitel

Die Oper!
Jeden Morgen. wenn ich zur Arbeit ging. blieb ich einen Moment ehrfürchtig vor
der prachtvollen Fassade des riesigen Gebäudes stehen, bevor mich meine Schritte in sein Inneres lenkten.
Auch wenn die Uhr erst acht schlug, herrschte ein reges Treiben in den Straßen von Paris.
Die Bäcker waren bereits seit Stunden auf den Beinen und der Duft von frisch Gebackenem wehte mir um die Nase.
Blumenhändler stellten ihre fahrenden Stände auf den Trottoirs auf und hofften auf einen guten Umsatz für den Tag.
Immer wieder grüßte mich jemand freundlich wenn er an mir vorbeiging.
Der Tag war klar und würde es wahrscheinlich auch bleiben.
Die Luft war frisch aber noch sehr mild für einen Septembermorgen.
Die goldenen Engel, die von der Fassade der Oper über den Platz davor wachten, glänzten im Sonnenlicht.
Was für ein wundervoller Anblick.
Eine junge Frau, die einen Korb Veilchen trug und sich nun auf den Stufen vor der Oper nieder ließ gähnte herzhaft.
Ich hatte mich mittlerweile an das frühe Aufstehen gewöhnt. Kein Wunder, ich arbeitete nun seit über einem Jahr an der Oper.
Als mein Vater vor fast zwei Jahren, bei dem großen Feuer dass unseren gesamten Besitz vernichtete, ums Leben
gekommen war und meiner Mutter, meinen zwei jüngeren Geschwistern und mir, nichts als einen Berg Spielschulden
hinterlassen hatte waren wir von der Pariser Oberschicht in die untere Mittelschicht abgerutscht. Es war eine schwere
Zeit gewesen und fast jeder von uns hatte
Verletzungen durch das Feuer davon getragen. Physische wie auch Psychische.
Meinen Bruder und mich hatte es am härtesten getroffen da ich ihn damals aus
seinem Zimmer geholt hatte bevor ich meiner Schwester und meiner Muter gefolgt
war. Meinen Oberkörper zierten viele Brandnarben, die ich glücklicherweise leicht unter meiner Alltagskleidung
verstecken konnte. Meinen Bruder Hermés hatte es da schlimmer erwischt. Eine Fläche von Narben zog sich
über seine rechte Wange bis hinunter zum Hals. Er war erst acht und bisher konnte er mit der Andersartigkeit
seines Aussehens gut umgehen, doch ich bezweifelte dass dies auch in Zukunft der Fall sein würde. Er würde
es mit Sicherheit einmal schwer haben in einer Zeit, in der Äußerlichkeiten mehr zählten als alles andere.
Mutter und ich waren darauf angewiesen gewesen eine Arbeit zu finden und durch
einen glücklichen Zufall hatte ich eine Stellung als Garderobiere an der Oper gefunden.
Wie gerne war ich früher dort gewesen um mir die verschiedenen Vorstellungen
anzusehen. Die Geschichten, die Musik und auch die prächtigen Kostüme hatten es mir angetan und nun durfte
ich jeden Tag selbst Hand an diese herrlichen Kleider legen.
Zwar saß ich heute nicht mehr in einer der Privatlogen um einer Aufführung zu lauschen, aber der herrlichen Musik
konnte ich nun öfter lauschen als früher.
Meine Arbeit machte mir Spaß und inspirierte mich ungemein. Früher hatte ich nur zum vergnügen gezeichnet.
Das tat ich in gewisser Weise auch heute noch, aber meine Motive hatten sich verändert.
Früher hatte ich Bücher illustriert die mir besonders gut gefallen hatte, heute entwarf ich Kostüme zu Opern
die mich begeisterten.
Natürlich waren meine Entwürfe für niemanden von Nutze, aber vielleicht konnte ich sie eines Tages ja
doch einmal verwenden.
Heimlich träumte ich davon einmal in der Schneiderei der Oper arbeiten zu dürfen.
Aber dafür musste ich erst mein Können verbessern und unter Beweis stellen.
Ich war mittlerweile Zuständig für die Requisiten und Kostüme der
Hauptdarsteller denn meine Fertigkeiten auch während einer Vorstellung etwas auszubessern und meine
Zuverlässigkeit wurde hochgeschätzt.
Oft blieb ich noch nach den Vorstellungen hinter der Bühne um die restlichen Kostüme auszubessern und
an ihren vorgesehenen Platz zu bringen.
Bisher war es nicht einmal vorgekommen, dass ein mir anvertrauter Künstler, während seines Auftritts
nach einem Requisit ins Leere griff oder über einen ausgetretenen Saum oder einen abgerissenen Knopf klagen konnte.
Die Proben begannen erst um zehn Uhr und so hatte ich noch genügend Zeit alles zu kontrollieren und zu richten.
Ich begann meinen Arbeitstag immer damit dass ich mich in den Garderoben nach welken Blumen und anderem
Abfall umsah, den ich dann entsorgte. Denn gerade die Diva, La Carlotta, wurde jeden Abend mit Blumenbouquets ihrer unzähligen Verehrer überhäuft. Wer die welken Blumen dann entsorgte war ihr gleich, solange sie es nicht tun musste.
Da es aufgrund dieses Umstands schon die eine oder andere erbitterte Diskussion mit der Diva gegeben hatte, war der Direktor, Monsieur Poligny, eines Tages an mich herangetreten und hatte mich gebeten am Beginn eines jeden Arbeitstages die Einzelgarderoben der Sänger zu kontrollieren. Da diese neue Aufgabe auch eine Erhöhung meines Lohns mit sich brachte kam ich seiner Bitte, mehr als gerne, nach.
Inzwischen war ich hinter der Bühne angelang, stellte meinen Korb und den Eimer mit den verwelkten Blumen ab und war gerade dabei meinen Umhang auf einen der unzähligen Garderobenständer zu hängen, als eine der anderen Garderobieren, Emma, mit schnellen Schritten auf mich zugelaufen kam.
"Elysé, hast du schon gehört?" sie brach ab, kam vor mir zum Stehen und
versuchte ihren schnellen Atem unter Kontrolle zu bringen. Das flachsblonde
Haar stand ihr, wie immer, wirr vom Kopf ab, was mich vermuten ließ, dass sie an diesem Morgen wieder verschlafen hatte.
"Jetzt beruhige dich erst einmal, Emma. Was soll ich gehört haben?"
"Monsieur Poligny hat das gesamte Personal gebeten, sich um halbzehn im Zuschauersaal zu Versammeln. Er will
eine wichtige Neuigkeit verkünden!" Die Nachricht der Versammlung verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den
Angestellten und schuf Raum für die wildesten Spekulationen.
Ich konzentrierte mich trotzdem auf meine Arbeit und wurde auch nur selten gestört.
Schließlich waren es bis zum genannten Zeitpunkt noch gut anderthalb Stunden.
Unter meinen Kollegen galt ich als Sonderling da ich nicht besonders redselig
war, und es zum Beispiel unangemessen fand mich während einer Probe lautstark zu unterhalten wenn ich nichts zu tun hatte.
Und dadurch dass ich mich auch jetzt nicht am Tratsch und Spekulationen beteiligte bestätigte ihren Eindruck noch.
Es interessierte mich einfach nicht, denn schließlich würde ich die wichtige Neuigkeit noch früh genug erfahren.
Und bis dahin musste ich eine abgerissene Borte und sieben Knöpfe wieder an ihrem Platz befestigen.

Als ich mich dann um kurz vor halb zehn in den Zuschauerraum begab und in einer der bestuhlten Reihen Platz nahm,
hatten sich die ersten Reihen schon erheblich gefüllt.
Ein lautes Stimmengewirr drang an mein Ohr und ich hatte das dringende Bedürfnis mir die Ohren zuzuhalten,
da ich gerade aus einer der herrlich stillen Garderoben gekommen war.
Die Flügeltüren des großen Saales schwangen lautstark auf und dicht gefolgt
von ihrem Ehemann Ubaldo Piangi stürmte die Diva, La Carlotta, den Saal. Sofort galt ihr die gesamte Aufmerksamkeit und viele Blicke, Bewundernde wie auch Neidische oder Hämische, folgten ihr, als sie sich in der ersten Reihe niederließ.
Nach wenigen Minuten betrag Monsieur Poligny die Bühne, gefolgt von zwei mir
unbekannten Herren. Die Tuscheleien brandeten erneut auf, wurden aber durch
ein gut vernehmliches Räuspern Polignys zum Verstummen gebracht.
"Mes Dames et Monsieurs. Es freut mich, Sie so zahlreich versammelt zu sehen und ich möchte Sie auch
nicht unnötig auf die Folter spannen."
Wieder konnte ich das ein oder andere Flüstern vernehmen.
"Nach meiner langen Tätigkeit in diesem schönen Haus, „ fuhr Poligny unverwandt fort, "habe ich beschlossen
dass es für mich an der Zeit ist ein wenig kürzer zu treten."
Er machte eine bedeutungsschwere Pause.
"Und so möchte ich Ihnen hiermit die neuen Leiter der Opera Populaire vorstellen: Monsieur Richard Firmin
und Monsieur Gilles André."
Nach einigen Sekunden erstaunten Schweigens wurden einige Hände zu einem zögernden Applaus erhoben,
der aber sofort wieder abebbte als Monsieur Poligny dazu ansetzte weiterzusprechen.
"Es war mir eine Ehre, die Leitung dieses Hauses über so viele erfolgreiche Jahre hinweg übernommen zu
haben und ich möchte mich auf diesem Wege bei Ihnen für ihre Zuverlässigkeit und ihre geleistete Arbeit bedanken."
"Das wird dem Phantom aber gar nicht gefallen!" hörte ich einen leisen Einwurf
links von mir, eigentlich zu leise um bis auf die Bühne vorzudringen und doch
verzogen sich Monsieur Polignys Züge für einen kurzen Moment des Unmuts.
Leises Kichern war aus der Richtung zu hören aus der der Kommentar gekommen war.
Mein Blick glitt über die, in den hinteren Reihen sitzenden, Mädchen des Corps
de Ballett die sich halb gespielt, halb echt, bei der Erwähnung des Phantoms, ängstlich zusammendrängten.
Der Operngeist konnte einem schon fast Leid tun. Für jedes, schlichte
menschliche Versagen, wurde ihm die Verantwortung auf die Schultern geladen.
Ich musste schmunzeln, denn ich glaubte nicht an Geister. Allerdings war
ich mir sicher, dass in jeder Legende ein Fünkchen Wahrheit steckte. Welche
Wahrheit mochte sich wohl hinter der Gestalt des Phantoms der Oper verstecken.
Meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf die Bühne in deren zentralem
Feld nun die neuen Direktoren standen um einige Begrüßungsworte an Ihre zukünftigen Angestellten zu richten.
Es waren nicht mehr als allgemeine Floskeln und mit den Worten "... hoffen wir
für Zukunft auf eine genauso gute Zusammenarbeit wie in der Vergangenheit!" entließ Monsieur Firmin uns.
Mehr oder weniger schnell kehrte jeder der Anwesenden auf seinen Arbeitsplatz zurück, doch die hinter uns liegende, kurze Versammlung hatte viel Gesprächsstoff hinterlassen.
Das Orchester nahm nun seinen Platz ein und wurde von Monsieur Reyer, dem Dirigenten und musikalischen Leiter der Oper, eingewiesen.
Die Probe des heutigen Vormittags begann.
Am heutigen Abend stand eine Vorstellung von Gounods "Romeo et Juliette" auf dem Spielplan und es gab einige
Stellen bei denen er mit dem Chor nicht vollkommen zufrieden war.
Diese Oper war noch nicht allzu oft aufgeführt worden und so ließ sich sogar La Carlotta dazu herab an der Probe
teilzunehmen
Die neuen Direktoren wollten der Probe beiwohnen und nahmen, nachdem sie noch
einige Worte mit Monsieur Poligny gewechselt hatten, in einer der vorderen Reihen platz.
Ich war in diesem Fall für die Requisiten und Kostüme von Ubaldo Piangi, unseres Romeo zuständig, der
ebenso unpassend besetzt war wie La Carlotta als Juliette.
Sie konnte nicht annähernd das vermitteln was die Rolle der Juliette ausmachte: Unschuld, Neugier und zärtliche Verliebtheit.
Aber Carlottas Rollendarstellung unterschied sich meist nur durch die unterschiedlichen Namen und Texte der Figuren.
Carlottas Stimme war schön und es war nicht unangenehm ihr zuzuhören, doch sie schaffte es nicht mir
Gefühlregungen, welcher Art auch immer, abzuringen.
Es war als besäße ihre Stimme keine Seele. Ihre unzähligen Verehrer schien dies allerdings weniger zu stören.
Die Probe verlief reibungslos und jeder der Sänger schien sich mit mehr Eifer als sonst in seine Rolle zu stürzen,
da die Augen der neuen Direktion auf ihnen ruhten.
Dies wirkte sich zwar nicht unbedingt positiv auf den Gesamteindruck aus, aber es mangelte den neuen Direktoren
ja an Vergleichsmöglichkeiten.
Ich war gerade dabei Monsieur Piangi in sein Kostüm für die Balkon-Szene zu helfen, als es passierte.
Carlotta stand bereits als Juliette auf dem Balkon und sang ihre Zeilen, als sich das Gegengewicht eines
Vorhangs löste und auf den Balkon stürzte. Nur knapp verfehlte es die Diva und durchschlug das Geländer mit
einer Wucht der dieses Geländer nichts entgegenzusetzen hatte.
Ein paar der Tänzerinnen schrieen auf und stoben auseinander.
Mit einem Schrei sprang Carlotta zurück und um ein Haar wäre sie die Treppe, die sich an der Rückseite der
Kulisse befand, hinabgestürzt. Doch im letzten Moment gelang es ihr sich an einer der Wände festklammern.
Monsieur André und Monsieur Firmin waren aufgesprungen und kamen nun in
Richtung der Bühne gehastet um sich zu vergewissern dass niemandem etwas passiert war. Ihre Mienen wirkten
angespannt und aufs äußerste bestürzt.
Die Bühnenarbeiter auf dem Schnürboden liefen hektisch zwischen den unzähligen Seilen hin und her um den Grund
für das Unglück ausfindig zu machen.
"Wie kann so etwas passieren!" Vernahm man nun Monsieur Firmins verärgerte Stimme.
Einer der Bühnenarbeiter, ich erkannte ihn als Joseph Bouquet, beugte sich
über das Geländer und rief herunter: "Eins der Seile wurde manipuliert, Monsieur- Sehen Sie!"
Er hielt das Ende eines Seils in die Luft, welches man aber aufgrund der ernormen Höhe des Schnürbodens nicht genau
erkennen konnte.
"Es wurde vermutlich mit einem Messer zur Hälfte durchgeschnitten. Die Schnittstelle ist ganz genau zu erkennen.
Die Seile sind viel zu stabil um einfach so..."Weiter kam Bouquet nicht.
Mit einer knappen Handbewegung gab Firmin ihm zu verstehen dass er keinen ausführlichen Bericht über die
Beschaffenheit der Seile hören wollte.
Monsieur André war mittlerweile in den Kulissen verschwunden und half der zitternden Diva von ihrem Podest.
Ubaldo Piangi stürzte nun auch zu
seiner Gattin um sie, gemeinsam mit Monsieur André, an den Ellenbogen zu stützen.
Sie ließen sie auf einen Stuhl der Kulisse gleiten und ersuchten sie mit leisen Worten zu beruhigen.
Dieser Versucht hatte allerdings nicht die gewünschte Wirkung.
"Ein Arbeitsunfall?" keifte sie wütend los.
"Signor, das war Sabotage. Ein Arbeitsunfall... ha!" Wütend ballte sie die Fäuste „Porca Miseria! Wenn ein
Rocksaum in der Gasbeleuchtung der Bühne Feuer fängt oder einer der Sänger eine Kulisse hinabstürzt weil er nicht
richtig aufgepasst hat, das ist ein Arbeitsunfall. Aber mit solchen Kleinigkeiten hält man sich hier erst gar nicht auf.
Hier bedroht alles was zufällig geschieht sofort Leib und Leben. Ein Arbeitsunfall! Wenn so etwas in Zukunft wieder
geschehen sollte, Monsieurs, können Sie davon ausgehen dass "La Carlotta" nicht nur die heutige Vorstellung ausfallen
lassen wird."
Mit diesen Worten sprang sie auf und stolzierte kommentarlos von der Bühne,
gefolgt von ihrem, immer noch auf sie einredenden, Gatten.
Die neuen Direktoren starrten ihr wortlos nach und es dauerte einen Moment bis sie ihre Verblüffung abschütteln konnten.
Ein wenig hilflos sahen sie in Monsieur Reyers Richtung, als erhofften sie sich von ihm eine Lösung oder Erklärung.
Dieser jedoch zuckte nur die Achseln.
"Monsieurs, wir haben schon Vorstellungen aus nichtigeren Gründen absagen müssen. Wenn La Carlotta sich nicht
in der Lage fühlt zu singen, wird sie es auch unter keinen Umständen tun!"
Diese schlichte Aussage veranlasste einige der Garderobieren ihre Sachen zu packen.
"Halt halt!", schritt Monsieur Firmin beherzt ein.
"Wir können nicht ausfallen lassen. Wir haben ein vollbesetztes Haus und noch dazu an einem Abend an dem
wir den neuen Mäzen der Oper vorstellen wollen."
Wieder erhob sich das Geflüster.
Er sah sich prüfend in der Menge der, um in versammelten, Angestellten um.
"Wer ist die Zweitbesetzung für diese Rolle!" fragte er schließlich energisch.
"Es gab bisher niemals eine Zweitbesetzung für La Carlotta. Und ich bezweifle, dass eine unserer Damen
dieser Rolle gewachsen wäre."
"Ich denke doch!" schaltete sich nun Madame Giry, die Ballettmeisterin, ein.
Sie ging auf die Gruppe, der ihr anvertrauten, Mädchen zu und nahm eines von ihnen an der Hand um es nach
vorne zu führen.
"Das hier ist Christine Daaé." Stellte sie das junge Mädchen vor. "Seit vielen Monaten nimmt sich Gesangsunterricht
bei einem hervorragenden Lehrer und ich versichere Ihnen Monsieur, sie ist dieser Partitur mit großer Sicherheit gewachsen."
Ich kannte Christine. Sie war eine der Tänzerinnen des Corps de Ballett, die nicht durch ständiges Kichern
und laute Lästereinen auffiel.
Sie war hübsch, schlank und mit ihren großen braunen Augen und den dunkelbraunen Locken, die ihr bis zur Taille
reichten, weckte sie sicherlich den Beschützerinstinkt eines jeden Mannes.
Des Öfteren hatte ich mich während der Proben mit ihr unterhalten, auch wenn es schwierig war ein
längeres Gespräch mit ihr zu führen, denn ihre Naivität und ihre etwas weltfremden Ansichten stellten meine
Geduld oft auf eine harte Probe.
Aber das war ein Umstand den man ihr leicht verzeihen, wenn man bedachte wie jung sie war. Gerade einmal Siebzehn.
Ab und zu erinnerte sie mich an meine jüngere Schwester Helena.
Ich kam mir, mit meinen 25 Lenzen, oft recht alt vor wenn ich mit ihr sprach.
Dass sie singen konnte war mir neu, sie hatte es in keinem unserer Gespräche erwähnt.
Nachdem Monsieur André und Monsieur Firmin sich kurz beraten hatten, nickte Firmin und wies Monsieur Reyer an
bei Julias Arie einzusetzen.
Zuerst noch etwas schüchtern, dann immer selbstsicherer begann Christine zu singen.
Es war mir unmöglich zu beschreiben was ihr Gesang in mir auslöste. Es war als lausche man, heimlich, der
Stimme eines Engels. Glockenklar, rein und hell trug sie die Töne durch den großen Saal und flutete auch
die letzten Winkel mit herrlicher Musik so dass ihr jeder den ich sah, gebannt lauschte.
Selbst die Tänzerinnen schwiegen alle zur selben Zeit.
Eine Stimme mit solchen Kraft hätte ich diesem zierlichen Geschöpf niemals zugetraut.
Ihre Stimme trug mich fort, an einen geheimen Ort meines Bewusstseins und erhellte diesen Ort mit strahlender Helligkeit.
Ich wollte weinen vor Freude und mein Herz quoll über vor Glück. Ich schloss die Augen und ließ mich treiben auf den
Flügeln ihres Gesangs.
Als sie endete herrschte totenstille und ihr Blick, der sich für die Dauer des Liedes ein wenig verschleiert hatte, klärte
sich langsam wieder.
Es war, als würde sie aus einer anderen Welt zurückkehren. Einer Welt die ausschließlich aus Musik zu bestehen
schien. In der es weder Kummer noch Leid gab die ihren Gesang trüben konnten.
Ein wenig verunsichert sah sie sich um als zuerst keine Reaktion auf ihre Darbietung erfolgte, und ich sah
wie ihr langsam Tränen in die Augen stiegen.
Dann brach der Applaus los. Die neuen Direktoren strahlten über das ganze Gesicht, als sie sich nun
Christine zuwandten und ihr einen überschwänglichen Handkuss gaben.
"Wir müssen sofort dafür sorgen, dass ihr Kostüme angepasst werden." Sagte Firmin zu seinem Kollegen.
Dann fiel sein Blick auf mich, vielleicht weil ich Christine zufällig am nächsten Stand.
"Sie, Mademoiselle..., " fragend sah er mich an.
„De Trout", half ich ihm aus.
"Für wessen Kostüme sind Sie verantwortlich?"
"Für die des Romeo!" erwiderte ich knapp.
"Heute nicht. Sie werden sich bis auf weiteres ausschließlich um die Garderobe von Mademoiselle Daaé kümmern."
Ich nickte zustimmend.
Christine war inzwischen umringt von ihren Mittänzerinnen, darunter auch ihre Freundin Meg Giry und
Mme Giry die ihr zustimmend die Hand drückte.
Ich nahm meinen Arbeitskorb auf und kramte einen Moment darin herum, bis ich ein Maßband samt Stift und
einem Stück Papier gefunden hatte.
Mit einem leisen Seufzen begann ich mich durch eine Menge weißer Tutus zu wühlen.
Christine strahlte, allerdings mit einem bescheidenen Glanz in den Augen, über das ganze Gesicht.
Ich erklärte ihr kurz dass ich ihre Maße nehmen musste um danach im Fundus
nach geeigneten Kostümen für sie zu suchen und wie ferngesteuert nickte sie und hob die Arme seitlich vom Körper.
Drei Klopfzeichen von Mme Girys Gehstock, den sie immer bei sich trug, setzen dem aufgeregten Trubel ein Ende
und würdevoll schritt sie auf die neuen Direktoren zu.
"Sehen Sie, Monsieurs, ich habe ihnen nicht zu viel versprochen. Aber nun sollten wir mit der Probe fortfahren
damit Mademoiselle Daaé heute Abend weiß was sie während der Aufführung tun und wo sie stehen muss."
Kurzfristig ein wenig eingeschüchtert von der strengen Autorität Mme Girys nickten die Direktoren bevor
sie ihre Sprache wiederfanden.
"Genau das wollte ich gerade vorschlagen. Danke, Madame!" entgegnete Monsieur André und zog sich
dann mit seinem Kompagnon auf seinen vorherigen Beobachtungsposten zurück.
Ich hatte inzwischen die notwendigen Maße notiert und machte mich nun mit meinem Aufzeichnungen auf
zum Kostümfundus, während auf der Bühne die Probenarbeit wieder aufgenommen wurde.
Ich war froh dem Trubel entkommen zu sein, denn meist fühlte ich mich nicht wohl inmitten von zu vielen Menschen.
Mein Vater hatte früher zu allen sinnigen und unsinnigen Gelegenheiten große Feste in unserem kleinen Palais
veranstaltet und mir waren diese überlaufenen Festivitäten schon immer zuwider gewesen.
Die vielen sinnlosen Konversationen der Damen über den neusten Klatsch oder die neusten Frisuren.
Dieses eitle Getue!
Wenn ich mich zum Beispiel über ein Buch unterhalten wollte oder über neue wissenschaftliche Erkenntnisse
wurde mein Versuch mit einem süffisanten Lächeln beiseite gefegt und zur Tagesordnung übergegangen.
Ich hatte es gehasst.
Aber diese Zeit war vorbei. Unser Palais war abgebrannt, bis auf die Grundmauern und meine Mutter, meine
Geschwister und ich wohnten nun in einer kleinen, etwas schäbigen Wohnung, drei Querstraßen von der Oper entfernt.
Ich verlangsamte meine Schritte ein wenig um die ruhige Atmosphäre der leeren Korridore genießen zu können.
Soviel war an diesem Morgen bereits geschehen und es freute mich ganz außergewöhnlich darüber mich nun
um die kleine Daaé kümmern zu dürfen. Dieses Talent musste unbedingt unterstützt werden und sollte nicht
etwas Unvorhergesehenes
passieren würde sie es bestimmt an die Spitze der Pariser Opernwelt schaffen.
Wenn nicht sogar noch weiter.
Aber soweit waren wir ja noch nicht.
Doch schon jetzt freute ich mich darauf sie heute Abend wieder singen zu hören.
Ich stieg zwei Stockwerke tiefer und näherte mich der Tür des riesigen Fundus.
Seit einigen Minuten hatte ich das unbestimmte Gefühl beobachtet zu werden. Es war kein wirklich bedrohliches Gefühl
aber unangenehm. Ich schüttelte den Kopf und musste schmunzeln. Fing ich jetzt auch an überall das Phantom zu vermuten?
Ich hörte mich selbst leise lachen, öffnete dann die vor mir liegende Tür und trat ein in das Reich der Stoffe, Perlen und Applikationen.
Die Kostüme waren nach Damen- und Herrenkostümen sortiert und untereinander in die verschiedenen Größen unterteilt.
Dass ich nach den kleinsten Größen suchen musste war mir seit dem Vermessen klar.
Es roch muffig hier und verschiedene Parfums hingen in der Luft.
Ich entzündete zwei der Gaslampen die recht und links von der Tür hingen und begann meine Suche.
Ich wühlte mich durch Unmengen von Stoff und entschied mich am Schluss für ein hellblaues Kleid.
Für den zweiten Akt war ich mir noch zwischen einem rosafarbenen Kleid und einem Moosgrünen unschlüssig.
Alle drei Kleider waren im Renaissance Stil gehalten mit einer hohen Taille und ausgesprochen gut gearbeitet.
Ich hängte beide Kleider nebeneinander vor mich, legte einen Finger an die Lippen und betrachtete sie eingehend.
"Ich würde Ihnen das Rosane empfehlen!"
Erschrocken fuhr ich herum und drehte mich einmal um meine eigene Achse um den Ursprung der Stimme auszumachen
die ich soeben gehört hatte.
Doch niemand außer mir befand sich im Raum.
Das Herz schlug mir bis zum Hals und ich fragte mich kurz ob ich langsam zu Halluzinationen neigte.
"Bitte?" brachte ich mühsam hervor, allerdings erwartete ich nicht wirklich eine Antwort.
"Haben Sie keine Angst, Mademoiselle. Es wird Ihnen nichts geschehen!"
Erst jetzt fiel mir der unglaubliche Wohlklang dieser Stimme auf. Kraftvoll und
doch sanft, gebieterisch und verführerisch lockend und weich wie feinster Samt.
Ich ertappte mich bei dem Gedanken, gerne das Gesicht zu dieser Stimme sehen zu wollen.
"Warum glauben Sie dass ich Angst vor Ihnen habe, Monsieur? Sie haben mir allerdings einen gehörigen Schrecken eingejagt. Kommen Sie heraus und zeigen Sie sich! Ich bin heute nicht zum Scherzen aufgelegt."
Energisch stemmte ich die Hände in die Hüften und legte den Kopf schief.
Ich konnte ein leises Lachen hören, das mir einen, nicht unangenehmen, Schauer über den Rücken jagte.
"Leider werde ich ihrem Wunsch nicht entsprechen können, Mademoiselle."
Er machte eine kurze Pause. „ Ich habe sie in der letzten Zeit beobachtet. Sie arbeiten noch nicht allzu lange in meinem Opernhaus. Oder irre ich da?"
In seinem Opernhaus. Langsam begann ich zu ahnen mit wem ich mich gerade unterhielt.
"Nein, Monsieur. Aber ich denke, ich mache meine Sache gut."
Da ich nicht erkennen konnte wo sich mein Gesprächspartner verbarg hob ich demonstrativ das Kinn ein Stückchen höher.
Wieder dieses leise Lachen.
"Ja, das tun Sie, Mademoiselle. Da man Ihnen nun die Betreuung von Christine Daaé aufgetragen hat möchte ich
Ihnen gerne mit meinem Rat zur Seite stehen. Es liegt mir viel daran, dass Mademoiselle Daaé ein Platz in diesem
Hause zuteil wird, der ihrer Kunst angemessen ist. Wenn ich mit ihnen zufrieden bin, wird es auch Ihnen in Zukunft gut ergehen."
Mir wurde diese ganze Situation langsam ein wenig zu seltsam und ich spürte Trotz in mir aufsteigen.
Dieses Phantom, denn ich war überzeugt davon dass es sich bei meinem unsichtbaren Gesprächspartner um selbiges
handelte, traute mir wohl nicht einmal zu, ein passendes Kleid für meinen neuen Schützling auszusuchen.
In meiner Überlegung hatte ich das grüne Kleid zurück an seinem Platz gehängt und mir das Rosane über den Arm geworfen.
"Das Rosane also!" sagte ich in den leeren Raum hinein und mit den Worten: " Leider habe ich keine Zeit weiter mit Ihnen zu plaudern. Au revoir, Monsieur le Fantome. ", verließ ich hocherhobenen Hauptes den Fundus ohne seine Antwort abzuwarten.